Sehr geehrte Damen und Herren,
zur Vorbereitung dieser Tagung habe ich mir die Frage gestellt:
Was ist für mich persönlich eigentlich Demokratie?
Die Antwort fällt mir wider Erwarten nicht leicht. Der Demokratiebegriff ist schwer zu fassen. Das zeigt schon ein Blick in die Geschichte der Demokratieverständnisse. Aristoteles sprach von einer Demokratie, "wenn die armen Freien" – also die Vollbürger Athens, die nicht zu den "Reichen" und "Edlen" gehören – "als Majorität im Besitze der Herrschaft sind". Sklaven, Frauen und Auswärtige – wie Aristoteles selbst – gehörten also nicht dazu. Wahrscheinlich kein Wunder, dass Aristoteles die so verstandene Demokratie eher zu den "verfehlten" Herrschaftsformen zählte. Seinem Demokratieverständnis kann ich mich auch nicht unbedingt anschließen. Vielleicht bringt mich der weitere Gang durch die Geschichte der Demokratietheorien meinem persönlichen Demokratieverständnis ja etwas näher. Rousseau entwickelte deutlich später die Idee der Demokratie als radikale Volkssouveränität, in der die Bürger plebiszitär alle sie betreffenden Angelegenheiten selbst regeln. Auch Rousseau konnte sich allerdings nicht wirklich für die Demokratie als Staatsform erwärmen: Eine "so vollkommene Regierung passt für die Menschen nicht." Auch ich habe meine Zweifel, ob ein dauerndes Plebiszit ohne besondere Formen des Minderheitenschutzes meinem Verständnis einer guten Staatsform entspricht. Etwas näher komme ich diesem Verständnis ja vielleicht mit einem Blick auf die andere Seite des Atlantiks. Und tatsächlich: Die von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay zwischen 1787 und 1788 veröffentlichten Federalist Papers haben schon einiges, was für mich zur Demokratie dazugehört: Eine starke, auf Freiheit ausgerichtete Verfassung und repräsentative Elemente, die eine Rückbindung an das Volk garantieren. Doch vor allem die brutale und blühende Sklaverei und fehlende Mitbestimmungsrechte für Frauen trüben das Bild der jungen amerikanischen Demokratie doch wieder ziemlich ein.
Auch wenn die genannten historischen Beispiele meinem Demokratieverständnis nicht wirklich entsprechen, zeigen sie doch schon die Wandelbarkeit dessen, was als Demokratie verstanden werden kann. Die heutige Politikwissenschaft neigt bei der Beschreibung von Demokratie zu einem – wie Wolfgang Merkel es nennt – mittleren, prozeduralistischen Demokratiemodell: Zu freien Wahlen kommen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit als essentielle Bestandteile der Demokratie.
Das klingt etwas gestelzt, aber schon besser. Darunter kann man sich etwas vorstellen. Schaut man sich das an, was das Bundesverfassungsgericht mal als "freiheitliche demokratische Grundordnung" definiert hat, erfährt man Ähnliches: Wahlen und Abstimmungen, Gesetzbindung, Opposition, Ablösbarkeit der Regierung, unabhängige Gerichte, keine Gewalt- und Willkürherrschaft, Menschenrechte. Aber irgendwie befriedigt mich auch diese Definition nicht. Demokratie ist für mich mehr. Nicht nur Herrschaft, politisches System, Entscheidungsfindung. Nicht nur die ganz große Politik.
Demokratie ist für mich auch eine Einstellung. Ein Leitgedanke im Alltag. Eine Form der Verantwortlichkeit gegenüber den Mitmenschen. Und falls Sie den Eindruck erhalten, dass es jetzt mit mir und jetzt anfange selbst ins Religiöse abzudriften, hier noch die Klarstellung: Demokratie ist eben keine Religion, nicht dass Sie mich falsch verstehen! Mit letztgültigen Wahrheiten hat Demokratie nämlich überhaupt nichts zu tun.
Kurzum: Es ist komplizierter als man denkt.
Jenseits meiner persönlichen Überlegungen wird auch die vor uns liegende Fachtagung vermutlich keine allgemeingültige Lösung der Frage, was Demokratie nun eigentlich ist, hervorbringen. Daher auch der Plural im Titel: Es geht um Demokratieverständnisse, nicht um ein letztgültiges Verständnis von Demokratie. Die Tagung soll dazu anregen, eigene Demokratieverständnisse zu hinterfragen, neue Demokratieverständnisse kennenzulernen, um dann individuell die Titelfrage besser beantworten zu können: "Prävention wofür?"
