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Staat und Religion: Iran

Katajun Amirpur

/ 8 Minuten zu lesen

Katajun Amipur betrachtet Staat und Religion in globalen Vergleich und geht insbesondere auf die Rolle des Islam im Iran ein.

Ein Porträt des verstorbenen iranischen Führers Ayatollah Ruhollah Khomeini ist auf dem Azadi (Freiheits)-Denkmal im Westen Teherans. (© picture alliance / NurPhoto | Morteza Nikoubazl)

Vielleicht war die Säkularisierung doch keine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Dass die Religion bald aus dem öffentlichen Raum verschwunden sein werde, hatte der amerikanische Religionssoziologe Charles Wright Mills (1916-1962) 1959 in seinem Buch Sociological Imagination prognostiziert, und Wissenschaft und populärer Journalismus waren ihm weitgehend gefolgt. Es wurde fortan, in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, zum Gemeinplatz soziologischer Forschung, dass die Religion überall auf der Welt im öffentlichen Raum an Bedeutung verliert. Die Säkularisierung wurde als quasi logische Folge der brutalen und langanhaltenden Religionskriege der Neuzeit, die Europa in Schutt und Asche legten, und als Antwort auf eine Katastrophenerfahrung erklärt.

Nach der Erfahrung der religiösen Erweckungsbewegungen in Lateinamerika, der Islamischen Revolution in Iran und dem Aufkommen anderer religiöser Bewegungen leiteten Rodney Stark (geb. 1934) und Roger Finke (geb. 1953) im Jahre 2000 eine Kehrtwende ein, als sie in ihrem Buch Acts of faith erklärten, nach beinahe drei Jahrzehnten von Fehleinschätzungen sei es nun an der Zeit, die so genannte Säkularisierungsthese zu begraben. Während also noch einige Jahrzehnte zuvor das Ende der öffentlichen Religion gekommen zu sein schien, galt dies nun offenbar für das der Säkularisierung. Als Beispiel hierfür wurde – neben den USA - häufig Iran zitiert. Zuletzt machte dies Mark Lilla (geb. 1956), Professor an der Philosophischen Fakultät der Columbia University, an prominenter Stelle durch den Essay „The Politics of God“ im August 2007. Gerade in Bezug auf Iran kam der von Religionssoziologen seither viel diskutierte Essay Mark Lillas zu dem Ergebnis, dass womöglich die Trennung von Religion und Politik eine eher einzigartige und außergewöhnliche Errungenschaft sei, die deshalb umso mehr geschätzt werden müsse.

Säkularisierungsthesen im Vergleich

Aber das Aufkommen einer starken Gegenbewegung und sogar ein kurzfristiger Rückschlag müssen nicht zum Scheitern dessen führen, was nach Ansicht der Verfasserin heutzutage in Iran durchaus zu beobachten ist, nämlich Säkularisierung. Gerade in Iran lässt sich auf verschiedenen Ebenen eine fortschreitende Säkularisierung beobachten. Um diese These ausführen zu können, ist es sinnvoll, zunächst die Säkularisierungsthese mit José Casanova (geb. 1951) und Charles Taylor (geb. 1931) zu erweitern bzw. sie ihnen folgend zu differenzieren: Casanova, Professor an der Georgetown University in Washington D.C. und Leiter eines Programms des Berkeley Center für Globalisierung, Religion und Säkularismus und weltweit einer der führenden Religionssoziologen, hat in seinem Buch Public Religions in the Modern World, welches inzwischen zu einem Standard-Referenzwerk in der Diskussion geworden ist, vorgeschlagen, dass, was gewöhnlich als eine einzige Theorie der Säkularisierung betrachtet wird, analytisch in drei verschiedene und nicht notwendigerweise in Wechselbeziehung stehende Komponenten zu unterteilen:

  • Die Theorie der institutionellen Differenzierung der so genannten Sphären wie Staat, Wirtschaft und Wissenschaft von religiösen Institutionen und Normen.

  • Die Theorie eines fortschreitenden Niedergangs religiöser Überzeugungen und Praktiken in Übereinstimmung mit dem Grad der Modernisierung.

  • Die Theorie der Privatisierung der Religion als eine Voraussetzung für moderne, säkulare und demokratische Politik.

Diese Unterscheidung ermöglicht die getrennte Untersuchung jeder der drei Subthesen als unterschiedene und empirisch falsifizierbare Propositionen. In den USA etwa kann man einen paradigmatischen Prozess der säkularen Differenzierung beobachten, der aber weder von einem Prozess des religiösen Niedergangs noch von einer Beschränkung auf den privaten Bereich begleitet ist. Vielmehr war der Prozess der Modernisierung und der Demokratisierung in den Vereinigten Staaten von einer religiösen Erweckung begleitet. Auch Charles Taylor unterscheidet in seinem Buch The Secular Age zwischen drei Varianten der Säkularisierungsthese:

  • Der Trennung von Kirche und Staat.

