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Sekundärprävention im Kontext Rechtsextremismus Beziehungen aufbauen, Resilienzen fördern, Haltungen hinterfragen und Alternativen erschließen

Michaela Glaser

/ 13 Minuten zu lesen

Was bedeutet „sekundäre Prävention“ im Kontext von Rechtsextremismus? Wann setzt sie an? Wer sind ihre Zielgruppen und was sind Ziele und Ansätze?

Eine Herausforderung sekundärpräventiver Arbeit im Kontext Rechtsextremismus ist es, Zielgruppen zu erreichen. Denn rechtsaffine Personen wie auch ihr Umfeld zeigen oft wenig Beratungsinteresse. (© Adobe Stock/Dilok)

Der Beitrag gibt einen ersten Überblick über das Handlungsfeld „sekundäre Rechtsextremismusprävention“. Er definiert Zielgruppen und Ziele der Arbeit und diskutiert mögliche Hinweise auf sekundären Präventionsbedarf sowie deren angemessene Verwendung. Außerdem werden relevante Ansätze und wesentliche Elemente der Arbeit skizziert sowie spezifische Herausforderungen dieses Präventionsfeldes benannt.

Begrifflichkeit

„Sekundäre Prävention“ bezeichnet die zweite von drei Stufen im Präventionsmodell von Gerald Caplan (1964), welches dieser ursprünglich für den klinischen Bereich entwickelte. In diesem Modell werden verschiedene Präventionsstufen nach dem Zeitpunkt einer Intervention unterschieden. Um sekundäre Prävention handelt es sich Caplan zufolge, wenn es erste Hinweise auf Ausprägungen eines unerwünschten Zustandes gibt. Maßnahmen sekundärer Prävention sollen verhindern, dass sich diese Ausprägungen verfestigen.
Übertragen auf die Rechtsextremismusprävention bedeutet das: Sekundäre Prävention setzt dann an, wenn Personen erste Anzeichen für rechtsextreme Orientierungen oder soziale Bezüge zeigen, jedoch noch nicht als dezidiert und gefestigt rechtsextrem einzuordnen sind.

Eine ebenfalls gängige Bezeichnung ist „selektive Prävention“. Sie entstammt dem Präventionsmodell von Robert S. Gordon (1983), das sich stärker an den Zielgruppen orientiert. Die mittlere, selektive Präventionsstufe bezieht sich hier auf Gruppen, die ein höheres Risiko aufweisen, rechtsextrem zu werden. Beide Begriffe werden zunehmend synonym gebraucht. Sie weisen Schnittmengen auf, sind jedoch nicht deckungsgleich. So wird „selektive Prävention“ zum Teil auch auf Personen bezogen, denen etwa wegen demografischer oder biografischer Merkmale ein erhöhtes Rechtsextremismusrisiko bescheinigt wird – unabhängig davon, ob sie selbst Phänomenausprägungen zeigen.

Zielgruppen

Gemäß der Definition sekundärer Prävention richtet sich diese an Personen, die noch keine geschlossene und gefestigte rechtsextreme Ideologie vertreten und noch nicht fest in rechtsextreme Strukturen eingebunden sind. Sie weisen jedoch erste Bezüge zu rechtsextremen Positionen und/oder Strukturen auf. Für diese Personen hat sich der Begriff „rechtsaffin“ etabliert. Gemeint ist damit, dass sie sich in der Phase der Annäherung oder Affinisierung zum Rechtsextremismus befinden.

Neben diesen direkten Zielgruppen stellen auch Personen aus ihrem sozialen Nahfeld eine wichtige Zielgruppe dar. Angehörige und andere Vertraute gelten als potenzielle Ressource, um indirekt auf Personen einzuwirken, die auf direktem Wege nicht erreichbar sind. Das soziale Nahfeld kann aber auch Teil affinitätsfördernder Dynamiken sein und unter dieser Perspektive einbezogen werden.

Weitere Zielgruppen sind professionelle und ehrenamtliche Akteure, die in ihrer Tätigkeit mit rechtsaffinen Personen in Kontakt kommen. Für diese wurden spezifische Fortbildungen entwickelt, um sie im Umgang mit diesen Situationen zu stärken.

