Politische Gewalt sei, wie Kraushaar anschaulich aufzeigte, kein Phänomen der Gegenwart, sondern in allen Abschnitten bundesrepublikanischer Geschichte gegenwärtig gewesen. Zwar sei sie während der ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik als politisches Instrument so verpönt gewesen, dass selbst ihre Propagierung den Ruf jeder politischen Vereinigung ruiniert hätte. In Form aggressiver Zusammenstöße von Demonstranten und Polizei sei es aber dennoch schon in dieser Zeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Staat gekommen. Allerdings, so der Politikwissenschaftler, ließen sich diese Ereignisse eher als Indiz für die repressive Grundeinstellung der staatlichen Ordnungskräfte werten, als für eine Gewaltbereitschaft der Demonstrierenden. Auslöser sei die Grundhaltung der frühen Adenauerjahre gewesen und der Versuch alle linken und vermeintlich kommunistischen Gruppierungen schon an der bloßen Ausübung ihres Demonstrationsrechtes zu hindern. Völlig klar sei dennoch: die Bundesrepublik sei von Anfang an ein Rechts- und kein Polizeistaat gewesen.
Als ein weiteres frühes Phänomen gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen bezeichnete er die sogenannten "Halbstarkenkrawalle" in den späten 1950er-Jahren.
Im Zentrum der 68er-Mythologie stand die Militanz
"Urszene" der gesamten 68er-Bewegung sei nach wie vor der 2. Juni 1967, genauer: der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der während der Demonstration gegen den Shah-Besuch in Berlin erschossen wurde und der maßgeblich zur Verschärfung der Studentenrevolten beitrug. Dieses "Narrativ" habe jedoch einen "Haken": denn geplant gewesen sei an diesem Tag ein Attentat auf den Shah von Persien, das erst kurz vor seiner Durchführung von Vertretern der Konföderation Iranischer Studenten und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) abgesagt worden sei. Der involvierte Vertreter des SDS sei niemand anderes als Rudi Dutschke gewesen, der später mehrfach öffentlich bedauert habe, dass das Attentat misslungen sei. Generell habe Dutschke eine "ausgesprochene" Affinität zu gewalttätigen Aktionen gehabt, auch sei er der Erste im Umfeld des SDS gewesen, der die Stichworte "Stadtguerilla" und "Sabotageguerilla" in die Diskussion eingebracht habe. Eine Beteiligung an der später gegründeten RAF – daran erinnerte Kraushaar – habe Dutschke aus politischen Gründen jedoch vehement abgelehnt.
Zur anfänglichen Verwunderung einiger Teilnehmer sparte Kraushaar die Geschichte der RAF aus seinen Überlegungen zur politischen Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik aus: Hier gelte es nämlich zwischen politisch motivierter Gewalt und terroristischem Handeln zu unterschieden, betonte der Politikwissenschaftler: Terroristische Aktionen seien in der Regel geplant und vorbereitet. Ganz anders agiere politische Gewalt aus einem laufenden Prozess heraus, entstehe aus dem Öffentlichen.
Große Bedeutung maß Kraushaar der "Selbstinszenierung" innerhalb der 68er-Bewegung bei: Bedeutende Wortführer innerhalb des SDS – den Kraushaar "den alles überragenden Motor der 68er" nannte – seien große Fans des Italo-Westerns gewesen. Der gemeinsame Besuch von Vorstellungen neuer Filme des Genres hätte den Charakter von Kultveranstaltungen gehabt, was die Sehnsucht nach einer neuen Mythologie verraten habe. Erlebt wurde diese Mythologie durch die Abgrenzung zum "normalen Bundesbürger, etwa durch die Kleidung. In ihrem Zentrum aber habe die Militanz gestanden.
"Gewalt war das insgeheime Magnetfeld der 68er"
Gewalt sei für die 68er das logische Mittel gewesen, sich vom Objekt der Gewalt zum Subjekt der Gewalt zu emanzipieren. Zudem hätten gewalttätige Aktionen Sex-Appeal besessen, denn anders als über gewaltlose Aktionen, wurde über diese berichtet.
Da Kraushaar, wie schon angemerkt, den Terrorismus der RAF und vergleichbarer Vereinigungen bewusst ausklammerte, sprang er anschließend zu den Gruppen "gewaltaffiner Hausbesetzer" der siebziger Jahre, die indirekt ein Produkt der Frankfurter Sponti-Szene gewesen seien und deren aktionistischer Flügel. Ihren Kern habe die so genannte "Putztruppe" um den späteren Bundesaußenminister Joschka Fischer gebildet: eine "hochmotivierte Kampftruppe", die sich die Freiheit zu militanten Aktionen nahm, sich geplant spontan gab, in Wahrheit jedoch zumindest so organisiert war, dass Auseinandersetzungen mit der Polizei vor Protestaktionen trainiert wurden. Die Wirkung der Putztruppe sei so hoch gewesen, dass durch ihre Aktionen eine partielle Militarisierung der Szene ausgegangen sei.
