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Verfassungsschutzberichte 2022 Eine Analyse der Berichterstattung im Themenfeld „Rechtsextremismus“

Nils Langer

/ 15 Minuten zu lesen

Die Berichte der Verfassungsschutzämter auf Länder- und Bundesebene erscheinen jährlich. Sie dienen als zentrales Medium der Behörden, um die Öffentlichkeit über Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten.

In den Verfassungsschutzberichten werden Phänomene unterschiedlich eingeordnet sowie länderspezifische, thematische Akzentuierungen hervorgehoben. (© Adobe-Stock/NuPenDekDee)

Die jährlichen Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und der Verfassungsschutzbehörden der Länder (LfV) sind das zentrale Medium der Behörden, um die Öffentlichkeit über Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten. Die Lektüre der Veröffentlichungen für das Berichtsjahr 2022 in den Themenfeldern „Rechtsextremismus“ und „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ offenbart, welche Verschiebungen und Problemlagen die Nachrichtendienste ausmachen. In die Analyse fließen alle Berichte der Bundesländer sowie der Bericht des Bundes ein, lediglich die Berichte aus Thüringen und dem Saarland standen zum Redaktionsschluss Anfang Oktober 2023 nicht zur Verfügung.

Rechtsextremistische Bestrebungen werden vom BfV grundsätzlich wie folgt definiert: „Im Rechtsextremismus entscheidet die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder ‚Rasse‘ über den Wert eines Menschen. In einer solchen ethnisch-rassistisch definierten ‚Volksgemeinschaft‘ werden die zentralen Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung missachtet. Nationalismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus sowie Demokratiefeindlichkeit prägen die rechtsextremistische Agitation“ (BfV 2023, S. 48). Das rechtsextremistische Personenpotenzial wird auf Bundes- und Landesebene zumeist grob entlang der Trennlinien zwischen dem Parteienspektrum und den parteiunabhängigen bzw. -ungebundenen sowie den weitgehend strukturunabhängigen Strömungen unterschieden (BfV 2023, S. 51). Doch es fallen auch Unterschiede in der Ausgestaltung der Berichte auf: Der Themenbereich „Reichsbürger:innen/Selbstverwalter:innen“ wird, trotz ideologischer und personeller Schnittmengen mit dem rechtsextremistischen Milieu (BfV 2023, S. 105), aufgrund der Heterogenität des Phänomens (BfV 2023, S. 104) durch die LfV (Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV BW), Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz (LfV BY), Senatsverwaltung für Inneres und Sport Berlin (LfV BE), Ministerium des Innern und für Kommunales Brandenburg (LfV BB), Landesamt für Verfassungsschutz Bremen (LfV HB), Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV HE), Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern (LfV MV), Ministerium des Innern und für Sport des Landes Rheinland-Pfalz (LfV RP), Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (LfV SN), Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt (LfV ST), Ministerium für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport Schleswig-Holstein (LfV SH)) sowie das BfV in einem eigenständigen Kapitel abgehandelt. In Kontrast dazu verortet das Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg (LfV HH) dieses Spektrum im Kapitel „Verschwörungsideologischer Extremismus“, während das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (LfV NI) sowie das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (LfV NW) die „Reichsbürger:innen“ und „Selbstverwalter:innen“ im Abschnitt „Rechtsextremismus“ aufführen.

Relativ neu ist seit 2021 der Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ in den Berichten des Verfassungsschutzverbunds. Sämtliche LfV und das BfV handeln ihn in einem eigenständigen Kapitel ab. Hiervon weicht lediglich das LfV NI ab, indem es den Phänomenbereich in der Kategorie „Rechtsextremismus“ einordnet. Diese „Abweichung“ dokumentiert indes die Eigenständigkeit der jeweiligen Behörden. Auch in anderen Bereichen zeigt sich dies: Während im Mai 2022 das mittlerweile zweite bundesweite Lagebild Externer Link: „Rechtsextremisten, ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ in Sicherheitsbehörden“ von der Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser, öffentlich vorgestellt wurde, widmen sich lediglich die LfV BY, BE, HB, MV und SH dem Thema in (Unter-)Kapiteln und verweisen auf die jeweilige länderspezifische Situation.