„Indikatoren“ und ihre adäquate Handhabung

Wann eine beginnende Affinisierung zum Rechtsextremismus vorliegt, ist für sekundärpräventives Handeln eine hoch relevante Frage. Schließlich gilt es, solche Entwicklungen nicht zu übersehen und zugleich Fehleinschätzungen zu vermeiden. Denn diese können zum einen stigmatisierende Effekte haben. Zum anderen können sie dazu führen, dass rechtsextreme Angebote – infolge von Stigmatisierung oder Ungerechtigkeitserleben – attraktiver oder überhaupt erst attraktiv werden. Die folgenden Anhaltspunkte sind deshalb nur potenzielle Hinweise, die es im Einzelfall sorgfältig abzuklären gilt.

Anzeichen für eine Annäherung an den Rechtsextremismus können sich auf der Ebene inhaltlicher Orientierungen zeigen. Relevante Dimensionen von Rechtsextremismus sind zum einen Ungleichheitsvorstellungen wie Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus; zum anderen sind es politische Haltungen wie die Befürwortung autoritärer Staatsformen, überhöhter Nationalismus und Verherrlichung des Nationalsozialismus (Decker/Brähler 2006; Stöss 2010). Werden solche Haltungen formuliert, sind sie für menschenrechtlich orientierte Pädagogik per se ein Interventionsanlass. Darüber hinaus könnten sie auf eine Annäherung an rechtsextreme Weltbilder hinweisen. Das gilt besonders, wenn sich Ansichten auf mehrere Dimensionen beziehen. Ein Hinweis kann auch sein, wenn Positionen pseudowissenschaftlich und zunehmend rhetorisch versiert vertreten werden.

Eine Annäherung an rechtsextreme Bezüge kann anfangs aber auch ausschließlich auf sozialer Ebene erfolgen. Insofern gilt es, Anzeichen sozialer Annäherung wahrzunehmen. Dies ist schwieriger geworden, weil rechtsorientierte und rechtsextreme Jugendliche heute weniger erkennbar auftreten (siehe unten); auch haben sich viele Aktivitäten in soziale Medien verlagert. Neben rechtsorientierten Chatgruppen werden hier unter anderem bestimmte Gaming-Plattformen als Zugangsorte diskutiert. In der analogen Welt gelten als mögliche Zugänge weiterhin einschlägige Fußballfanszenen sowie aktuell besonders Teile der Kampfsportszene (vgl. Glaser 2023). Mögliche soziale Hinweise können außerdem Rückzüge aus bisherigen Freundschaften und Hobbys sein.

Anders als in den 1990er-Jahren sind rechtsaffine Jugendliche heute weniger über Outfit oder andere Stilmerkmale erkennbar. Zum Teil haben sich rechtsorientierte Szenen stilistisch bei linken und anderen Jugendszenen bedient; insgesamt werden Zugehörigkeiten und Orientierungen weniger offensiv zur Schau gestellt. Sinnvoll ist auf jeden Fall, gängige Symbole aktueller, auch regionaler rechtsextremer Strömungen zu kennen. In der Szene beliebt sind zudem Interner Link: Zahlencodes und abgewandelte Symbole, mit denen Verbote unterlaufen werden. Ein möglicher Hinweis auf eine Annäherung ist auch der Konsum rechtsextremer Musik. Dabei ist zu beachten, dass sich das musikalische Spektrum erheblich ausgeweitet hat und heute jenseits von klassischem Rechtsrock zahlreiche „angesagte“ Musikstile umfasst, so beispielsweise Black Metal und Hardcore, aber auch Hip-Hop und Rap. Informationen zu aktuellen Codes und Trends sind im Internet (z. B. auf den Seiten der bpb) oder bei Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus verfügbar.

Alle genannten Anhaltspunkte können auf Affinisierungen verweisen, aber auch anders erklärbar sein. So können Lust an Provokation und Tabubruch, Gruppenzwänge oder ein Ruf nach Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. Deshalb gilt es stets, ihre Bedeutung im direkten Gespräch zu ergründen, bevor nächste Schritte erwogen werden.

Ziele und Inhalte

Sekundäre Rechtsextremismusprävention soll verhindern,

  • dass sich rechtsaffine sowie erste rechtsextreme Positionen, Einstellungen und Verhaltensweisen weiter ausweiten und verfestigen und

  • dass es zu Einstiegen beziehungsweise stabilen Einbindungen in rechtsextreme Szenen kommt.

Damit sind die übergeordneten Ziele benannt, aus denen sich aber noch keine Maßnahmen ableiten lassen. Die präventive Praxis muss diese erst in konkrete Handlungsziele übersetzen.

Dabei spielt auch eine Rolle, in welchem Handlungsfeld sekundärpräventive Aktivitäten angesiedelt sind. Denn diese werden nicht nur in pädagogischen Kontexten, sondern auch von den Sicherheitsbehörden realisiert. So können Polizeibeamte einstiegsgefährdete Jugendliche aufsuchen, um ihnen zu signalisieren, dass sie sie „auf dem Schirm“ haben (sogenannte Gefährdetenansprache). Die beiden Professionen agieren hier jedoch mit unterschiedlichen Handlungsaufträgen: Während sicherheitsbehördliche Prävention vor allem der öffentlichen Sicherheit dient, verfolgt (sozial-)pädagogische Prävention primär hilfeorientierte Zielstellungen. Das schlägt sich auch in der Gestaltung präventiver Handlungsziele nieder. Im Folgenden werden Handlungsziele pädagogischer Prävention diskutiert.

In der Arbeit mit den direkten Zielgruppen zeigen sich hier zwei Gruppen von Handlungszielen, die Überschneidungen sowohl mit der primären als auch mit der tertiären Prävention aufweisen.

Zum einen wird, wie in der Interner Link: Primärprävention, die Stärkung von Haltungen und Kompetenzen verfolgt, die die Widerstandsfähigkeit oder „demokratische Resilienz“ (Edler 2017) gegenüber Rechtsextremismus und seinen Dimensionen erhöhen. Sekundärpräventive Handlungsziele beinhalten hier

  • die Schärfung der Wahrnehmungs-, Einordnungs- und Urteilskompetenz in Bezug auf antidemokratische, antipluralistische, gruppenabwertende Deutungs- und Zugehörigkeitsangebote,

  • die Entwicklung und Stärkung demokratischen Bewusstseins und demokratischer Handlungskompetenzen,

  • die verbesserte Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sowie die Erhöhung der Bereitschaft, unterschiedliche Standpunkte wahrzunehmen und anzuerkennen,

  • die Förderung von Solidarität und Empathie(fähigkeit) mit Menschen jenseits des eigenen Bezugssystems.

Darüber hinaus muss sekundäre Prävention der Tatsache Rechnung tragen, dass ihre Zielgruppen bereits Bezüge zum Rechtsextremismus auf sozialer und/oder inhaltlicher Ebene haben. Es gilt deshalb auch – wie in der Tertiärprävention – Hinwendungsursachen entgegenzuwirken sowie Distanzierungen zu befördern. Ausgehend von Erkenntnissen zu Hinwendungs- und Distanzierungsdynamiken werden hierzu folgende Handlungsziele verfolgt:

  • Stabilisierung der aktuellen Lebenssituation (bei hoher akuter Problembelastung)

  • Unterstützung bei der Aufarbeitung belastender Erfahrungen,

  • Hinterfragung und Verunsicherung rechtsextremer Deutungsmuster, Werte und Ziele,

  • Aufzeigen alternativer Handlungsoptionen, Sinnstiftungen, Partizipations- und Protestoptionen,

  • Erschließen von Alternativen zu rechtsextremen Integrationsangeboten.

In der Beratung des sozialen Nahfelds ist ein erstes Handlungsziel die Klärung, inwiefern überhaupt eine Problematik vorliegt, die fachliche Betreuung erfordert. Wenn es zu einer Fallbetreuung kommt, werden folgende sekundärpräventive Handlungsziele verfolgt:

  • die Stärkung oder Wiederherstellung der Kommunikation zwischen den Beteiligten,

  • die Aufarbeitung familialer Konflikte, die potenzieller Bestandteil der Hinwendungsdynamik sind,

  • das Anstoßen positiver Entwicklungen bei den rechtsaffinen Akteuren,

  • die Unterstützung der Beratungsnehmenden dahingehend, auch eigenen Bedürfnissen und Grenzen Rechnung zu tragen.

