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Tagungsbericht: Prävention wofür? Demokratieverständnisse in politischer Bildung und sozialer Arbeit
24. - 25. September 2019 | Frankfurt am Main
Johannes Bluth
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Wie verliefen die Diskussionen? Gibt es einen Konsens über den Kern unterschiedlicher Demokratieverständnisse? Machen politische Bildung und soziale Arbeit überhaupt Prävention?
Demokratie ist ein umkämpfter Begriff. Gleichwohl ist er unabdingbar, wenn es darum geht, eine legitime politische Ordnung zu beschreiben. Viele Menschen, die in der politischen Bildung oder der sozialen Arbeit tätig sind, wissen um die Wichtigkeit einer demokratischen Haltung, vor allem im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Erwachsenen. Doch was macht Demokratie eigentlich aus? Was verstehen wir darunter? Wo wird der Begriff Demokratie vielleicht zur Hürde? Wo ist er argumentativ nicht ausgefüllt? Was muss getan werden, um die Demokratie in unserem alltäglichen Handeln zu verankern? Und wo scheitert die Demokratie an gelebten Realitäten? Fragezeichen, die sich auch im Titel der Fachtagung wiederfinden: „Prävention wofür? Demokratieverständnisse in politischer Bildung und sozialer Arbeit.“ In mehreren Impulsvorträgen und zahlreichen Workshops wurde diese Frage im Tagungsprogramm immer wieder aufgegriffen und bildete den inhaltlichen Rahmen für intensiven Austausch.
Teil 1: Was ist für mich eigentlich Demokratie?
Vorträge und Podiumsdiskussion
Mit eben jener Frage eröffnete der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, die Fachtagung in seinem Interner Link: Grußwort. Die Antwort sei ihm selbst nicht leicht gefallen, so Krüger. Ein erster Blick in die Demokratiegeschichte von Aristoteles bis Rousseau zeige, wie wandelbar das Konzept der Demokratie historisch stets gewesen sei. Doch freie Wahlen, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit … auf diesen unabänderlichen Grundpfeilern baue jede Demokratie auf, so Krüger. Aber sie sei auch mehr als ein politisches System, nämlich eine Einstellung, ein Leitgedanke im Alltag.
Nicht ohne Grund stehe der Titel der Tagung im Plural. Welche Demokratieverständnisse gibt es in politischer Bildung und sozialer Arbeit? Es gehe gar nicht darum, ein allgemein gültiges Konzept zu entwickeln. Vielmehr würden im Spannungsfeld von Demokratieförderung und Extremismusprävention praxistaugliche Lösungen dringend gebraucht.
Demokratische Haltung mit Ecken und Kanten Denn dass die Demokratie 2019 in Gefahr ist, sehen laut einer aktuellen Umfrage des Institut YouGov 53 Prozent der Befragten so. Krüger stellte aber klar, dass politische Bildung nicht als Erziehung zum Wohlverhalten missverstanden werden dürfe. Eine demokratische Haltung könne und solle auch Ecken und Kanten haben. Prävention müsse daher auch jenseits sicherheitsbehördlicher Perspektiven stattfinden.
Ziel sei es letztlich, jedem Menschen die Möglichkeit zu geben, eine mündige Entscheidung zu treffen. Wohl wissend, dass diese auch gegen die Demokratie fallen kann. Ebenso wichtig sei es daher, in Zeiten großer Individualisierung und Differenzierung neue Zielgruppen anzusprechen und sich nicht auf die bekannten Formate zu verlassen, sagte Krüger zum Abschluss.
In ihren anschließenden Eröffnungsvorträgen unter dem gemeinsamen Titel Interner Link: "Demokratieverständisse - Was ist Demokratie und was kann sie sein?" stellten Claudia Gatzka (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) und Manfred G. Schmidt (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) ein praktisches Panorama der modernen Demokratiegeschichte vor.