Die Bedeutung des rechtsextremistischen Parteienspektrum

In den Berichten der Landesämter wird übereinstimmend ein Trend zur Parteimüdigkeit gegenüber gesichert rechtsextremistischen Parteien ausgemacht. Im Fokus stehen dabei mit überregionaler Bedeutung die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD; seit Mai 2023 „Die Heimat“), die „Neue Stärke Partei“ (NSP), der „III. Weg“ sowie „Die Rechte“. Sie seien zwar in einigen Ländern verankert, bundesweit verfügten sie aber nur über niedrige Mitgliederzahlen, knappe Finanzmittel und teilweise brüchige Organisationsstrukturen. Besonders im Fall der vormals bedeutendsten rechtsextremistischen Partei, der „NPD“/„Die Heimat“, könne ein schwindender Zulauf konstatiert werden – im Berichtszeitraum 2022 habe sie bundesweit noch 3.000 Mitglieder gehabt (BfV 2023, S. 94). Aufgrund ihres Bedeutungsverlusts im parlamentarischen Raum, dem drohenden Ausschluss aus der Parteienfinanzierung, mangelnder Kampagnenfähigkeit (kein Antritt zu den vier Landtagswahlen in 2022) und fehlender Wahlergebnisse („nur“ noch 107 kommunale Mandate (LfV NI 2023, S. 104) begreife sie sich nicht mehr primär als Wahlpartei, so das BfV (BfV 2023, S. 82). In einigen Ländern wird vor diesem Hintergrund eine strategische Neuausrichtung beschrieben, die verstärkt die regionale Aktivität in den Mittelpunkt stelle (LfV MV 2023, S. 31; LfV NW 2023, S. 82; LfV NI 2023, S. 104; LfV SN 2023, S. 38). Außerdem verstehe sich die Partei zunehmend als außerparlamentarischer „[…] ‚Netzwerker, Dienstleister […] und regionaler Motor von Bürgerprotesten‘“ (zit. nach LfV HE 2023, S. 126) und strebe die Vernetzung mit anderen Strukturen und Akteuren im traditionellen Rechtsextremismus an.

Auch den parteipolitischen Vereinigungen mit starken neonationalsozialistischen Prägungen sei es im Berichtszeitraum grundsätzlich schwergefallen, ihre Mobilisierungs- und Führungsfähigkeit, die Parteistruktur und das Personenpotenzial länderübergreifend zu erhalten. Lediglich dem sich selbst als Avantgarde verstehenden „III. Weg“ mit seinen bundesweit rund 700 Mitgliedern (BfV 2023, S. 98) sei es laut BfV punktuell gelungen, Strukturen weiter auszubauen und einen moderaten Mitgliederzuwachs zu generieren. Allerdings sei eine nachlassende Mobilisierungsfähigkeit zu erkennen (BfV 2023, S. 84f.). Während das BfV eher überblicksartig auf die Rolle der Partei eingeht und der „III. Weg“ in manchen Ländern gar nicht (HB, HH, SH) oder weniger stark (unter anderem BW) vertreten scheint, wird in BE, SN und ST die Bedeutung der Partei deutlicher hervorgehoben. Die Wahrnehmung als „bestimmende Größe“ (LfV SN 2023, S. 30) und „zentraler Akteur“ (LfV BE 2023, S. 30) im rechtsextremistischen Parteienspektrum werde in SN und BE dezidiert geteilt, während in ST stärker über einen Mitgliederzuwachs und eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit berichtet wird (LfV ST 2023, S. 42, 44).

