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Workshop 4: Islamische Wohlfahrtspflege in Deutschland: Notwendigkeit und Möglichkeiten | X. Zukunftsforum Islam | bpb.de

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Workshop 4: Islamische Wohlfahrtspflege in Deutschland: Notwendigkeit und Möglichkeiten

Jeanette Goddar (Berlin)

/ 4 Minuten zu lesen

Leitung: Prof. Dr. Rolf Rosenbrock (Berlin)
Referent: Dipl. Soz. Päd. Samy Charchira (Düsseldorf)
Moderation: Dr. Michael Kiefer (Düsseldorf)

Unter Leitung von Prof. Dr. Ralf Rosenbrock, der bereits in das Thema eingeführt hatte, setzte ein Workshop die Debatte vom Vortag im Wesentlichen fort. Samy Charchira trug weiterführende Thesen vor: Gesellschaftliche Realitäten machten einen Wandel unumgänglich; die Versorgungsdefizite unter Muslim_innen seien augenfällig. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege seien aufgerufen, die Gründung muslimischer Träger zu unterstützen; dabei gefragt sei auch der Abbau von Vorurteilen insbesondere im kommunalen Raum. Perspektivisch sah Charchira einen islamischen Spitzenverband kommen – allerdings mit einem "komplettierenden" anstelle eines Vollangebots. Synergien und Kooperationen seien unumgänglich und im Gange, allerdings brauche es für neue Partnerschaften auch neue Ressourcen: "Sonst kommt es zu Umverteilungskämpfen in der freien Wohlfahrt." Zudem laufe die in aller Munde befindliche "interkulturelle Öffnung" unterschiedlich gut; insbesondere bei wirklicher Partizipation (in Gremien, im mittleren und oberen Management) bleibe die freie Wohlfahrtspflege hinter den Erwartungen zurück, auch wegen häufig "unüberbrückbarer konfessioneller Grenzen" bei Caritas et al.

Den muslimischen Trägern und Verbänden attestierte Charchira einen Mangel an Strukturen, Konzeptionen und Methoden. Um diese zu bekommen, forderte er einen "moderierten Prozess mit relevanten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Partnern" – der allerdings nicht von oben verordnet werden könne. Auch Rosenbrock stellte die Forderung "Von unten nach oben" ins Zentrum: Ein Verband ohne Basis sei sinnentleert; modellhaft würden unter dem Motto "Bedarf erkennen, Angebot entwickeln, Angebot etablieren" zunächst – beispielsweise – Kitas gegründet, dann ein Kita-Verband; wenn das in anderen Bereichen auch geschehe, gäbe es irgendwann einen Dachverband.

In der Debatte wurden allerdings auch jede Menge Hindernisse auf jedem der Wege angesprochen: Von der Länge der Verfahren bis zur Anerkennung von Trägern oder Angeboten (Michael Kiefer: "Von der Kinderbetreuung bis zur Regelkita, das kann schon mal zehn Jahre dauern") bis zu speziellen Hürden, wie sie beispielsweise das Kinder- und Jugendhilfegesetz formuliere; auch der Deutsche Städtetag wurde als schwieriger Verhandlungspartner angesprochen, ebenso die Nichteinstellung muslimischer Mitarbeiter_innen bei kirchlichen Trägern. Rosenbrock konzidierte, dass sich manche mit "interkultureller Öffnung schwerer tun als sie zugeben"; es gäbe auch "Holz- und Betonköpfe", ebenso "gläserne Decken". Andererseits müsse aber erstens die Frage erlaubt sein, ob muslimische Träger eigentlich Katholiken einstellten. Zweitens riet er von der Haltung "Sollen-die-doch-erstmal-ihre-Anforderungen-senken-bis-wir-uns-bewegen" rundweg ab: "Das führt zu Blockade." Regeln ließen sich mit politischer Lobbyarbeit ändern, nicht-interkulturell-kompetente Träger "öffentlich diffamieren." Wieder appellierte er: "Lassen Sie uns das zusammen angehen." Und, obgleich Rosenbrock sich deutlich gegen einen "Bias" gegenüber muslimischen Verbänden verwahrte, verteidigte er das Inbetrachtziehen einer "Hidden Agenda" von Gründungswilligen: Auch NPD-Funktionäre wollten Kitas betreiben und stellten Anträge. Als effiziente und schnelle Maßnahme für gegenseitiges Verständnis – und damit Respekt – empfahl er, "immer mal wieder für zehn Sekunden in die Mokassins des anderen zu steigen, um besser verstehen zu können, wie der die Welt sieht." Lernen konnte man in dem Zusammenhang auch, dass interkulturelle und interreligiöse Öffnung keinesfalls deckungsgleich sind.