Claudia Gatzka: Die großen Erwartungen und Enttäuschungen der Demokratie In ihren Forschungen beschäftigt sich Gatzka – in ihren eigenen Worten – mit dem sogenannten "kleinen Mann", also den vorherrschenden Demokratieverständnissen an der Basis der Gesellschaft. Aus dieser Perspektive sei Demokratie zunächst als eine Methode zu verstehen, nicht als eine Weltanschauung. Dies werde oft falsch verstanden. Sie verwies dabei auf den österreichischen Rechtstheoretiker Hans Kelsen, für den die Demokratie "der Missbrauchteste aller Begriffe" gewesen sei. Gatzka führte die Debatte über den Umgang mit der AfD als gutes, aktuelles Beispiel an. Wie geht man eigentlich wirklich demokratisch mit den Mitgliedern und Positionen der AfD um? Indem man deren Integration in den politischen Diskurs ermöglicht? Oder indem man sie davon ausschließt und als anti-demokratisch ablehnt? Laut Gatzka entscheide sich genau hier die Frage, ob es in der Demokratie nur auf die Form, also die Einhaltung von Gesetzen, oder auch auf den Inhalt, also das Bekenntnis zu einer demokratischen Haltung, ankommt.
Ein Rahmen für Teilhabe und Volksherrschaft Historisch gesehen sei das rein formelle Demokratieverständnis meist der Regelfall gewesen. Nur so konnte es in der ältesten Demokratie der Welt – den USA – Sklaverei und Rassentrennung geben. Nur so konnte Frauen in der Schweiz bis in die 1970er Jahre das Wahlrecht verwehrt werden. Gatzka betonte weiter, dass Demokratie und Nationalismus historisch stets zusammen gehörten. Die Volkssouveränität berufe sich meist auf die Nation, was zum Beispiel den Ausschluss von Minderheiten aus demokratischen Prozessen möglich machte. Besonders der republikanische Nationalismus in Frankreich zeige diese unwiderrufliche Verschränkung von Demokratie und Nation noch heute. Wenig vielversprechend sei es daher, Demokratie als reinen Wertekanon zu begreifen, sondern eher als einen Rahmen, um Teilhabe und Volksherrschaft auszuhandeln. Die Demokratie als Staatsform habe schon immer die Bürde gehabt, große Erwartungen zu wecken und diese zu enttäuschen, sagte Gatzka.
Demokratisierung mit Coca-Cola und den Rolling Stones Als Besonderheit der deutschen Nachkriegsdemokratie nannte Gatzka den geübten Umgang mit Demokratiefeinden. Schwer NS-belastete Deutsche hätten im Staatsschutz und der Politik der Bonner Republik erneut Karriere machen können und so zum Anschein einer äußerlich stabilen bundesrepublikanischen Gesellschaft beigetragen. Die Forschung sehe allerdings die reale Demokratisierung eher bei Coca-Cola und den Rolling Stones als Elemente einer neuen, auf Einvernehmlichkeit beruhenden Alltagskultur. Gatzka macht allerdings auch klar, dass Westdeutsche das Objekt einer Demokratieerziehung durch Allierte und den Staat gewesen seien – ein Experiment, das bis heute auf Demokratievorstellungen nachwirke. Abschließend mahnte Gatzka einen kritischen, historisch geschulten Umgang mit Demokratie an und plädierte für die Kultur des offenen Streits als zentrale Wertvorstellung.
Manfred G. Schmidt: Der Minimalkonsens der Demokratie Manfred G. Schmidt konzentrierte sich in seinem anschließenden Vortrag auf den rechtsstaatlichen und konstitutionellen Kern der Demokratie. Die Volksherrschaft sei, so Schmidt, zunächst das absolut zentrale Charakteristikum einer jeden Demokratie. Doch schon Aristoteles habe dies kritisch gesehen, denn für ihn führte die „Herrschaft der Vielen“ dazu, dass die Menschen nur ihren eigenen Nutzen maximierten. Auch Platon sah die Demokratie als „Mängelherrschaft“. Von Abraham Lincoln stammt hingegen der berühmte Passus: „Government of the people, by the people and for the people“. Davon sei die reale Welt allerdings weit entfernt, wie Schmidt betonte. Einigen könne man sich schon eher auf die viel zitierte These Winston Churchills, die Demokratie sei schlecht, aber immer noch besser als alle anderen Staatsformen. Im Folgenden fächerte Schmidt dann die verschiedenen Formen demokratischer Staatsformen detailliert auf.