Fortbildungen für Professionelle und Ehrenamtliche zielen auf den Erwerb von Wissensinhalten und Kompetenzen, um im Umgang mit rechtsaffinen Personen angemessen zu agieren. Dazu gehört, mögliche Hinweise wahrzunehmen, diese adäquat einzuordnen und dabei stigmatisierungssensibel zu agieren. Des Weiteren geht es darum, Handlungsmöglichkeiten und geeignete pädagogische Haltungen zu kennen sowie sich der eigenen Handlungsgrenzen bewusst zu sein. Weitere Ziele sind das Wissen um Unterstützungsangebote sowie die Kenntnis von rechtlichen und professionsspezifischen Regelungen.

Grundprinzipien und Ansätze

Für die Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen sind verschiedene Prinzipien handlungsleitend, die in ihren Grundzügen erstmals von Franz Josef Krafeld (1984/1996) formuliert wurden. Zu diesen gehören in gebotener Kürze:

Trennung von Haltung und Person: Die Jugendlichen sind als Personen wertzuschätzen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen („Akzeptanz“) – auch wenn es ihre problematischen Haltungen zurückzuweisen gilt.

Vertrauensbeziehung als Basis: Bevor problematische Haltungen adressiert werden, gilt es zunächst eine belastbare, auf Vertrauen basierende Arbeitsbeziehung zu entwickeln. Das erfordert auch geschützte pädagogische Räume, in denen sich „heikle“ Positionen sanktionsfrei thematisieren lassen.

Verstehensperspektive: Krafeld plädierte zudem dafür, an den akuten Problemen der Jugendlichen anzusetzen, in denen er einen Grund für ihre Rechtsaffinität sah. In Weiterentwicklung dessen gilt heute als wesentlich, die individuellen Ursachen und subjektiven Bedeutungen einer Hinwendung zum Rechtsextremismus zu ergründen und zu adressieren.

Die von Krafeld im sogenannten „akzeptierenden Ansatz“ formulierten Positionen waren und sind fachlich durchaus umstritten. Kritiker:innen problematisieren vor allem eine zu geringe Auseinandersetzung mit den Positionen der Jugendlichen, den starken Fokus auf individuelle Problemlagen sowie generell eine „Täterzentrierung“ des Ansatzes. Viele schreiben diesem Ansatz auch eine Mitverantwortung für Fehlentwicklungen zu, die es zu Beginn der Arbeit in den 1990er-Jahren gab. Damals zeigten sich neben positiven Wirkungen auch problematische Effekte dahingehend, dass durch einige Angebote rechtsaffine und rechtsextreme Szenen eher gestärkt wurden (ausführlicher Baer 2014; Glaser 2022). Für das Gros derjenigen, die in diesem Feld tätig sind, sind zentrale Annahmen des akzeptierenden Ansatzes dagegen nach wie vor grundlegend, um überhaupt erfolgversprechend mit dieser Klientel zu arbeiten.

In den 2000er-Jahren wurden, teils in kritischer Auseinandersetzung mit Krafeld, weitere Ansätze entwickelt: Bei der „Integrationspädagogik“ (Bleiß et al. 2004) handelt es sich um eine Fortentwicklung des akzeptierenden Ansatzes, die diesen auf andere Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausweitet. Von Eckart Osborg (2006) stammt das Konzept der „subversiven konfrontativen Verunsicherung“, das sozialpädagogische Unterstützung mit konfrontativer Auseinandersetzung verbindet. Michaela Köttig (2008) plädiert für ein biografisch-narratives Vorgehen, um die Entstehung rechtsaffiner Haltungen nachzuvollziehen und über Verstehensprozesse bei den Jugendlichen Veränderungen anzuregen. Genderreflektierende Perspektiven fokussieren die Bedeutung biologisierender Geschlechtervorstellungen im Rechtsextremismus und wollen diesen bei den Adressat:innen entgegenwirken (vgl. Radvan 2013).

Vorgehensweisen und Formate

Widerstandsfähigkeit stärken

Um unterschiedliche Aspekte der Widerstandsfähigkeit gegenüber Rechtsextremismus zu fördern, wird wie in der primären Prävention mit Methoden außerschulischer Bildung gearbeitet. Dazu gehören Elemente aus politischer Bildung und Demokratiepädagogik ebenso wie interkulturelles Lernen und Begegnungsansätze.

Anders als mit primärpräventiven Zielgruppen werden diese Angebote in der Sekundärprävention meist in längerfristigen Settings realisiert. Kurzzeitformate wie Workshops oder einzelne Projekttage gelten als ungeeignet, um die erforderliche Beziehung zu den Zielgruppen aufzubauen. Auch wird seltener gezielt sekundärpräventiv mit Gruppen (wie etwa Schulklassen) gearbeitet, in denen sowohl rechtsaffine als auch nicht-rechte Jugendliche vertreten sind. Denn zum einen bestehen Bedenken, den Positionen rechtsaffiner Jugendlicher eine Plattform zu bieten und den Bedürfnissen vulnerabler Gruppen nicht gerecht zu werden. Zum anderen fehlt hier der geschützte Raum, um mit rechtsaffinen Jugendlichen produktiv pädagogisch zu arbeiten. Bildungsarbeit findet deshalb vor allem im Rahmen von Trainings statt, die über einen größeren Zeitraum laufen und gezielt zusammengesetzt sind. Zum anderen werden Bildungselemente in längerfristige, sozialpädagogische Begleitungen integriert. Dort sind sie allerdings oft weniger konzeptionell untersetzt und haben geringeren Stellenwert (Glaser et al. 2016).

Distanzierungen fördern

Um Distanzierungen von bereits entwickelten Bezügen zu fördern, werden Vorgehensweisen gewählt, die denen der Ausstiegsarbeit ähneln. Das Handeln ist hier auf die konkrete Fallkonstellation ausgerichtet, weshalb vor allem in längerfristigen Settings zu Beginn oft eine Fallanamnese steht. In dieser werden relevante Ursachen und Unterstützungsbedarf ermittelt. Davon ausgehend wird auf folgenden Ebenen gearbeitet:

Wenn hohe akute Problembelastungen vorliegen (etwa Drogensucht, Verschuldung, Wohnungslosigkeit), wird zunächst eine Stabilisierung der Lebenssituation angestrebt. In diesen Fällen greifen klassische sozialpädagogische Unterstützungsmaßnahmen. Diese werden teilweise von den Projekten selbst realisiert. Bei Bedarf wird weitere Unterstützung eingebunden.

Die Aufarbeitung belastender Erfahrungen wird durch Formen biografischen Arbeitens unterstützt. Gemeinsam werden schwierige Erfahrungen betrachtet, um Zusammenhänge mit aktuellen Haltungen zu erkennen. Dazu gehört auch, einseitige Selbstwahrnehmungen zu hinterfragen (etwa die Wahrnehmung, „immer“ Opfer von Benachteiligungen zu sein). In manchen Fällen kann es angezeigt sein, dezidiert therapeutisch zu arbeiten.

Wenn eine tragfähige Beziehung etabliert wurde, wird versucht, kognitive und emotionale Zweifel an rechtsextremen Überzeugungen zu säen. Das beinhaltet das Aufzeigen von Widersprüchen in rechtsextremen Positionen, die Konfrontation mit moralischen Dilemmata oder auch, Diskrepanzen zwischen postulierten Idealen und der Realität in der Szene zu verdeutlichen. Teilweise wird hier mit Aussteiger:innen gearbeitet, die von ihren Erfahrungen berichten. Der pädagogische Nutzen solcher Erfahrungsberichte wird allerdings in Teilen der Fachwelt eher kritisch beurteilt (Walsh/Gansewig 2020). Ein weiteres, ebenfalls unterschiedlich bewertetes Vorgehen sind Gedenkstättenbesuche mit rechtsaffinen Jugendlichen (Mischok 2010).

Die fachliche Erfahrung zeigt, dass die Irritation rechtsextremer Überzeugungen nicht allein auf inhaltlich-argumentativer Ebene gelingt (Heitmeyer 1989; Möller/Schuhmacher 2014: 8). Deshalb geht es auch darum, den Adressat:innen alternative Quellen der Sinnstiftung sowie andere Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dazu kann gehören, sie mit alternativen Jugendkulturen in Kontakt zu bringen, ihnen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu erschließen (etwa durch ehrenamtliches Engagement) oder sie in Beteiligungsprojekte vor Ort einzubinden.