Ein hessischer Vertreter der Ditib mochte in das allgemeine Klagen auch gar nicht einstimmen. Im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Religionen und die Möglichkeit, Strukturen zu schaffen und finanzieren zu lassen sei Deutschland "ein Gottesgeschenk". Hindernisse gelte es aus dem Weg zu räumen und sich da durchzukämpfen: "Die Wege stehen uns offen." Michael Kiefer erklärte, Wohlfahrtsverbände seien kein "monolithischer Block", der Staat zudem nicht untätig; so plane beispielsweise die Uni Osnabrück einen Lehrstuhl für muslimische Sozialarbeit. Auch Kommunen würden für überzeugende Konzepte Geld in die Hand nehmen. Letzteres müssten allerdings auch die muslimischen Gemeinden: Auch freie Wohlfahrtspflege finanziere sich durch Mitgliedsbeiträge; ohne einen Überbau, der berät, begleitet und Brücken baut, gehe es nicht. Fachberatung, Antragsberatung, Steuerberatung, Satzungsberatung; all das sei angesichts der Komplexität des deutschen Sozialstaats unabdingbar. Einigkeit bestand am Ende nicht nur darin, dass es neue Wege brauche. Sondern auch, dass die derzeitigen veränderungswilligen, motivierten muslimischen Generationen in Deutschland die richtigen seien um sie zu beschreiten. Charchira: "Wir brauchen nicht noch Generationen zu warten."

Biografische Angaben

Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial-und Gesundheitswissenschaftler, war von 1988 bis 2012 Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und lehrt Gesundheitspolitik u.a. an der Berlin School of Public Health in der Charité Berlin. Seine Themen sind sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen, Präventionspolitik sowie Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Er betreibt seit den 70er Jahren Gesundheitsforschung und Politikberatung und ist u.a. Mitglied des Nationalen Aids-Beirates (NAB) (seit 1995) und Vorsitzender der Landesvereinigung Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. (seit 2006). Er war von 1999 –2009 Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR –G), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2001 -2012), Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) (von 2010 –2015), des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) (2006 –2008) etc. 2012 wurde er zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes –Gesamtverband –gewählt, seit 2015 ist er außerdem ehrenamtlicher Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW).

Dipl.-Soz. Päd. Samy Charchira ist Diplom Sozialpädagoge und Gründungsmitglied des "Zukunftsforum Islam" der Bundeszentrale für politische Bildung. Er ist Sachverständiger bei der Deutschen Islamkonferenz und Vorstandsmitglied des Landesverbandes des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Dr. Michael Kiefer geboren 1961, Studium der Islamwissenschaften, Politikwissenschaften und Philosophie in Köln, Promotion über den Schulversuch Islamkunde in Nordrhein-Westfalen.
Arbeitsschwerpunkte: Islam in Europa, Islamunterricht, pädagogischer Umgang mit Migration, Antisemitismus, Nahost-Konflikt. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderen zu den Themen islamischer Religionsuntericht, Prävention und Salafismus. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Insititut für islamische Theologie der Universität Osnabrück. Weitere Angaben: Externer Link: http://www.kiefer-michael.de