Bessere politische Steuerung und ergebnisgleiche Demokratie Als Schwerpunkt seines Vortrags wählte Schmidt die deutsche Demokratie als parlamentarischen Bundesstaat. Positiv zu bewerten sei laut dem weltweit führenden Demokratieindex des V-DEM-Instituts in Göteborg vor allem die Akzeptanz von Machtwechseln durch Wahlverlierer. Mängel zeigten sich hingegen bei der verschachtelten Struktur der Entscheidungsfindungen, durch welche die deutsche Politik oft als langsam und unentschlossen wahrgenommen werde. Diese Unentschiedenheit bezeichnete Schmidt als Steuerungsmangel in der Politik. Die in Deutschland traditionell sehr große Unzufriedenheit mit der Demokratie sei unter anderem auf diese Entscheidungsschwäche zurück zu führen. Erkennen könne man dies zum Beispiel am erheblichen Nichtwähleranteil in Deutschland. Auch den Souveränitätsverlust an die EU beklagte Schmidt als großes Problem, was im Plenum durchaus kritisch gesehen wurde.
Am Ende seines Vortrags forderte Schmidt, Komplexität zu reduzieren, Beteiligung auszubauen und mehr Deliberation und Beratschlagung im politischen Prozess zu ermöglichen. Gerade eine bessere politische Steuerung, die frühzeitig, schnell und entschlossen agiere, favorisierte Schmidt. Ebenso wie materielle Ergebnisgleichheit, also dass alle Menschen von demokratischen Errungenschaften gleichermaßen profitierten. Das wäre liberal, direkt, sozial - jenes Demokratiemodell also, was auch Europas Bürgerinnen und Bürger laut Studien bevorzugten.
In der Diskussion: Intellektuelle Parteiendiskurse und fehlende Werte In der anschließenden Diskussion wurde die Frage gestellt, ob Parteien angesichts hoher Mitgliederverluste heute überhaupt noch als "organisierter Bürgerwille" zu bezeichnen seien. Gatzka verneinte und beklagte, dass Parteien sich zu einem Privileg der Hochgebildeten entwickelt hätten. Denn "einfache Leute" seien seit den 1970ern durch zunehmend intellektuelle Diskurse aus den Parteien gedrängt worden. Die Demokratie habe das in eine tiefe Krise geführt, denn die Wohlstandserwartung des 20. Jahrhunderts gelte heute nicht mehr und Weniger-Privilegierte haben die Demokratie als wirksames Instrument schon lange aus dem Blick verloren.
Die Demokratie sei zudem mit einer Verfahrenslogik behaftet, eine Diskussion um Werte finde kaum mehr statt, so Gatzka. Hier klinkten sich Parteien wie die AfD ein und zwar mit klar antidemokratischen Haltungen. Gatzka kritisierte den Umgang mit der Partei, denn man könne AfD-Wähler nicht ausbürgern und ihnen die Meinungsfreiheit verbieten, gerade das Nicht-Miteinander-Reden sei ja problematisch. Thomas Krüger, Präsident der bpb, pflichtete Gatzka aus dem Plenum bei: Die Exklusion der AfD sei falsch, denn sie greife genau die Logik der Partei auf, die auch bestimmte Menschen ausschließen will.
