Es ist nicht leicht, das Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei eindeutig zu bestimmen. Für viele Außenstehende erschien die Türkei, zumindest bis vor wenigen Jahren, als Beispiel dafür, dass auch ein islamisch geprägtes Land säkular verfasst und sich offen zu Werten der liberalen Moderne wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen kann. Gleichzeitig weist die spezifische staatliche Verfasstheit von Religion in der Türkei auch Eigenarten auf, die das Land markant von anderen Modellen von Säkularität unterscheidet.
Einerseits lehnt sich das türkische Modell von Säkularismus, beziehungsweise Laizismus (laiklik) begrifflich am französischen Modell der laïcité an, dessen antiklerikale Grundorientierung es teilt. Andererseits wird mit laiklik, anders als in Frankreich, nicht Neutralität des Staates in Bezug auf Religion verbunden, sondern aktive Einmischung und Kontrolle.
Bis in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts hinein stand das türkische Modell zudem für eine klare Trennung von Religion und Politik, die jedoch unter der seit 2002 regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zunehmend ausgehöhlt wurde.
Die von der AKP unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan, dem charismatischen Anführer der islamischen Bewegung der Türkei und gleichzeitig Präsidenten des Landes, in den letzten Jahren vorangetriebene Transformation von Staat und Gesellschaft kann mit Schlagworten wie Abgrenzung von der westlichen Hemisphäre, Autoritarisierung und Islamisierung beschrieben werden. Dadurch veränderte sich sowohl das politische und gesellschaftliche Gleichgewicht im Innern des Landes als auch der europäische Blick auf die Türkei dramatisch. Letzterer wird zunächst bestimmt von der geopolitischen Sorge um die Verlässlichkeit der Türkei als Bündnispartnerin und Pufferstaat zwischen Europäischer Union und der westlichen Allianz auf der einen Seite und einer Phalanx autoritärer oder instabiler Staaten im Osten (Russland, Iran, Irak, Syrien) auf der anderen Seite. Evident wird diese Pufferfunktion nicht zuletzt im 2016 abgeschlossenen Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei, der dieser im Gegenzug für das Abdichten der Grenzen nach Westen beträchtliche finanzielle Unterstützung zusagt.
Zusätzlich zu den geopolitischen Interessen gerieten in den letzten Jahren vermehrt auch Demokratie- und Menschenrechtsfragen ins Zentrum der europäischen Berichterstattung über die Türkei: die Niederschlagung des Gezi-Aufstandes (2013), die Wiederaufnahme der militärischen Auseinandersetzung mit der PKK in den kurdisch dominierten Provinzen im Südosten des Landes (2015), sowie der gescheiterte Putschversuch im Juli 2016 führten sukzessive zu einem Zustand in dem politische Grundrechte missachtet werden und die Rechtsstaatlichkeit massiv eingeschränkt ist.
Die Abwendung der Türkei von demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien wird dabei nicht von wenigen Beobachter*innen als verknüpft mit der Abkehr vom Säkularismus und als Produkt der Islamisierungspolitik der AKP betrachtet. Jedoch ist es extrem schwierig, die essentialistische Annahme einer aus „dem Islam“ herrührenden türkischen Abkehr von westlichen Werten wie Säkularität und Demokratie zu begründen.
Mehr Sinn macht es, zu fragen ob (1) die gegenwärtige Islamisierungspolitik in der Türkei in erster Linie als politische Gegenreaktion auf die Repressionen durch den kemalistischen Säkularismus verstanden werden sollte und (2) in wie fern die heutige Türkei immer noch als ein säkulares Land gelten kann, wenn auch eines mit spezifisch muslimischer Prägung.
Für eine erste Annäherung an das vielschichtige Verhältnis von Religion und Staat in der modernen Türkei empfiehlt sich zunächst ein historischer Rückblick.