Der "Schwarze Block" der zumindest als Bezeichnung für vermummte und gewaltbereite Demonstranten bis heute geläufig ist, sei dann mit Beginn der 1980er-Jahre entstanden. Erstmals Erwähnung habe er gefunden, nachdem eine Gruppe junger Leute am 1. Mai 1980 in der Frankfurter Innenstand randalierte. Kraushaar betonte jedoch, dass die wie reiner Vandalismus wirkende Aktion eine Form des sozialen Protests darstellen sollte, richtete sich die Gewalt doch primär gegen Feinkostgeschäfte.
Diese Entwicklung habe sich fortgesetzt bis zum 2. November 1987, als, bei Protesten gegen die damals neu errichtete Startbahn West am Frankfurter Flughafen, ein Vermummter zwei Polizisten tötete. Dieses Ereignis habe eine Zäsur dargestellt. Joschka Fischer, so zitierte Kraushaar, habe damals sogar das Ende "der Zeit der sozialen Bewegungen" gesehen.
Warum Gewalt?
Kraushaar stellte zum Abschluss unterschiedliche Motivationen für den Einsatz von Gewalt dar. Neben dem zweckrationalen Einsatz, also dem Einsatz zur Durchsetzung eigener Interessen, und dem wertrationalen Einsatz, also dem Einsatz einem normativen Gebot folgend, gebe es ein drittes, ein subjektiv handelndes Gewalthandeln, in der Gewalt zum reinen Selbstzweck geworden sei und keinem bestimmten Zweck unterliege. Den Akteuren dieser Art Gewalt sei es, so Kraushaar, häufig egal, welche Opfer ihr Handeln kostete.
Mai-Krawalle – ist das noch politisch motiviert?
Während der mittlerweile jährlich wiederkehrenden Ausschreitungen zum 1. Mai, hauptsächlich in Berlin und Hamburg, habe sich innerhalb der vergangenen Jahre in der radikalen Linken ein Typus durchgesetzt, dessen Militanz kaum Wert auf Legitimität lege, der auf formale Strukturen sowie öffentliche Führungsfiguren verzichte und eine ausgeprägte Subkulturalität pflege, dezentral auftrete und aus dem Verborgenen agiere und schließlich weitgehend auf theoretische Klärungsversuche verzichte. Zwar hätten sich einige dieser Komponenten bereits in der 68er-Bewegung begonnen herauszustellen, dennoch dürfte bezweifelt werden, ob diese Art "politischer Gewalt" überhaupt noch als links oder linksradikal bezeichnet werden könne.
Einen kurzen Ausblick wagend, erkläre Kraushaar, dass das Phänomen politischer Gewalt nicht an Zeiten gebunden sei, sondern bleiben werde. Nur die Rahmenbedingungen unter denen sie auftrete würden sich ändern.
Auf die Rolle der Geheimdienste während der verschiedenen Erscheinungen politischer Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik angesprochen, bemerkte er zum Abschluss, dass es Einmischung durch die bundesdeutschen Geheimdienste durchaus gegeben habe, beispielsweise während der Krawalle, die sich nach dem Attentat auf Rudi Dutschke gegen den Springer-Verlag in Berlin richteten: Peter Urbach, damals Mitarbeiter des Berliner Verfassungsschutzes, sei es gewesen, der 1968 gewaltbereiten Demonstranten nicht nur erklärte, wie ein Molotowcocktail richtig zu benutzen sei, sondern auch selber Molotowcocktails zur Anti-Springer-Demonstration mitbrachte. "Mitangezündet" worden sei damals also auch vom Staat, so Kraushaar. Die Rolle der Geheimdienste sei daher in Teilen der Geschichte als zweifelhaft zu bewerten und es sei an der Zeit diese aufzuarbeiten. Warnen, so betonte der Wissenschaftler, möchte er jedoch davor, zu glauben, die Gewalteskalationen seien ein Produkt der Geheimdienste gewesen. Im Gegenteil sei die Gewalt, in den von ihm genannten Beispielen, von den linken Gruppierungen ausgegangen. Die Beteiligten hätten die Gewalt gewollt und forciert.
Referent: Dr. Wolfgang Kraushaar, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur