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Vortrag: "Deutschland, wie hast du’s mit der Religion?" | In Gottes Namen?! Streit um Religion in Gesellschaft und Politik | bpb.de

In Gottes Namen?! Streit um Religion in Gesellschaft und Politik 1. Tag der Fachtagung: 28.01.2019 2. Tag der Fachtagung: 29.01.2019 Vortrag: "Deutschland, wie hast du’s mit der Religion?" Vortrag: "Konflikt- und Friedenspotenzial der Religionen" Arbeitsgruppenphase I: Debatten um Religion in Gesellschaft und Politik Podiumsgespräch "Der einzig wahre Glaube? Von gesellschaftlichen Konflikten zum Theaterstück" 3. Tag der Fachtagung: 30.01.2019 Vortrag: "Antisemitismus(kritik) in der Migrationsgesellschaft" Vortrag: "Islamfeindlichkeit in Deutschland und Österreich" Arbeitsgruppenphase II: Welche Rolle spielt Religion? Interaktiver Abschluss Videos der Fachvorträge Videointerviews

Vortrag: "Deutschland, wie hast du’s mit der Religion?"

/ 4 Minuten zu lesen

Prof. Dr. Detlef Pollack, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

In seinem Vortrag "Deutschland, wie hast du’s mit der Religion" nimmt Professor Pollack eine religionssoziologische Skizze der deutschen Gesellschaft und "westlicher" Staaten vor. Aktuelle religionspolitische Diskurse definieren Religion nicht mehr als inkompatibel mit der Moderne. Vielmehr erörtern sie die "Wiederkehr der Götter", die "Wiederverzauberung der Welt", die "Deprivatisierung der Religion" und die "Individualisierung der Religion". All diese Diskurse richten sich gegen eine von Steve Bruce, Ronald Inglehard und David Voas vertretene Säkularisierungstheorie, die behauptet, dass die Modernisierung zwar nicht unausweichlich, wohl aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Säkularisierung führe. Angesichts dieser konträren religionssoziologischen Theorien, formulierte Professor Pollack die Leitfragen seines Vortrags wie folgt: "Inwiefern ist es berechtigt von einer Wiederkehr der Religion zu sprechen?", "auf welcher Ebene kehrt sie wieder?" und "in welcher Form?"

Ein Überblick über die Zugehörigkeit der Deutschen zu religiösen Gemeinschaften zeigte zunächst einen deutlichen Unterschied zwischen den Menschen in West- und Ostdeutschland. Während in Westdeutschland nur 34% der Bevölkerung im Jahr 2015 konfessionslos sind, ist es in Ostdeutschland eine Mehrheit von 75%. Außerdem werde deutlich, so Professor Pollack, dass viele Menschen in Westdeutschland nach der deutschen Wiedervereinigung aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. Auch ein Blick auf die vergleichende Statistik über religiösen Pluralismus in Westdeutschland und in den USA bot aufschlussreiche Erkenntnisse. Obwohl die USA als weitaus religiöser gelten als viele Staaten Westeuropas, ist auch dort ein fortschreitender Prozess der Säkularisierung zu erkennen. Neben den religiösen und konfessionellen Zugehörigkeiten sind natürlich die gesellschaftlichen Einstellungen zu Religion und religiösen Gemeinschaften nicht nur interessant, sondern auch relevant. Generell wird sowohl in West- als auch in Ostdeutschland die Meinung vertreten, dass gegenüber allen Religionen Offenheit gezeigt werden sollte. Außerdem sind es jeweils Minderheiten, die davon ausgehen, dass Religionen eher schädlich sind. Bemerkenswert scheint jedoch die Erkenntnis, dass religiöse Vielfalt mehrheitlich zwar als kulturelle Bereicherung, aber auch als Ursache von Konflikten wahrgenommen wird – sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. Befragungen zur Wahrnehmung einzelner Konfessionen beschreiben deutliche Unterschiede. Beispielsweise wurde der Islam häufig mit negativen Attributen wie Gewaltbereitschaft, Fanatismus und die Benachteiligung der Frau beschrieben. Das Christentum hingegen ruft vorwiegend positive Assoziationen wie Solidarität und Achtung der Menschenrechte hervor.

Generell befindet sich der Gottesglaube in Deutschland im Wandel und entwickelt sich rückläufig. Allerdings blickte der Referent auch hier detaillierter auf die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Während in Westdeutschland nur 20% nicht an Gott glauben, sehen sich im Osten 55,3% der Bevölkerung als Atheisten – der weltweit höchste prozentuale Anteil. Einen wichtigen Faktor des Wandels der religiös-kirchlichen Bindung sieht Professor Pollack zunächst in einer sinkenden religiösen Sozialisation. Religion nimmt in den meisten Elternhäusern Deutschlands nur noch eine geringe Bedeutung ein. Darüber hinaus habe der wachsende wirtschaftliche Wohlstand zu einer abnehmenden Religiosität geführt. Ökonomische Ressourcen, so Professor Pollack, entlassen die Menschen von der Einbindung in ein religiöses Leben. Ein dritter Faktor für den Wandel der religiös-kirchlichen Bindung ist eng an die moderne Gesellschaft und deren Anspruch an funktionale Differenzierungen geknüpft. So glauben viele Menschen zwar nach wie vor, dass die Kirche religiöse Fragen lösen könne, doch gerade Konfessionslose trauen es ihr nicht zu, Wesentliches zur Lösung moralischer, familiärer oder sozialer Probleme beitragen zu können.

Zum Abschluss seines Vortrages stellte Professor Pollack Thesen zur heutigen Bedeutung von Religiosität in Deutschland dar: Das Niveau der religiösen Pluralität sei in den letzten Jahren stark angestiegen. Aus diesem Anstieg ergäben sich ein erhöhter Integrationsbedarf auf sozialer und ein erhöhter Regelungsbedarf auf rechtlicher Ebene. Obwohl die Mehrheit der Deutschen offen für die steigende Vielfalt des Religiösen sei, nehme sie Religion auch als Konfliktursache wahr. Eine Mehrheit fühle sich durch den Islam bedroht. Von der Wiederkehr der Religion auf der individuellen Ebene könne man nicht sprechen. Vielmehr sei Religion wieder in den öffentlichen Diskurs eingewandert. Religion erscheine vielen Menschen als ein Medium zur Austragung von Konflikten.

In der anschließenden Diskussion wurde nochmals der Begriff der "Konfessionslosen" thematisiert. Ausgangspunkt für eine solche Begriffsspezifizierung war die Anmerkung, dass es verschiedene Dimensionen des Atheismus gebe, welcher konfessionslose Menschen nicht unbedingt mit einschließe. Außerdem sei zu klären, welcher Kategorie Agnostiker zuzuordnen seien. Professor Pollack bestätigte, dass der Begriff der "Konfessionslosen" auf eine schwierige Kategorie verweise. Er plädierte aber dennoch für die Beibehaltung dieses Begriffes unter der Voraussetzung einer kontextuellen Differenzierung. Darüber hinaus konkretisierte er die Forderungen nach einer erhöhten Integration auf sozialer und einer erhöhten Regelung auf rechtlicher Ebene, die er in seiner zweiten These formulierte. Ein friedliches Zusammenleben einer religiös-pluralistischen Gesellschaft basiere auf persönlichen Kontakten, Begegnungen und Dialogen zum Abbau von Vorurteilen, so Professor Pollack. Er warnte vor einem Überlegenheitsgefühl vor allem seitens sogenannter "Kosmopoliten" und "realitätsferner Eliten". Zuletzt bestätigte Professor Pollack, dass die Wahrnehmung des Islam als Gefahr Auswirkungen auf Radikalisierungsprozesse haben könne, nämlich dann, wenn Musliminnen und Muslime das Gefühl haben, Opfer von Diskriminierungen zu werden. Ein solches Gefühl werde von gewissen radikalen Milieus gepflegt und für die Radikalisierung instrumentalisiert.

Hier finden Sie den Interner Link: Mitschnitt des gesamten Vortrags und ein Interner Link: Interview mit Professor Pollack.

Fussnoten