Genese des türkischen Laizismus
Oft wird angenommen, dass der türkische Laizismus eine Erfindung der 1923 gegründeten Republik Türkei gewesen sei. Dabei waren schon die stark von positivistischem Gedankengut geprägten „Jungtürken“ (Türk. Jöntürkler), die die Politik der letzten knapp zwei Dekaden des Osmanischen Reichs wesentlich prägten, Säkularisten, also überzeugt, dass die Religion von der Politik getrennt und dieser unterstellt werden sollte. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs führte die jungtürkische osmanische Regierung wichtige Säkularisierungsmaßnahmen durch mittels derer zentrale islamische Institutionen politisch entmachtet und zivilen Autoritäten unterstellt wurden.
Die Reformen selber waren vorläufiger Höhepunkt eines Prozesses der Modernisierung des Osmanischen Reiches, der mindestens bis zur Reformperiode der Tanzimat (1839-76) zurückgeführt werden kann. Damals wurde der Begriff der Religionsfreiheit eingeführt und erste säkulare Schulen, Gesetze und Gerichte nach europäischem Vorbild wurden etabliert.
Die Frage, welche Rolle die Religion in der neuen Republik Türkei spielen sollte war also keineswegs erst von den neuen Staatsgründern um Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, aufgebracht worden. Schon seit geraumer Zeit hatten muslimische Intellektuelle des Osmanischen Reiches diskutiert was denn genau einen Staat als islamisch kennzeichne, was demgegenüber einen modernen oder westlichen Staat ausmache, ob oder in wieweit die entsprechenden Staats- und die damit verknüpften Gesellschaftsvorstellungen kompatibel sein könnten. Diese zum Teil sehr heftig geführten Debatten wurden in den ersten Jahren der Republik fortgesetzt. Im nach dem ersten Staatspräsidenten benannten Kemalismus wurde die Neuausrichtung des Staates programmatisch fixiert: republikanisch, nationalistisch, etatistisch, revolutionistisch, populistisch und säkularistisch sollte das Land von nun an ausgerichtet sein. Die Säkularisierung von oben war ein wichtiger Eckpunkt des kemalistischen Modernisierungsprogramms und prägte auch dessen Wahrnehmung in der internationalen Öffentlichkeit.
Säkularisierung von oben in der jungen Türkei
1922 Abschaffung des Sultanats
1923 Ausrufung der Republik
1924 Abschaffung des Kalifats; Säkularisierung des Erziehungssystems; Gründung des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten
1924-26 Säkularisierung des Justizwesens
1925 Verbot und Schließung der Sufi Orden; Verbot traditionell-religiöser Bekleidung
1928 Verfassungsänderung: Islam nicht mehr Staatsreligion
1937 Laizismus wird Verfassungsprinzip
Die für den türkischen Laizismus charakteristische Unterordnung der Religion unter die Politik, die zu einer radikalen Kontrolle von Religion durch den Staat führen sollte, war schon in der osmanischen Religionspolitik angelegt und wurde von den Kemalisten lediglich radikalisiert. Jedoch setzte sich die kemalistische Religionspolitik von der osmanischen Staatstradition insofern ab, als
(1) der Staat nun rein säkular (als republikanischer Nationalstaat) legitimiert wurde,
(2) Religion weitestgehend aus dem öffentlichen Leben gedrängt und öffentliche Religion außerhalb des staatlich sanktionierten Rahmens für illegitim erklärt wurde, als Folge dessen
(3), Räume für legitime islamische Unterweisung und Religionspraxis radikal reduziert wurden und
(4) der Islam dem Nationalismus als gemeinschaftsbegründende Identität untergeordnet wurde.
Die in der frühkemalistischen Phase verbreitete religionskritische Haltung wich seit den späten 1940er Jahren einem pragmatischeren Umgang. Als Folge der Entfremdung des politischen Systems von einer nach wie vor überwiegend ländlichen und konservativen Bevölkerung begann der Staat nun, den Islam als ein nationales Bindeglied aufzuwerten. Dies ist beispielsweise an den ausgeweiteten Befugnissen des 1924 geschaffenen staatlichen Präsidiums für Religionsangelegenheiten zu sehen. Neben der formalen Funktion, die Organisation der öffentlichen Belange islamischer Religionspraxis zu übernehmen war es Aufgabe des Präsidiums, einen aufgeklärten Islam im Sinne des säkularistischen Nationalismus zu fördern, über den islamistische Bewegungen sowie Häresien bekämpft werden sollten. Die nationale Aufwertung des Islam ging einher mit einer weiteren Marginalisierung der Interessen der Nichtmuslime sowie der Aleviten, deren eigene Religionspraxis mit dem sunnitischen Ideal, an dem die türkische Religionspolitik immer ausgerichtet war, nur schwer in Einklang gebracht werden kann.