Schließlich wird versucht, längerfristige Alternativen sozialer und gesellschaftlicher Integration zu erschließen. So können Fachkräfte die Reaktivierung von familialen und Freundschaftsbeziehungen anregen und begleiten. Oder sie unterstützen dabei, neue soziale Bezüge zu entwickeln – etwa durch Vermittlung in Vereine oder sozialraumübergreifende Projekte, die weltanschaulich andere Kontakte bieten. Zum Arbeitsspektrum gehört des Weiteren, bei schulischen Problemen, in der Ausbildungs- und Berufsorientierung sowie bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche zu unterstützen.

Auch diese Arbeit findet im Rahmen längerfristiger Formate statt. Biografische und inhaltliche Elemente der Arbeit werden sowohl in Gruppenangeboten als auch in der Einzelfallarbeit realisiert. Stabilisierende und integrative Aktivitäten finden sich dagegen primär in sozialpädagogisch ausgerichteten, oft über mehrere Monate laufenden Einzelbegleitungen.

Beratung des sozialen Nahfelds

In der Arbeit mit dem sozialen Umfeld spielen systemische Ansätze eine zentrale Rolle. Deren Grundannahme ist, dass Orientierungen und das Handeln von Individuen stets in soziale Kontexte eingebunden sind, die es in die Arbeit einzubeziehen gilt. Beraten wird etwa zu akuten familialen Konflikten, die mit der Affinisierung verbunden oder auch für sie (mit)ursächlich sind. Das beinhaltet eine Sensibilisierung für hier relevante Dynamiken sowie die Erarbeitung einer akzeptierenden Grundhaltung gegenüber der rechtsaffinen Person. Zudem wird den Beratungsnehmenden aufgezeigt, wie bedeutsam sie für eine Unterbrechung der Hinwendung sind, wie sie diese Rolle nutzen und nicht verlieren. Dazu werden konkrete Verhaltens- und Gesprächstipps vermittelt. Das soziale Nahfeld wird auch einbezogen, um Alternativen sozialer Integration zu erschließen. Verschiedentlich werden auch die rechtsaffinen Personen in die Beratung einbezogen, wenn sie dieser Einbeziehung zustimmen.

Schlussbetrachtung

Angebote der Regelarbeit wie Jugend- und Sozialarbeit, Jugendgerichtshilfen oder auch Erziehungsberatungen realisieren im Rahmen ihrer alltäglichen Arbeit Maßnahmen, die auch verschiedene der hier diskutierten sekundärpräventiven Ziele und Aktivitäten mit „abdecken“. Solche Angebote abzusichern und in der Arbeit mit rechtsaffinen Zielgruppen fachlich zu stärken, ist deshalb auch unter der Perspektive sekundärer Rechtsextremismusprävention sinnvoll.

Jenseits dessen existieren in Deutschland seit den 1980er-Jahren pädagogische Angebote, die sich auf dieses Präventionsfeld spezialisiert haben. Es hat sich eine Fachpraxis etabliert, in der sich viel fachliche Expertise zu Zielgruppen und Vorgehensweisen findet. Dennoch ist Sekundärprävention bezüglich Rechtsextremismus heute ein vergleichsweise randständiges Feld.
Das liegt zum einen an den widersprüchlichen Erfahrungen mit den ersten Angeboten in den 1990er-Jahren. Die damaligen Fehlentwicklungen prägen den Ruf dieser Arbeit bis heute und nicht wenige Fachkräfte haben seither Bedenken, mit diesen Zielgruppen und in der skizzierten Weise zu Rechtsextremismus zu arbeiten.

Zum anderen ist es besonders schwierig, sekundärpräventive Zielgruppen zu erreichen, da rechtsaffine Personen wie auch ihr Umfeld in dieser Phase oft wenig Beratungsinteresse zeigen. Diese Schwierigkeit hat sich mit der schwindenden Sichtbarkeit rechtsextremer Jugendkulturen und der Digitalisierung jugendlicher Lebenswelten weiter verstärkt.

Als eine weitere Herausforderung wird aktuell die Arbeit mit rechtsaffinen älteren Menschen deutlich. Diese sind Praxisrückmeldungen zufolge eine zunehmend relevante Zielgruppe. Doch mangelt es bisher an Ansätzen, die sich für die Arbeit mit diesen Personen als geeignet erweisen (Glaser 2023).

