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Islamische Wohlfahrtspflege in Deutschland – Notwendigkeiten und Möglichkeiten | X. Zukunftsforum Islam | bpb.de

X. Zukunftsforum Islam Eröffnung Dokumentation Rede von Rolf Rosenbrock Eröffnungsrede von Samy Charchira Eröffungsrede von Christoph Müller-Hofstede Rede von Mimoun Azizi Workshops Workshop 1 Workshop 2 Workshop 3 Workshop 4 Workshop 5 Workshop 6 Workshop 7 Workshop 8 Abschluss

Islamische Wohlfahrtspflege in Deutschland – Notwendigkeiten und Möglichkeiten Abstract zu Vortrag und Workshop

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Deutschland ist – trotz aller Defizite, Krisen und Schwächen – ein im internationalen Vergleich ziemlich gut organisierter Sozialstaat auf rechtsstaatlicher Basis. Für die Finanzierung und Regulierung der Bearbeitung sozialer Risiken (Kindheit, Ausbildung, Familie, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Behinderung, Alter, Armut) sind staatliche Stellen und Sozialversicherungen zuständig. Es sollen immer zunächst die Hilfsmöglichkeiten der unteren, problemnahen Ebenen ausgeschöpft werden (Subsidiarität). An der Regulierung und an der Erbringung sozialer Leistungen sind staatliche Stellen, gewinnwirtschaftliche Unternehmen und Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege (als Teil der Zivilgesellschaft; bürgerschaftliche Selbstorganisation) beteiligt. Träger gleicher Interessen organisieren sich in Verbänden (Korporatismus).

Die Freie Wohlfahrtspflege besteht derzeit aus sechs Spitzenverbänden, die zusammen mehr als 100.000 Programme und Einrichtungen organisieren, in denen ca. 1,5 Mio. Menschen haupt- und ca. 3 Mio. Menschen ehrenamtlich arbeiten: die Leistungen beziehen sich auf praktisch alle Bedarfs- und Notlagen, sie werden zu ca. 90% aus Mitteln des Staates und der Sozialversicherungen finanziert.

Das Angebot weist trotz seines Umfangs Lücken auf, und es gibt finanzielle, räumliche und kulturelle Barrieren der Inanspruchnahme.

Mit Recht weisen Vertreter muslimischer Organisationen als drittgrößte Religionsgruppe in Deutschland darauf hin, dass ihren speziellen, v. a. kulturellen und religiösen Bedürfnissen in der Wohlfahrtspflege nicht angemessen entsprochen wird und sie daher im Hinblick auf die Realisierung ihres Wunsch- und Wahlrechts benachteiligt werden. Von der deutschen Sozialpolitik wird dies zunehmend als sozialpolitisches, aber auch als Problem der Integration wahrgenommen und auch bearbeitet.

Zur Lösung gibt es grundsätzlich zwei Wege:

  1. Die interkulturelle Öffnung der bestehenden Einrichtungen und Programme der Wohlfahrtspflege ist ein aktuelles Schwerpunktthema in allen Wohlfahrts-Verbänden. Dabei geht es um Organisationsentwicklung mit den Schwerpunkten der Qualifizierung des Personals, der Anpassung von Räumen und Abläufen an spezielle Bedürfnisse von Menschen islamischen Glaubens, um die Gewinnung von entsprechendem Personal und eine entsprechende Führung in den Einrichtungen. Diese Entwicklung ist auf gutem Wege, bis Herbst 2016 wird dazu ein gemeinsamer Bericht aller Verbände vorgelegt. Aber diese Entwicklung geht - trotz vieler gut funktionierender lokaler Modelle - langsam und löst auch nicht alle Probleme.


  2. Der zweite Weg besteht im Aufbau und im Betrieb eigener Einrichtungen in der Regie muslimischer Gemeinschaften. Auch hierfür gibt es bereits gute Beispiele, v. a. im Bereich der frühen Kindererziehung, des Umgangs mit behinderten Menschen und in der Altenpflege. Viele Moscheevereine widmen sich in verschiedenen Formen der sozialen Unterstützung ihrer Gemeindemitglieder. Allerdings sind diese Bemühungen bislang nur selten mit dem deutschen System der staatlichen und freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege verknüpft. Eine bessere Verknüpfung könnte für die muslimische Wohlfahrtspflege – und damit für die soziale Versorgung in Deutschland – von hohem Nutzen sein: sie führt zu sichtbarer, rechtlich und politisch abgesicherter Repräsentanz von sozial engagierten Muslimen in den staatlichen und verbandlichen Gremien der Wohlfahrtspflege. Sie eröffnet damit die Chance auf Mitentscheidung und einen besseren Zugang zu finanzieller Unterstützung.

    Voraussetzungen dafür auf Seiten der muslimischen Gemeinschaften sind neben der tatsächlich kontinuierlichen Erbringung sozialer Dienstleistungen v. a. Transparenz im Hinblick auf die innere Struktur und die Finanzen, die Beachtung verbindlicher Qualitätskriterien bei der Erbringung der Dienstleistungen sowie die Übereinstimmung mit den Grundwerten der Wohlfahrtspflege (z. B. Chancengleichheit, Offenheit, Toleranz).

    Der Anschluss an die Strukturen der Wohlfahrtspflege erfordert darüber hinaus auch bestimmte Rechtsformen der Organisation (v. a. eingeschriebene Vereine oder gemeinnützige GmbH), aus denen sich dann auch höhere, regionale und überregionale Formen (Verbände, Spitzenverbände) entwickeln können.

    Der Aufbau solcher Strukturen ist keine staatliche Aufgabe, sondern Gegenstand der bürgerschaftlichen Selbstorganisation in der Zivilgesellschaft. In den bestehenden Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege besteht eine hohe Bereitschaft, den Aufbau und den Betrieb solcher Strukturen partnerschaftlich zu unterstützen. Das geplante coaching-Projekt des Paritätischen in NRW kann ein gutes Beispiel für eine solche, vom BMFSFJ und der Landesregierung NRW unterstützte Entwicklung werden und Erfahrungen für die weitere Entwicklung erbringen.

Bezogen auf die Ausgangsfrage kann demnach festgehalten werden, dass es zweifellos Notwendigkeiten und auch Möglichkeiten zum Aufbau und Betrieb muslimischer Wohlfahrtspflege in Deutschland gibt, und dass die wesentlichen Akteure der Wohlfahrtspflege in Deutschland eine solche Entwicklung auch befürworten und unterstützen. Die tatsächliche Umsetzung hängt damit wesentlich vom politischen Willen und der Organisationsfähigkeit in den muslimischen Gemeinschaften und Organisationen ab.