Das Präsidium für Religionsangelegenheiten
Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet) verkörpert in besonderer Weise das spezifisch türkische Verhältnis von Religion und Staat, das die Religion nicht vom Staat trennt, sondern sie durch Einordnung in dessen Administration organisiert und kontrolliert und somit auch der Politik unterordnet. Das Präsidium bietet unter anderem Korankurse an, verfasst die Freitagspredigten, entsendet Prediger, Imame und Muezzins an die von ihr unterhaltenen Moscheen. Seit den 1980er Jahren wurden dem Präsidium auch internationale Aufgaben zugesprochen worden, zum Beispiel bei der Unterstützung des Baus türkischer Moscheen und der religiösen Betreuung türkischer Muslime in der europäischen Diaspora.
Über ein breites Netz von Organisationen und Aktivitäten (Entsendung von Delegationen, Studentenaustausch, Unterstützung beim Aufbau islamischer Institutionen) übernimmt es mittlerweile auch eine religiöse Botschafterfunktion gegenüber islamischen Staaten und hier vor allem unter ehemals osmanischen Ländern, um die sich die AKP besonders bemüht. Der Staatshaushalt der Türkei von 2018 sieht mehr als 13 Billionen Türkische Lira für religiöse Angelegenheiten vor: 6,8 Bio. für das Präsidium und 6,4 Bio. für Imam-Hatip-Schulen - ursprünglich Fachschulen für Moscheepersonal, aber mittlerweile ausgeweitet zu religiösen Sekundarschulen, die säkularen Schulen gleichberechtigt sind und das Rückgrat der konservativ-islamischen Bewegung bilden.
Vor der AKP-Ära war das Präsidium primär dem Staat und der laizistischen Ordnung verpflichtet und besaß als Staatsorgan auch eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber wechselnden Regierungen. Über parteinahe Stellenbesetzungen gelang es den AKP-Regierungen jedoch, das Präsidium schrittweise stärker an sich zu binden. Bei dem Putschversuch im Juli 2016 half es zunächst bei der Mobilisierung der Bevölkerung während des Putsches, danach dann bei der Denunzierung vermeintlicher Putschisten und insbesondere der Gülen-Bewegung, die schnell als dessen Drahtzieher ausgemacht wurde. Ursprünglich auf den Unterhalt und Betrieb der Moscheen und die Bereitstellung religiöser Dienstleistungen unter staatlicher Kontrolle konzentriert, reicht der Aktionsradius des Präsidiums mittlerweile weit über die Moschee hinaus. Über drei eigene Radiokanäle und einen Fernsehkanal sowie über die enge Kooperation mit der AKP und der ihr nahestehenden Medien fördert es national und international einen sunnitischen Islam konservativerer Prägung und schwört die Bevölkerung auf Loyalität gegenüber der Regierung und vor allem dem Staatspräsidenten ein. Das Präsidium ist mittlerweile das wichtigste Instrument der AKP für ihr Projekt der religiösen Umgestaltung der Gesellschaft, dem Aufbau einer „Neuen Türkei“, basierend auf der zu schaffenden "Frommen Generation."