Der Mythos der Partizipation und direkte Demokratie in den Sozialen Medien Was aber tun gegen den Vertrauensverlust in die Demokratie? Schmidt sprach sich hier für mehr direkte Demokratie aus, um das Gefühl politischer Wirksamkeit zu schaffen. Gatzka sah das skeptisch: Es werde zu viel Beteiligung von den Menschen erwartet. Wir lebten nun mal in einer Gesellschaft, in der nicht alle Menschen partizipieren wollen und das sei in Ordnung. Demokratien lebten auch davon, dass manche sich mehr engagieren als andere – nur die soziale Schieflage mache das zum Problem. Wie die langsame Demokratie besser auf schnelle soziale Medien reagieren könnte, wurde ebenfalls diskutiert. Gatzka schlug vor, die deliberative Demokratie in die sozialen Medien zu bringen, beispielsweise indem Ausschüsse ihre Beratungen direkt über Twitter kommunizieren und so Transparenz schaffen.
Podiumsdiskussion: Was können wir wollen? Leitbilder in der Prävention
Zum Abschluss des Tages im Plenum bot eine Podiumsdiskussion die Möglichkeit, das inhaltliche Profil der Tagung für die bevorstehende Workshop-Phase in der gemeinsamen Diskussion zu schärfen. Silke Baer vom Verein Cultures Interactive, der sich auf der Schnittstelle zwischen politischer Bildung und sozialer Arbeit bewegt, stellte zu Beginn die Frage, wie man eigentlich Demokratiefan wird, wenn man die Vorzüge nicht sehen kann und niemanden kennt, der politischen Einfluss hat? Thomas Krüger antwortete darauf, dass es das höchstes Ziel politischer Bildung sein müsse, Kontroversität zu schaffen und vor allem keine Erziehung zum politischen Mainstream anzustreben. Common Sense und Streit seien gleich wichtig, betonte Manfred Schmidt. Er betonte das feste Fundament der deutschen Demokratie, auch weil es immer gelungen sei, insbesondere in der Bürokratie auch zweifelhafte Demokraten einzubinden; jedoch nur durch Integrationsnarrative, wie Claudia Gatzka erwiderte. Krüger fügte hier noch hinzu, dass das viel zitierte Narrativ des Wirtschaftswunders ein Mythos sei und es keine grundsätzliche Kopplung von Wohlstand und Demokratie gebe.
Pädagogischen Kontrollverlust in Kauf nehmen Aus historischer Perspektive sei es laut Gatzka ein Erfolgsrezept, Wähler als politische Subjekte ernst zu nehmen, zum Beispiel durch direkten Austausch von Bürgerinnen und Bürgern mit der Politik – ein Fundament der westdeutschen Demokratie. Auch Baer sprach über Techniken der Gesprächskultur und narrative Gesprächsgruppen – das ermögliche in der heutigen, praktischen Arbeit mehr Konstruktivität. Krüger sprach davon, einen Kontrollverlust in Kauf zu nehmen und Bildungspartnern mehr Raum zur Entfaltung zu geben. Es gehe nicht darum, das eigene Wissen in den Vordergrund zu stellen, sondern Meinungen von Menschen zum Beispiel im ländlichen Raum ernst gemeintes Gehör zu schenken. Auch gebe es in Deutschland genug Menschen, die sich aktiv demokratisch beteiligen möchten, aber beispielsweise gar keine Staatsbürger und somit nicht wahlberechtigt sind.
Beteiligungsmöglichkeiten in Kommunen ausbauen Krüger sprach noch ein weiteres Arbeitsfeld an: Bildungsbenachteiligte glaubten den politischen Instanzen nicht, ihnen fehle das Vertrauen. Was sie aber haben, seien glaubwürdige Peers, quasi Influencer im sozialen Feld. Hier sei es eine Aufgabe, Strategien der Ansprache zu finden und gemeinsame Kanäle zu bauen, um Menschen direkt anzusprechen. Und wenn es keine Beteiligungsmöglichkeiten in Kommunen gebe, dann müsse daran gearbeitet werden. Wie zum Beispiel in Schleswig-Holstein: Dort müssen laut Gesetz immer auch die Kinder gefragt werden, wenn neue Spielplätze gebaut werden. Baer wandte ein, dass die Widerstände gegen jegliche Form der Ansprache teilweise sehr groß seien, dazu komme bei vielen Menschen eine empfundene institutionelle Demütigung.
