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Workshop 2: Wohlfahrtspflege für Muslime – Bedeutung, Verständnis und Begründung und Wohlfahrtspflege als Förderer politischer Mündigkeit | X. Zukunftsforum Islam | bpb.de

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Workshop 2: Wohlfahrtspflege für Muslime – Bedeutung, Verständnis und Begründung und Wohlfahrtspflege als Förderer politischer Mündigkeit

Lukas Grasberger (Berlin)

/ 5 Minuten zu lesen

Leitung: Prof. Dr. Sabine Achour (Berlin)
Referenten: Sümeyye Aksel (Osnabrück), Ender Centin (Berlin)
Moderation: Hadi Schmidt-El Khaldi (Köln)

"Welche Rolle kann eine islamische Wohlfahrtspflege für die gesellschaftlichen Integration von Muslimen spielen?" - diese Fragestellung des 2. ZF-Islam-Seminars gewinnt durch die Ankunft hunderttausender großteils muslimischer Flüchtlinge derzeit brennend an Aktualität.

Workshop-Leiterin Prof. Dr. Sabine Achour führte den Teilnehmer_innen in ihrem Eingangsvortrag das Potenzial eines professionell agierenden islamischen Wohlfahrtsverbandes für eine wirkliches Ankommen geflüchteter Menschen in der deutschen Gesellschaft vor Augen: Sie bei ihrer Religion "abzuholen", könnte diesen Flüchtlingen Offenheit im Sinne einer Willkommenskultur signalisieren – und so mit den Weg für deren Integration ebnen. Ein islamischer Wohlfahrtsverband würde für marginalisierte Minderheiten "wie ein Transmissionsriemen" in die Mehrheitsgesellschaft wirken. Indem sie Einrichtungen muslimischer Träger wie Kitas oder Schulen hierzulande durchliefen, könnten Migranten eine positive Identifikation zur Aufnahmegesellschaft und deren politischem System entwickeln.

Doch infwiefern kann die Etablierung von Strukturen der islamischen Wohlfahrtspflege die politische Mündigkeit von Muslimen fördern? Dazu zitierte Sabine Achour die These, der zufolge schon allein das Entstehen islamischer Verbände, die soziale Interessen wahrnehmen und gegenüber der Gesamtgesellschaft vertreten, in diese Richtung wirkten. "Wenn man institutionalisieren möchte, wird es sofort politisch." Durch kontroverse Auffassungen der neuen "Player" würden Aushandlungsprozesse angestoßen. Muslime könnten hierdurch die Erfahrung von Teilhabe machen, sich als Handelnde in der Gesellschaft anerkannt und ermächtigt fühlen ("Empowerment").

Dadurch, dass der Staat islamische Wohlfahrtspflege fördere, erkenne er zudem die besonderer Bedürfnisse von Angehörigen anderer Religionen – etwa bei der Pflege – in ihrer Diversität an. Schließlich, so Achour, führe eine öffentliche Präsenz muslimischer Akteure möglicherweise zu mehr Diskussionen über den Islam, und damit dem Abbau von Vorurteilen. Achours Fazit: Ein islamischer Wohlfahrtsverband hätte, auch im Sinne einer Binnenintegration von Migranten durch die muslimische community, "eine demokratiestützende Funktion". Der soziologischen Perspektive Achours setzte die Referentin Sümeyye Aksel einen kritischen Blickwinkel von der muslimischen Basis aus entgegen. Weniger die Integrationsfunktion für die Mehrheitsgesellschaft müsse im Zentrum der Debatte stehen, sondern vielmehr die Frage, was die Schaffung von eigenen Strukturen der Wohlfahrtspflege für die muslimische Gemeinschaft hierzulande bedeute. Grundsätzlich unterscheide sich die traditionell gewachsene muslimische Auffassung von "Wohlfahrt" von der europäischer Gesellschaften.

Während das institutionalisierte deutsche Sozialsystem dadurch geprägt sei, dass sich staatlich organisierte Unterstützung und Leistungen konfessionell wie politisch wertgebundene Träger ergänzten, setze der Islam auf die Verpflichtung jedes Einzelnen, Notleidenden zu helfen. Hilfe und Unterstützung (wie zur Alten- oder Behindertenbetreuung) werde bereits über die kleinsten Einheiten der muslimischen Gemeinschaft wie Familien, Nachbarschaft oder Moscheegemeinde, organisiert. Strukturen eines neuen islamischen Wohlfahrtsverbandes könnten Aksel zufolge die bislang praktizierte Solidarität und Verantwortung auf der Mikroebene entkräften und delegitimieren.