„Neue Türkei“ und „Fromme Generation“: Die Religionspolitik der AKP
In den letzten Jahren hat die türkische Regierung wichtige Schritte dahingehend unternommen, ihre konservativen religiösen Werte in staatliche Institutionen und die Öffentlichkeit einzuschreiben. Das wichtigste Instrument für die Gründung einer „Frommen Generation“ ist die religiöse Erziehung. In den Jahren der AKP-Regierung erhöhten sich die staatlichen Ausgaben für Bildung von 6,9% im Haushaltsplan 2003 auf 12,3% im Jahr 2018. Gesetze die den Religionsunterricht einschränkten wurden aufgehoben, was zu einem erheblichen Anstieg an registrierten Korankursen und Imam-Hatip-Schulen zum Nachteil weltlicher Sekundarschulen führte. Die AKP erweiterte die Religionsinhalte staatlicher Lehrpläne: 2015 wurden neue Wahlfächer „Koran“ und „Leben Muhammeds“ hinzugefügt. 2017 wurden die Lehrpläne von der Darwinistischen Evolutionstheorie befreit und gleichzeitig nicht- und anti-religiöse Positionen (wie Atheismus) als abnormal gekennzeichnet. Auch der vorschulische Religionsunterricht wurde ausgebaut.
Die AKP präsentiert ihre Vision als diejenige einer „Neuen Türkei“ und die Islamisierungspolitik im Speziellen unter dem Motto der „Erschaffung einer Frommen Generation“. "Nicht-islamisches" Verhalten wie Alkoholgenuss, Rauchen und unerlaubte Interaktion zwischen den Geschlechtern werden dabei als Gegenbild zur Frommen Generation aufgebaut und tabuisiert. Aus AKP-Perspektive intensivierte sich die Dringlichkeit des Projekts der Frommen Generation im Zuge der mehrheitlich von Jugendlichen getragenen Gezi-Protestbewegung im Frühsommer 2013.
Die Islamisierung der Öffentlichkeit ist neben dem Autoritarismus der jüngeren Erdoğan-Ära eine der Ursachen für die Spaltung der Gesellschaft. Sie wird nicht nur von säkularen Sunniten als Bedrohung empfunden, sondern auch von den religiösen Minderheiten, insbesondere Aleviten, Juden und Christen. Während die Befürworter der Regierung betonen, dass deren Politik demokratisch legitimiert sei und die Ausrichtung des Staates an den Bedürfnissen der sunnitisch-muslimischen Mehrheit lediglich eine Anpassung an die sozialen Realitäten des Landes bedeute, beklagen nicht-sunnitische und säkulare Teile der Gesellschaft Einschränkungen ihres Lebensstils sowie politische und sozioökonomische Benachteiligungen.
Sollte das politische Projekt der AKP nun als eine Konterrevolution betrachtet werden, die Rache der durch den elitären Kemalismus marginalisierten konservativen Bevölkerung am kemalistischen Staat und dessen säkularen Eliten? Tatsächlich war ja der von Mustafa Kemal und seiner Entourage vertretene Säkularismus von Beginn an ein elitäres Projekt mit zivilisatorischem Dünkel, dessen Durchsetzung mit den Mitteln der Staatsgewalt den Widerstand konservativerer Kräfte in Politik und Gesellschaft provozierte. Oder handelt es sich bei der Islamisierungspolitik der AKP eher um eine Revision, durch die zwar die Rolle des Islam in der türkischen Öffentlichkeit aufgewertet wird, aber dennoch zentrale Aspekte des Kemalismus wie das Prinzip der Kontrolle der Religion durch den Staat und ein an der sunnitischen und türkischen Mehrheitsbevölkerung ausgerichteter Nationalismus aufrecht erhalten bleiben?
Es gibt Gründe für beide Argumente. Unstrittig ist, dass die Wurzeln der heutigen gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien bis in die frühe Republik zurückreichen. Die derzeitige politische und soziale Polarisierung in der Türkei ist letztlich Produkt inkompatibler Erfahrungen und divergierender sozioökonomischer und politischer Interessen und Möglichkeiten verschiedener sozialer Milieus innerhalb einer Staatstradition, die die Gesellschaft immer aktiv von oben zu modernisieren trachtete. Die AKP hat sich das autoritäre nationalistische Vermächtnis der kemalistischen Staatstradition angeeignet und schreibt diese nun religiöse gewendet fort.