Aus dem Plenum: Gibt es Tabuthemen im demokratischen Diskurs? Aus dem Publikum wurde die Frage laut, ob es in Deutschland bestimmte Themen und Diskurse gebe, zu denen nicht mehr alles gesagt werden dürfe. Gatzka verwies zunächst darauf, dass in Deutschland nie besonders leidenschaftlich demokratisch gestritten wurde. In der Forschung sei eine deutsche Tradition des Beschweigens und Nicht-Verarbeitens beobachtbar. Krüger merkte dazu an, dass es in der DDR gängige Meinung gewesen sei, der Holocaust sei durch den inhärenten Antifaschismus der DDR bereits aufgearbeitet worden. Baer zeigte sich besorgt, dass sich im Kontrast zu einer empfundenen Tabuisierung auch die Grenzen des Sagbaren verschieben könnten: "Volksgemeinschaft" sei auf einmal wieder ein Begriff, der gesagt werden dürfe. Trotzdem – so Krüger – gebe es heute schneller Widerspruch, weil die Gesellschaft emanzipierter und diversifizierter geworden sei. Man müsse letztendlich den Menschen die Angst vor dem Widerspruch nehmen und unterschiedliche Meinungen akzeptieren lernen, so das Plädoyer am Ende der Diskussion.
Teil 2: Demokratietheorie
Impulsvorträge
Am Nachmittag fanden daraufhin unterschiedliche Impulsvorträge in kleineren Gruppen parallel statt. Die Teilnehmenden konnten so ihre Demokratieverständnisse in einem persönlichen Rahmen weiter vertiefen und erörtern. Aufgrund der Fülle von Angeboten sind im Rahmen dieses Berichts nur Impressionen aus einzelnen Impulsvorträgen und den anschließenden Diskussionen wiedergegeben.
Warum sollte man sich mit nicht-westlichen Demokratieverständnissen befassen und welchen Gewinn bringt diese (zuerst einmal offene, wertfreie und nicht-normative) Auseinandersetzung für ein komparativ angelegtes Nachdenken über Demokratiekonzepte? Diese Frage beantwortete Alexander Weiß (Leuphana Universität Lüneburg) mit deren großer Varianz – im Westen und umso mehr mit einer globalen Perspektive. Wenig sei historisch über demokratische Praktiken in der Geschichte des politischen Systems in Indien bekannt, kaum erforscht die Rolle demokratischer Lebensformen bei der Frage, was in Afrika unter einem guten Leben verstanden wird.
Der Liberalismus westlich-europäischer Prägung – so Weiß – werde gemeinhin als Ideal einer demokratischen Staatsform wahrgenommen. Trotzdem komme es innerhalb dieser Gesellschaften auch zu überraschenden gewalttätigen Entwicklungen, wie zum Beispiel den Gelbwesten-Protesten in Frankreich. Für Weiß der Anlass, sich mit gelebter Demokratiepraxis außerhalb Europas zu beschäftigen, die von der Gewaltfreiheit als zentralem Wert ausgeht. Skepsis gegenüber europäischem Demokratieverständnis Ein erster Schritt sei dabei, sich von einem idealtypischen Konzept der Demokratie zu lösen. Lange bevor die alten Griechen die Demokratie als Wort prägten, habe es bereits – aus heutiger Sicht – demokratische Praktiken in Asien gegeben. Auch heute kämen global viele Gesellschaften ohne die Referenz zur Demokratie (im westlichen Sinne) aus, können dabei trotzdem demokratische Elemente aufweisen und Demokratieverständnisse entwickelt haben. Weiß erläuterte dazu Beispiele aus Myanmar und Japan, wo demokratische Prinzipien als bewusste Alternative zu eurozentristischen Demokratiemodellen aus der buddhistischen Morallehre abgeleitet wurden. Ein globaler Diskurs über Demokratie sei seit etwa 200 Jahren beobachtbar, genauso wie eine Skepsis gegenüber einem europäischem Demokratieverständnis.