Apropos Prävention: Die meisten von Ihnen kommen aus einem Arbeitsfeld, für dessen Beschreibung sich in den vergangenen Jahren die Begriffe Demokratieförderung und Extremismusprävention eingebürgert haben. Als Aufgabe wird Ihnen in der politischen Debatte vermittelt, die Entstehung von Handlungsweisen und Einstellungen, die sich gegen demokratische Grundsätze richten, zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Ihre Hintergründe sind dabei vielfältig. Manche sehen sich als Akteure der politischen Bildung, andere verorten sich eher in der sozialen Arbeit, der Beratung, sind Lehrerinnen oder Lehrer an unterschiedlichen Schularten, arbeiten in Sicherheitsbehörden oder in Behörden oder in der Wissenschaft.
Nun ist Prävention zweifellos wichtig. Die Demokratie in Deutschland und in anderen Ländern steht von verschiedenen Seiten unter Feuer: Von Antidemokraten, die sich als demokratisch verstehen und eine Systemalternative sein wollen ebenso wie von Antidemokraten, die die Demokratie offen ablehnen. Die Bürgerinnen und Bürger haben dafür ein feines Sensorium: 53 Prozent der Befragten sagten im September 2019 in einer repräsentativen Umfrage des Instituts YouGov, dass die Demokratie in Gefahr sei. Allgemein erfreut sich die Demokratie weiter einer hohen Zustimmung von 83 Prozent. Doch nur 54 Prozent der Befragten zeigten sich mit der Demokratie in Deutschland zufrieden.
Auch jenseits der Gefahren, die wir landläufig als extremistisch beschreiben, ist die Demokratie nicht mehr so unangefochten, wie wir manchmal glauben. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele aus der Sphäre der Wissenschaft nennen: Der amerikanische Politikwissenschaftler Jason Brennan legte vor zwei Jahren ein vieldiskutiertes Buch vor mit dem vielsagenden Titel: "Gegen Demokratie: Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen". Er argumentiert darin, dass die Demokratie ihre eigenen normativen Ansprüche nicht erfülle und bei der Bewältigung von Problemen nicht effizient genug arbeite. Die Demokratie könne soziale Ungleichheit nicht wirksam verhindern und es gebe in der breiten Bevölkerung kein Verständnis für politische Zusammenhänge. Über diese Diagnose kann man streiten, doch liegt Brennan damit zugegebenermaßen wahrscheinlich nicht ganz falsch. Nun macht er allerdings – wie man es vielleicht erwarten könnte – keine Vorschläge, wie man im Namen der gleichberechtigten Mitbestimmung und unabhängig von Bildungsgrad, Herkunft und sozialer Lage jeder Bürgerin und jedes Bürgers die Demokratie verbessern kann. Stattdessen wischt er zentrale Prinzipien der Demokratie beiseite und plädiert im Namen der Effizienz für ein nach politischem Wissen und Interesse gestuftes Verfahren der Mitbestimmung. Die von ihm so bezeichneten "Hooligans" und "Hobbits" – die Ahnungslosen, bisweilen Gefährlichen und die politischen Naivlinge – werden außen vorgelassen. Nur die "Vulkanier", die einen nicht näher spezifizierten Wissenstest erfolgreich bestanden haben, bestimmen, wer allgemeinverbindliche Entscheidungen treffen darf. Was ist schon das allgemeine und gleiche Wahlrecht angesichts der Möglichkeit einer effizienten Lösung von Problemen?