  • Der Abnahme von Glauben und Glaubenspraktiken in der populären Kultur.

  • Die Suche nach Sinn und Moralität im säkularen Leben.

Die Differenzierungen der beiden Religionssoziologen können zu beschreiben helfen, was beispielsweise in den Vereinigten Staaten zu beobachten ist: Die USA sind einerseits säkularisiert - und auch wieder nicht. In Bezug auf die Variante a) der beiden Religionssoziologen sind die USA säkular, in Bezug auf beider b) sind die USA nicht säkular. Betrachtet man nun Iran, steht ebenfalls die Frage im Raum, ob Modernität notwendigerweise zu Säkularisierung führt oder ob umgekehrt die Säkularisierungs-these, die im deutschen Raum am exponiertesten von Detlef Pollack (geb. 1955) und im englischsprachigen Raum in ihrer Reinform am ehesten von Steve Bruce (geb. 1954) und Bryan Wilson (1926-2004) vertreten wird bzw. wurde, von Anfang an falsch war, und ob stattdessen den bereits erwähnten Religionssoziologen Rodney Stark und Roger Finke zuzustimmen ist, deren Position zusammengefasst besagt, Modernisierung schließe die Vitalität von Religionen nicht nur nicht aus, sondern befördere sie sogar.

Jürgen Habermas (geb. 1929) hat in seiner Friedenspreisrede aus dem Jahre 2001 betont, dass die Säkularisierungsthese heute an Erklärungskraft eingebüßt habe. Er schreibt aber an anderer Stelle über den Streit der Soziologen und bezieht sich, wenn er von Vergleichsdaten spricht, auf die Untersuchung Sacred and Secular, die die zuverlässigste Datenerhebung zum Thema leistet:

Nach meinem Eindruck geben die global erhobenen Vergleichsdaten den Verteidigern der Säkularisierungsthese immer noch eine erstaunlich robuste Rückendeckung. Die Schwäche der Säkularisierungstheorie besteht eher in undifferenzierten Schlussfolgerungen, die eine unscharfe Verwendung der Begriffe „Säkularisierung“ und „Modernisierung“ verraten. Richtig bleibt die Aussage, dass sich Kirchen und Religionsgemeinschaften im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme zunehmend auf die Kernfunktion der seelsorgerischen Praxis beschränkt haben und ihre umfassenden Kompetenzen in anderen gesellschaftlichen Bereichen aufgeben mussten. Gleichzeitig hat sich die Religionsausübung in individuellere Formen zurückgezogen. Der funktionalen Spezifizierung des Religionssystems entspricht eine Individualisierung der Religionspraxis.

Die Verfasserin ist der Ansicht, dass sich dies auch für Iran beobachten lässt: Auch dort besteht zumindest der steigende Wunsch, dass sich die „Kirche“, oder um es etwas terminologiesicherer auszudrücken, die Institution Geistlichkeit, sāzemān-e rūḥānīyat, auf die Kernfunktion der seelsorgerischen Praxis zurückziehen möge.

Meinungsbild in der iranischen Bevölkerung

Gemäß einer Umfrage der Gallup-Organization, einem der führenden amerikanischen Meinungsforschungsinstitute, die zwischen März 2005 und September 2006 in Iran, Ägypten, Indonesien, Pakistan, den palästinensischen Gebieten, der Türkei und den USA durchgeführt wurde, sagen 56 Prozent der befragten Iraner, Geistliche sollten keine direkte Rolle in der Politik spielen. Zum Vergleich: In der Türkei lehnen eine direkte Rolle der Geistlichen in der Politik 74 Prozent, in Indonesien 53 Prozent, in Pakistan 40 Prozent, in den palästinensischen Gebieten 44 und in den USA 65 Prozent der Befragten ab. Gemäß derselben Umfrage sagen 66 Prozent der befragten Iraner, die šarī‛a solle eine Quelle der Gesetzgebung sein, aber nicht die einzige, was nur 14 Prozent befürworten. Zum Vergleich: 44 Prozent der befragten Amerikaner wollen, dass die Bibel eine der Quellen der Gesetzgebung ist, und sogar neun Prozent befürworten, dass sie die einzige Quelle der Gesetzgebung ist.

Obschon diese Umfrage ergibt, dass die Rolle der offiziellen Religion nach Ansicht der Bevölkerung weit weniger groß sein sollte, sagt eine große Anzahl der befragten Iraner, dass Religion eine sehr große Rolle in ihrem privaten Leben spiele (74 Prozent). Mit 68 Prozent liegen hier die Iraner mit den Amerikanern fast gleichauf. Zu ähnlich interessanten Ergebnissen kommt World-Values-Survey: World-Values-Survey ist die umfangreichste und weiträumigste Umfrage so genannter „menschlicher Werte“, die je durchgeführt wurde. Es handelt sich dabei um ein fortlaufendes akademisches Projekt von Sozialforschern, das ermitteln soll, welcher Status den verschiedenen soziokulturellen, moralischen, religiösen und politischen Werten in den verschiedenen Kulturen der Welt beigemessen wird. World-Values-Survey zufolge sind die befragten Iraner zwar sehr religiös und haben eine starke Bindung zu Gott, aber sie erwarten keine Antworten mehr bezüglich sozialer, politischer und persönlicher Probleme von den Geistlichen. Fast vierzig Prozent geben an, die „Kirche“ vermöge es nicht, Antworten auf soziale Problemstellungen zu geben.