Extremist sein und sich für demokratisch halten – geht das? Uwe Backes versuchte in seinem Vortrag, Gemeinsamkeiten von Demokratiekonzepten mit totalitärer Tendenz herauszustellen. So sei die Identität, also die Übereinstimmung von Regierenden und Regierten das Ideal rechtsextremer, linksextremer und religiös-extremistisch begründeter Demokratievorstellungen. Es gehe letztlich um homogenisierende Gemeinschaftskonzepte: Volksgemeinschaft, klassenlose Gesellschaft, Gemeinschaft der Gläubigen – für Backes Begriffe auf einer Ebene, die auf eine Totalkritik am "Westen" oder der "Bürgerlichen Demokratie" herausliefen. Eine Gemeinsamkeit von Linksextremismus und Islamismus sah Backes in der Definition von Gemeinschaft: Jeder könne prinzipiell Teil davon werden, während der Rechtsextremismus ethnische Zugehörigkeit voraussetze.
Extremismus der Mitte als logischer Fehler? Kritisch wurde in der Diskussion die Theorie des politischen Extremismus aufgenommen, welche Backes in seinen Forschungen maßgeblich geprägt hat. Was sei schließlich mit der Mitte der Gesellschaft? Auch dort gebe es extremistische Demokratieverständnisse und abwertende Haltungen, wie eine Teilnehmerin bemerkte. Backes reklamierte den Unterschied zwischen politischen Theorien und sozialen Positionen und bezeichnete beispielsweise die Vorstellung eines Extremismus der Mitte als logischen Fehler, da seine eigene Extremismustheorie sich gar nicht auf eine Mitte beziehe, sondern Aussagen über politische Ideologien und nicht über soziale Phänomene treffe. Gleichwohl regten sich im Plenum kritische Stimmen: Die Mitte definiere schließlich, was sagbar sei und erschaffe somit ein Normalitätsdispositiv, das kritisch hinterfragt werden müsse und große Bedeutung für die Praxis der politischen Bildung habe. Träger gerieten unter Verdacht, nicht nur während der Anwendung der Extremismusklausel von 2010 bis 2014.
Abschließend wurde Backes um eine Einschätzung darüber gebeten, ob sich die AfD auf dem Weg zu einem totalitären Demokratieverständnis befindet. Er bejahte dies, es sei seit 2015 beobachtbar, dass die Partei in Teilen rechtsextrem werde, was aber noch keine Aussage über die sozialen Schichten der AfD-Wähler zulasse. Hier müsse genau unterschieden werden, um nicht politische Ideologie mit sozialer Zugehörigkeit zu vermischen.
Teil 3: Demokratiepraxis
Workshops
Nach der ersten, eher theoretisch ausgelegten Kleingruppen-Phase mit Impulsvorträgen ging es am zweiten Tag direkt in die Demokratiepraxis. Hier konnten die Teilnehmenden konkrete Beispiele kennenlernen und wichtige Impulse für ihre tägliche Arbeit gewinnen. Geleitet wurden die Workshops von ausgewiesenen Praktikerinnen und Praktikern aus politischer Bildung und sozialer Arbeit. Ausgewählte Schlaglichter aus zwei Workshops sind in diesem Bericht zusammengefasst.
Workshop 1: Nur Konfliktfreiheit oder ein demokratisches Leitbild? Demokratie als Zielvorstellung in der sozialen Arbeit? Zu Beginn dieses Workshops machten Kai Dietrich (AGJF Sachsen) und Tobias Burdukat (Förderverein für Jugendkultur und Zwischenmenschlichkeit) deutlich, dass die Begriffe Links und Rechts für die Praxis ihrer sozialen Arbeit eigentlich nicht hilfreich seien. Es brauche vielmehr eine Übersetzung der Begriffe in tägliches Handeln. Wie schafft man es in der offenen Kinder- und Jugendarbeit, im Streetwork und in der aufsuchenden Arbeit, eine demokratische Haltung zu zeigen? Denn meist seien Konfliktfreiheit und Lebensbewältigung schon eine Minimalebene, über die man sich freuen könne. Auch habe das Studium der sozialen Arbeit wenig politische Anteile, zum Beispiel lerne man wenig über Rassismustheorien. Demgegenüber müsse die Soziale Arbeit mehr als Menschenrechtsprofession verstanden werden, die eine bewusste Suche nach dem Konflikt, nach der Machtfrage integriert und auf die Einbettung der Jugendlichen in ihre jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte achtet.