Es gilt deshalb, Zugänge und Formate (weiter) zu entwickeln, die aktuellen Erscheinungsformen und Veränderungen seitens der Zielgruppen Rechnung tragen. Hier sind unter anderem Ansätze gefragt, die in geeigneter Weise Online- und Offline-Formate miteinander verschränken. Unverändert stellt sich zudem die Aufgabe, weibliche Akteure adäquat wahrzunehmen sowie genderreflektierende Ansätze zu entwickeln, die bei sekundärpräventiven Zielgruppen auf Akzeptanz stoßen.

Angesichts der aktuellen Marginalität dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus erscheint es zudem angezeigt, sekundärpräventive Spezialangebote wie auch das sekundärpräventive Know-how in der Regelarbeit grundsätzlich stärker auszubauen und zu stärken.

Quellen / Literatur

Zum Weiterlesen

Becker, Reiner; Palloks, Kerstin (Hg.) (2013): Jugend an der roten Linie. Analysen von und Erfahrungen mit Interventionsansätzen zur Rechtsextremismusprävention. Schwalbach/Taunus.

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Adrian, Laura; Haase, Volker; Heydorn, Anna; Murawa, Michél; Vögeding, Niklas; Weilnböck, Harald (2022): Distanzierungsarbeit 03. Zugänge und Beispiele aus der Praxis. Online: Externer Link: https://www.cultures-interactive.de/files/publikationen/Flyer%20Broschueren%20Dokumentationen/2022_Distanzierungsarbeit_03.pdf (Abruf am 16.11.2023).

Literaturverzeichnis

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Bleiß, Karin;Möller, Kurt; Peltz, Cornelius; Rosenbaum, Dennis; Sonnenberg, Imke (2004): Distanz(ierung) durch Integration. Neue konzeptionelle Grundlagen für aufsuchende Arbeit mit rechtsextrem bzw. menschenfeindlich orientierten Jugendlichen. In: Neue Praxis, 34. Jg., Heft 7, S. 568–590. Caplan, Gerald (1964): Principles of Preventive Psychiatry. New York.

Decker, Oliver; Brähler, Elmar (2006): Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Unter Mitarbeit von Norbert Geißler. Berlin.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Text stützt sich in Teilen auf Überlegungen, die gemeinsam mit Jochen Müller und André Taubert entwickelt wurden (vgl. Glaser et al. 2020).

  2. Diese abstrakte Bestimmung von Risikogruppen wird im Kontext von Extremismusprävention allerdings auch kritisch, da Stigmatisierungen Vorschub leistend, diskutiert. Von verschiedener Seite wird deshalb für eine Lesart selektiver Prävention plädiert, die sich – vergleichbar der sekundären Prävention – an konkreten Merkmalen festmacht (Glaser et al. 2020; Meilicke/Weilnböck 2022).

  3. Einen Text zu präventiven Ansätzen im sicherheitsbehördlichen Kontext finden Sie unter Interner Link: Rechtsextremismus als Herausforderung für Sicherheitsbehörden.

  4. Zu den Ausnahmen gehört das Konzept der „narrativen Gesprächsgruppen“ (vgl. Fritzsche/Weilnböck 2023). Hier wird über einen längeren Zeitraum mit gemischten Gruppen gearbeitet, verbunden mit der (personell untersetzten) Option, in Konfliktfällen die Gruppe zeitweise zu teilen. Eine andere Situation liegt vor, wenn Projekte in primärpräventiver Absicht angefragt werden und sich im Verlauf herausstellt, dass sich auch rechtsaffine Personen in der Gruppe befinden. Dann ist es von Vorteil, wenn Teamer:innen über Kompetenzen und Methoden verfügen, um adäquat reagieren und zumindest ein sekundärpräventives Anfangsangebot unterbreiten zu können.

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Michaela Glaser ist Soziologin und als Senior Researcher & Projektmanagerin an der Berghof Foundation Berlin im Projekt „Monitoring- & Transferplattform Radikalisierung“ (MOTRA) tätig. Zuvor arbeitete sie viele Jahre am Deutschen Jugendinstitut, dessen Forschungsstelle für Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention sie von 2011 bis 2018 leitete. Ihre Forschungsinteressen beinhalten Ursachen und Verläufe im rechten & islamistischen Extremismus, Ansätze der Präventions- und Distanzierungsarbeit, Biografieforschung und Praxisbegleitforschung. Kontakt: m.glaser@berghof-foundation.org