Als zweites Beispiel möchte ich einige Strömungen auf dem Feld des mir grundsätzlich sehr sympathischen Klimaschutzes anführen. So fragten schon vor einigen Jahren die beiden australischen Wissenschaftler David Shearman und Joseph Wayne Smith, ob es nicht sein könne, dass wir eine autoritäre Regierungsform benötigen, um den Konsens der Wissenschaft zu Treibhausgasemissionen zu implementieren. Die Zeit laufe uns davon, demokratische Entscheidungsfindung sei den gravierenden Gefahren nicht gewachsen. Auch andere haben sich in den vergangenen Jahren in dieser Richtung zu Wort gemeldet. Abgesehen davon, dass ein Volkswirtschaftler sich mal die Mühe gemacht hat, zu untersuchen, ob demokratische oder autoritäre Regierungen mehr für den Klimaschutz machen – das Ergebnis fällt zugunsten der Demokratien aus
Demokratie-Zweifler, die der Demokratie zu wenig Effizienz zuschreiben, und für schnelle andere Lösungen abseits langwieriger Verfahren plädieren, sind kein Phänomen, das nur unter vermeintlich abgedrehten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern existiert. Solche Haltungen finden sich quer durch alle Bevölkerungsschichten. Bedrohungen der Demokratie – ob nun aus einer Ideologie oder aus dem unbedingten Willen zur Effizienz erwachsen – sind vielfältig. Wir dürfen sie nicht unterschätzen und wir sollten sie bei unserer Arbeit berücksichtigen – auch aus präventiver Sicht. Dass politische Bildung und soziale Arbeit auch eine präventive Wirkung haben und eine Grundimmunität gegen extremistische und demokratieablehnende Einstellungen mit sich bringen können, steht außer Frage. Doch sollten wir den Fehler vermeiden, uns vom Gedanken der Prävention leiten zu lassen. Die andauernde Arbeit gegen etwas ist auf Dauer unbefriedigend. Und das merken auch die Rezipienten. Politische Bildung, soziale Arbeit und zivilgesellschaftliches Engagement dürfen sich nicht von einer Versicherheitlichung des Präventionsgedankens leiten lassen. Unsere Professionen wollen kein Wohlverhalten ohne Ecken und Kanten vermitteln. Wir wollen eine Hilfestellung geben, um demokratische Werte zu leben und sich reflektiert für die Demokratie einzusetzen. Aber eine demokratische Einstellung muss letztlich jeder und jede Einzelne selbst entwickeln. Wir unterstützen dabei, mündige Bürgerinnen und Bürger zu sein und wir bekennen uns klar zur Demokratie. Die einzigen unverrückbaren Bestandteile der Demokratie sind dabei die grundsätzliche Offenheit für Pluralismus und die Anerkennung des Anderen als Individuum.
Dabei kann es allerdings passieren, dass sich Menschen im Rahmen einer mündigen Entscheidung gegen diese Offenheit entscheiden. Gegen Pluralismus. Gegen die Anerkennung des anderen. Für eine geschlossene, für eine absolute, für eine autoritäre, für eine abwertende politische Haltung. Das ist gewissermaßen unser Betriebsrisiko. Das können wir kaum verhindern. Die jüngsten Wahlergebnisse und anderweitige Zeugnisse von Radikalisierungsprozessen zeigen, dass dieses Risiko groß ist. Das ist jedoch keine Einladung zum Fatalismus. Was wir positiv schaffen können und anstreben sollten, sind die Bedingungen der Möglichkeit einer mündigen Entscheidung. Das kann politische Bildung, das kann soziale Arbeit. Ohnehin sollten wir davon wegkommen, politische Bildung und soziale Arbeit als getrennte Sphären zu betrachten. Die politische Bildung braucht die Kompetenzen der sozialen Arbeit und die soziale Arbeit profitiert von der Perspektive der politischen Bildung. Als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung sage ich ganz klar: Wir suchen die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen aus der sozialen Arbeit. Politische Bildung kann sich nicht auf die althergebrachten – durchaus guten! – Formate und Zielgruppen verlassen. Wir müssen in Zeiten hoher gesellschaftlicher Differenzierung und Individualisierung auch Anschluss an neue Zielgruppen finden. Nicht, weil wir bei den Zielgruppen der sozialen Arbeit besondere Defizite ausmachen, sondern weil wir den Auftrag haben, unser Angebot allen zugänglich zu machen. Zugänglich nicht nur im Sinne einer theoretischen Möglichkeit, sondern im Sinne einer echten, niedrigschwelligen Teilhabemöglichkeit.
Nochmal zurück zur Anfangsfrage: Was ist Demokratie? Abgesehen vom Grundgedanken der Offenheit werde ich mich hier an keine allgemeine Definition wagen. Dafür gibt es kompetentere Personen, die auch im Programm der kommenden beiden Tage aufzufinden sind. Doch ich wage zu prophezeien: Auch deren Vorschläge werden nicht jeden und jede hier überzeugen. Und das ist auch gut so. Im Titelbild zu dieser Fachtagung finden Sie ein energisch hochgerecktes Plakat – allerding ohne Beschriftung. Das trifft den Zweck der Veranstaltung ganz gut: Demokratie lebt von der Debatte über ihren Inhalt. Diese Debatte zu führen und so die eigene berufliche Haltung zu reflektieren – ob nun im Feld der Prävention, der Demokratieförderung, der sozialen Arbeit, der politischen Bildung oder wo auch immer Sie sich verorten –, dafür sind Sie hier und dafür wünsche ich Ihnen konstruktive Streitlust und das Zulassen hoffentlich neuer Denkanstöße! Im beruflichen Alltag ist es wichtig zu wissen, wogegen man sich wendet. Doch es ist wahrscheinlich wichtiger, darüber nachzudenken, wofür man ist.
Einen Videomitschnitt der Eröffnungsrede von Thomas Krüger finden Sie