Karsten Lucke (Europahaus Marienberg) und Georges Wagner (Demokratie-Coach und Mediator) führten den Workshop im Stile eines rhetorischen Trainings zum persönlichen Demokratiebekenntnis der Teilnehmenden durch. Folgendes dystopisches Szenario bildete dabei den Ausgangspunkt: Das Grundgesetz wird im Jahr 2025 aufgelöst und durch eine Art anarchischen Zustand ersetzt. Großformatige Zeichnungen und Visualisierungen wurden durch die Teilnehmenden angefertigt und ausgehängt. Ziel war es dabei, eine Reflektion auszulösen: Über die Gegenwart – also das, was man hat – und das Bewusstsein, dies nicht als selbstverständlich zu betrachten.
In einem zweiten Praxiselement führten die Teilnehmenden eine Modenschau der Demokratie auf. Jede Gruppe verkleidete ein Demokratie-Supermodel mit farbigen, beschriebenen Karten und Slogans wie "Ich lese, was ich will", "Ich reise, wohin ich will", oder "Politik ist mir egal". Damit wurden demokratische Grundrechte alltagstauglich formuliert. Trotzdem blieb Gesprächsbedarf: Wie ließe sich beispielsweise das Grundrecht "Die Würde des Menschen ist unantastbar" konkret begründen, ohne plakativ zu sein.
Die Teilnehmenden jedenfalls nahmen die Methoden gut auf und sagten, diese geben ihnen Hoffnung für die praktische Arbeit. Die Angst vor einem Demokratieverlust sprachen mehrere Teilnehmende an. Umso wichtiger werde es, Grundrechte auf persönlicher Ebene zu besprechen und ein positives Gegenbild zu schaffen. Die Arbeit mit der szenischen Darstellung habe sich hier in der Praxis als besonders vielversprechend erwiesen, sagte Wagner – eine Tatsache, die auch im Workshop deutlich wurde.
Zum Abschluss und im Hinblick auf die inhaltliche Zusammenführung der Tagungsthemen hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, entstandene Fragen, Unwägbarkeiten und Handlungsempfehlungen im Format parallel stattfindender Demokratielabore zu testen.
Workshopleiter Demokrat Ramadani stellte zu Beginn direkt die entsprechend offensichtliche Frage: Was ist eigentlich ein Demokratielabor? Diese Frage beantwortete er zunächst nicht explizit, sondern ließ es die Teilnehmenden anhand dreier Oberfragen selbst erfahren:
Was ist Demokratie?
Wodurch wird Demokratie gefährdet?
Was bedeutet das für die Praxis der Präventionsarbeit?
Die erste Frage wurde im Workshop anhand wiederum dreier Dimensionen der Demokratie durchgespielt:
Regierungsform (Staat)
Gesellschaftsform (Mitbestimmung und Partizipation)
Lebensform (Persönliches Umfeld)
In Zweiergesprächen arbeiteten die Teilnehmenden persönliche Einstellungen heraus und ordneten sie den Kategorien zu. Auf diese Weise wurde ein kollektives Meinungsbild erzeugt, das anschließend rege diskutiert werden konnte.
Vor allem die Lehrerausbildung an Hochschulen wurde kritisch gesehen: Die Auseinandersetzung mit demokratischen Grundeinstellungen gehöre ins Curriculum eines jeden angehenden Pädagogen. Nur so könnten Lehrerinnen und Lehrer auch politische Verantwortung übernehmen. Oft werde dies aber den Praktikerinnen und Praktikern der sozialen Arbeit in prekären Arbeitsverhältnissen überlassen.