Man möchte angesichts dieser Daten zur Ausdifferenzierung der Säkularisierungs-these à la Casanova und Taylor greifen und feststellen, dass es zum einen in Iran keine oder eine nur geringfügige Verminderung von religiösen Überzeugungen gegeben hat, Iraner also nicht säkular im Sinne von b) sind; dass aber eine Vorstufe für a), die Trennung von „Kirche“ und Staat eingesetzt hat, nämlich der Verlust des Vertrauens in die Institution Geistlichkeit. Dieser Verlust des Vertrauens resultiert in dem Wunsch nach einer institutionellen Differenzierung der Sphären wie Staat, Wirtschaft und Wissenschaft von religiösen Institutionen und Normen. World-Values-Survey hat es aus auf Anhieb nachvollziehbaren Gründen im Falle von Iran unterlassen, direkte Fragen zum Verhältnis zwischen Politik und Religion zu stellen, die sonst gestellt werden. Deshalb kann an dieser Stelle nur spekuliert werden, dass die Mehrheit der Iraner sich nach der Erfahrung von fast vierzig Jahren real existierendem Islamismus eher gegen als für eine weitere Vermischung von Religion und Staat aussprechen würde.

Iranische Theokratie

Dieses findet sich im Moment auf vielen Ebenen: So ist Iran eine Theokratie in dem Sinne, als die Herrschaft als von Gott gegeben angesehen wird. So postuliert Artikel fünf der iranischen Verfassung, dass der Oberste Rechtsgelehrte in Vertretung des dereinst wiederkehrenden 12. Imams regieren würde. Dass in Iran eine starke Verzahnung von Religion und Staat stattgefunden hat, lässt sich vor allem an denjenigen Institutionen ablesen, die den mehr oder minder demokratisch legitimierten Institutionen übergestülpt sind. So kennt die islamische Republik zwar ein Parlament, aber diesem werden durch den Wächterrat Beschränkungen in seiner Gesetzgebung auferlegt. Durch den Wächterrat wird festgelegt, ob ein bereits vom Parlament verabschiedetes Gesetz gegen die islamische Grundordnung des Staates verstößt. Außerdem kann der Wächterrat Kandidaten ablehnen, die er als unislamisch charakterisiert. Ohnehin ist die oberste Machtinstanz im Staate nicht der gewählte Präsident, sondern der Oberste Rechtsgelehrte. Er ist nicht demokratisch legitimiert, sondern wird gemäß Artikel 111 der iranischen Verfassung vom Expertenrat bestimmt, dessen Mitglieder erst nach einer genauen Überprüfung ihrer politisch-religiösen Linientreue der iranischen Bevölkerung zur Wahl gestellt werden.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Schlichtungsrat, dessen Mitglieder vom Obersten Rechtsgelehrten ins Amt berufen werden, um Konflikte zwischen Parlament und Wächterrat beizulegen. Blockiert der Wächterrat einen parlamentarischen Beschluss aufgrund mangelnder Konformität mit den islamischen Prinzipien oder verfassungsrechtlicher Widersprüche, so wird der Schlichtungsrat zunächst als Vermittler aktiv. Sofern keine Einigung erfolgt, überprüft der Schlichtungsrat den Beschluss anhand der genannten Maßstäbe und fällt ein rechtswirksames Urteil. Die demokratisch legitimierte Legislative ist somit nur handlungsfähig, wenn ihre Gesetzesentwürfe mit der religiösen Staatsdoktrin kongruieren. Eine ähnlich große Verzahnung ist im Bereich des Stiftungswesens zu sehen, diese ist jedoch weit informeller und weniger augenfällig.

Die Notwendigkeit einer islamischen Regierung ist unter schiitischen Gelehrten durchaus umstritten. Mohammad Shabestari (geb. 1936) argumentiert beispielsweise, im Koran finde sich nur die Aussage, dass die Herrschaft gerecht sein solle. Aber weiterführende Angaben, welche Regierungsform die beste sei, suche man dort vergebens. Khomeini begründet den Führungsanspruch der Rechtsgelehrten hingegen damit, dass das islamische Recht existiert und folglich auch zur Anwendung gebracht werden müsse.

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ist Professorin für Islamwissenschaft am Orientalischen Seminar der Universität zu Köln. Zuletzt erschien von ihr "Khomeini. Der Revolutionär des Islam" (2021).
E-Mail Link: katajun.amirpur@uni-koeln.de