Aus der sozialen Praxis seiner Moscheegemeinde erzählte Ender Cetin, Vorsitzender der Berliner Ditib-Sehitlik-Gemeinde. Die Nachfrage nach dem sogenannten "Dienst am Menschen" sei zuletzt stark gestiegen. Eine eigens dafür eingerichtete Beratungsstelle sei mit der Vielzahl der Ansuchen, etwa nach seelsorglichem Beistand im Krankenhaus und Gefängnis konfrontiert: Eine Überforderung, da das Gros der Arbeit von Freiwilligen geleistet werde. Spenden zur Finanzierung hauptamtlicher Mitarbeiter lehnten viele vor allem ältere Muslime ab, da erwartet wird, dass der "Dienst am Menschen" ehrenamtlich geschehe. Um die überbordende Nachfrage aufzufangen, sei man gezwungen, auf Netzwerkpartner zurückzugreifen - wie etwa Psychotherapeuten, die regelmäßig in den Räumen der Moscheegemeinde Beratungen anbieten. "Wir brauchen professionelle Strukturen!" - diese Forderung Cetins wurde vom Gros der Seminarteilnehmer geteilt. Die abschließende Diskussion kreiste daher um den wohl steinigen Weg zu diesem Ziel. "Ist die Mehrheitsgesellschaft bereit, auf Augenhöhe mit den Muslimen zu diskutieren?" - diese Frage aus dem Plenum wurde kontrovers diskutiert. Kritisch wurde die Bereitschaft bereits etablierter Wohlfahrtspflege-Träger gesehen, einen neu entstehenden muslimischen Konkurrenten zu unterstützen. Positiv hob ein Teilnehmer hervor, dass acht islamische Organisationen jüngst eine gemeinsame Position für Verhandlungen zu einem eigenen Wohlfahrtsverband gefunden hätten. Der fruchtbare Diskussionsprozess dazu sei "allein schon ein Beitrag zur politischen Mündigkeit."

Biografische Angaben

Prof. Dr. Sabine Achour

ist seit dem 1.4.2015 Gastprofessorin im Arbeitsbereich Politikdidaktik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Vor Ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie bis 2005 Studienrätin für die Fächer Politik, Geschichte und Latein. Ihre Forschungsschwerpunkte beschäftigen sich mit Fragen der politischen Bildung in einer durch Migration ethnisch, kulturell und religiös heterogenen Gesellschaft, und welchen Beitrag die politische Bildung für Prozesse der gesamtgesellschaftlichen Integration leisten kann (Dissertation: "Bürger muslimischen Glaubens. Politische Bildung im Kontext von Migration, Integration und Islam"). Für Ihre Dissertation hat sie 2015 den Walter-Jacobsen-Preis für politische Bildung erhalten. Ihre Forschung zu Aspekten der Heterogenität erstreckt sich auch auf die Entwicklung einer durchgängigen Sprachbildung sowie der Kompetenzförderung im Politikunterricht. Ihre Forschungsergebnisse fließen u. a. in ihre Tätigkeit als Mitherausgeberin der Zeitschrift Wochenschau für den Politikunterricht. Außerdem ist sie Mitglied der Herausgeberkreise "Politik und Schule" sowie "Politik und Wissenschaft" des Wochenschau-Verlages in Schwalbach. Sie engagiert sich in der Lehrkräftebildung durch Fort- und Weiterbildungen sowie auf politischer und Verbandsebene. Seit Dezember 2012 ist sie Vorsitzende des Landesverbandes Berlin der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVpB).

Sümeyye Aksel geboren in Berlin Kreuzberg, aufgewachsen in Köln, lebe zurzeit in Osnabrück (Niedersachsen). Ich habe an der Universität zu Köln "Sozialwissenschaften" (Bachelor of Science) und an der Universität Bremen "Soziologie und empirische Sozialforschung" (Master of Arts) studiert. Zurzeit schreibe ich meine Master-Arbeit zum Thema "Deutungsmuster ehrenamtlichen Engagements -eine kultursoziologische Studie zu ehrenamtlich engagierten Eltern türkischer Herkunft". Des Weiteren habe ich an der Universiteit van Amsterdam (UvA) das Master-Programm "MEST -Européen en Sciences du Travail (Master of European Labour Studies)" abgeschlossen.

Ender Cetin hat sein Magister Artium in Erziehungswissenschaften beendet und Theologie im Fernstudium an der Anadolu Universität in Eskisehir-Türkei studiert. Er arbeitet in vielen verschiedenen Bereichen mit Jugendlichen aus islamischen Herkunftsländern. Unter anderem hat er eine Zusatzqualifikation als Dialogbegleiter gemacht Durch seine jahrelange ehrenamtliche Tätigkeit bei der DITIB-Berlin (Türkisch islamisch Union der Anstalt für Religion) begleitet und führt er Schulklassen durch die Moschee und übernimmt dabei die Rolle des Mediators zwischen Schülern und Lehrern. Bei dem Landesverband Ditib-Berlin ist er seit 2004 Öffentlichkeitsreferent. Seit Juni 2011 ist er Vorsitzender der Sehitlik Moschee Türkisch-Islamischen Gemeinde zu Neukölln e.V

Hadi Schmidt-El Khaldi, geb. 1969 und wohnt in Wesseling bei Köln. Er arbeitet als Pädagoge und im interreligiösen Dialog. Für den Liberal Islamischen Bund ist er als Imam in der Muslimischen Gemeinde Rheinland aktiv. Seit 10 Jahren arbeitet er im Vorbereitungsteam des ZFI der bpb mit.