Immer wieder deutlich wurde, wie unscharf der Begriff der Präventionsarbeit von den meisten Teilnehmenden gesehen wurde. Hier brauche es einen Austausch über Begrifflichkeiten, eine Sprachsensibilität, die auch Machtverhältnisse in der Präventionsarbeit adäquat abbilde. Eine sicherheitsbehördliche Logik, die kurzfristige Effekte und schnelle Korrekturen anstrebt, könne nicht der pädagogischen Praxis übergestülpt werden, kritisierte eine Teilnehmerin. Bildungsangebote bräuchten immer ihre Zeit und langfristige Auswirkungen seien ohnehin viel effektiver, um Einstellungen wirklich zu ändern. Auch ein Neutralitätsgebot wurde von den Teilnehmenden als schwammig benannt, es sei in der sozialarbeiterischen Praxis schwer umzusetzen. Tatsächlich gibt es in der politischen Bildung aber lediglich ein Kontroversitätsgebot, das in der Praxis mitunter als Zwang missverstanden wird, neutral zu bleiben. Die befristete Projektarbeit wurde zudem als Hindernis für Demokratieförderung identifiziert, stabile Erfolge seien nur mit ebenso stabiler Finanzierung überhaupt denkbar.
Auswertung: Die Laborergebnisse Bei der Vorstellung der Laborergebnisse aus den verschiedenen Gruppen kristallisierte sich heraus, dass Prävention für die meisten Teilnehmenden zu einem Problembegriff geworden ist. Vor allem die Abstimmung darüber, was sekundäre und tertiäre Prävention konkret bedeute, sei immer unklarer geworden.
Was ist eine Gefährdung der Demokratie? Und wer definiert die Gefahr? Auch dies waren Fragen, die sich viele Teilnehme stellten. Schon der Begriff Demokratie sei nicht klar definierbar, dazu kommen unterschiedliche Verhältnisse innerhalb Deutschlands, die berücksichtigt werden sollten, so die Meinung. Ein Pluralismus an Demokratieverständnissen sei an sich gut und demokratietheoretisch sinnvoll. Aber ohne die Verständigung auf einen demokratischen Kern bleibe der Begriff Demokratie belanglos, so der Tenor aus den Laboren.
Die Unterschiede zwischen formalem und inhaltlichem Demokratieverständnis taten sich zudem im Verlauf der Tagung als hochrelevant für die praktische Arbeit hervor. Mehrfach geäußert wurde darüber hinaus der Wunsch, die Demokratieförderung per Gesetz konstitutionell zu verankern. Der Vorteil: Es wäre ein stichhaltigeres Argument zur Verteidigung demokratischer Werte. Dass diese auf der Straße gerade erlebbar seien, zeige sich nicht zuletzt an Bewegungen wie Fridays for Future, die es auch geschafft hätten, neue Beteiligungsräume, insbesondere für Kinder und Jugendliche, zu ermöglichen.
Fazit
Es bleibt beim Plural: Demokratieverständnisse sollen und müssen vielfältig sein. Sie einzuengen verhindert Partizipation und macht die Demokratie langfristig zu einem Elitenprojekt. So könnte wohl ein Konsens der Tagung lauten. Viel deutlicher wurde allerdings, dass die Demokratie abseits eines Minimalkonsenses immer der aktiven Gestaltung von Demokratinnen und Demokraten bedarf. Vor allem, weil dieser Raum sonst schnell auch von antidemokratische Haltungen ausfüllt werden kann. Prävention ist in diesem Sinne also als ein aktives, positives Brückenbauen zu verstehen. So kann sie viel eher zu wirklicher demokratischer Geisteshaltung beitragen, als wenn sie "Gefährdern" der Demokratie ein vermeintliches Bekenntnis zur Volksherrschaft entlocken will.
Johannes Bluth arbeitet als freier Journalist, vorrangig im Bereich Kultur und Film. Er veröffentlicht regelmäßig u. a. bei Spiegel Online und der taz. Während des Studiums war er im Fachbereich Extremismus der Bundeszentrale für politische Bildung tätig und hat seitdem zahlreiche Fachtagungen dokumentiert.
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