Weiterhin beschreibt das BfV, dass die Partei „Die Rechte“ mit ihren bundesweit rund 450 Mitgliedern (BfV 2023, S. 97) sowie die deutlich jüngere „NSP“ zwar überregional in Erscheinung treten würden, sie sich aber mit größeren Herausforderungen konfrontiert sähen. Im Fall der Partei „Die Rechte“ legten der fast nur noch auf NW begrenzte politische Aktivitätsraum, die sporadischen Demonstrationsanmeldungen und die fehlenden Teilnahmen an Wahlen nahe, dass die Aufrechterhaltung der Vereinigung maßgeblich im Erhalt des Schutzes durch das Parteienprivileg begründet liege (BfV 2023, S. 82f.). Dieses ermögliche es den neonationalsozialistischen Mitgliedern, ihre (politischen) Aktivitäten leichter zu organisieren (LfV RP 2023, S. 78; LfV BW 2023, S. 53). Aber auch in den Berichten aus NI und RP finden sich Verweise auf vereinzelte Aktivitäten der Partei (LfV NI 2023, S. 111; LfV RP 2023, S. 79). Gänzlich vom bundesweiten Trend abzuweichen scheint einzig die Regionalpartei „Freie Sachsen“. Sie verfüge, so das BfV, sachsenweit über 1.000 Mitglieder (BfV 2023, S. 99). Sowohl das LfV SN als auch das BfV setzen sich in ihren Berichten mit der noch jungen Partei auseinander. Sie besäße ein überdurchschnittliches realweltliches/digitales Aktions- und Mobilisierungspotenzial. Zeitgleich gingen von der Partei starke, länderübergreifende Vernetzungsbestrebungen aus, vor allem in das neurechte Spektrum (LfV SN 2023, S. 43, 48; BfV 2023, S. 86f.). Trotz eines allgemeinen Bedeutungsverlusts rechtsextremistischer Parteien verblieben Parteistrukturen grundsätzlich ein wichtiger Bestandteil für die szeneweite Vernetzung und den Zusammenhalt, so das BfV (BfV 2023, S. 50).

Der Umgang mit der Partei „Alternative für Deutschland“

Im Berichtszeitraum für das Jahr 2022 war die Einordnung der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in Bund und Ländern nicht einheitlich geregelt. Obwohl nicht im Bundesverfassungsschutzgesetz expliziert, arbeitet das BfV in der Praxis mit einem dreistufigen Begriffssystem: Liegen nur einzelne Informationsfragmente, aber noch keine tatsächlichen Anhaltspunkte in ausreichender Qualität und Quantität vor, um einen Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu beweisen, spricht das BfV von einem „Prüffall“. Bestehen aufgrund der fehlenden Erkenntnisdichte noch restliche Zweifel, aber lassen sich aus der Prüfphase bereits tatsächliche Anhaltspunkte ableiten, die auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung hinweisen, gilt das Beobachtungsobjekt als „Verdachtsfall“. Von einer „erwiesen extremistischen Bestrebung“ geht das BfV hingegen erst aus, wenn sich die tatsächlichen Anhaltspunkte derart konkretisiert haben, dass eine Einordnung des Beobachtungsobjekts als verfassungsfeindlich mit Gewissheit getroffen werden kann und die Erkenntnisse jedweden Zweifel an den Zielen der Bestrebungen ausräumen (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2022, S. 11).

Das BfV führt die „AfD“-Bundespartei seit 2021 als rechtsextremistischen „Verdachtsfall“ (BfV 2023, S. 88), Aussagen über Landesverbände werden nicht getroffen. Die Behörde begründet die Einordnung der Bundespartei wie folgt: „In Verlautbarungen der Partei und einer Reihe von Funktionsträgern kommen ein ethnisch-kulturell geprägtes Volksverständnis sowie fremden- und minderheitenfeindliche und muslim- und islamfeindliche Positionen zum Ausdruck. Innerhalb der AfD gingen extremistische Strömungen zudem gestärkt aus den Vorstandsneuwahlen auf dem Bundesparteitag im Juni 2022 hervor“ (BfV 2023, S. 50). Auch einige Landesverbände der „AfD“ werden durch die jeweiligen LfV als „Verdachtsfälle“ in ihren Berichten aufgeführt, wozu BW (seit 2022), BB (seit 2020), HB (seit 2022) und NI zählen. Bis zum Redaktionsschluss lag der Bericht des Freistaat Thüringen für das Jahr 2022 nicht vor. Dort wird die „AfD“ im Bericht aus dem Jahr 2021 sogar als „erwiesen rechtsextremistisch“ eingestuft (Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales 2022, S. 14). Demgegenüber werden die jeweiligen Landesverbände in den Berichten aus BY, BE, HE, HH, NW, MV, RP, SH, SN und ST nicht explizit als „Verdachtsfälle“ aufgeführt. In einigen Ländern ist die Unterrichtung der Öffentlichkeit über Verdachtsfall-Einstufungen allerdings rechtlich nicht zulässig. Grundsätzlich entschied das Verwaltungsgericht Köln im März 2022, dass die Einordnung der Bundespartei (Az. 13 K 326/21) sowie des parteieigenen Jugendverbandes „Junge Alternative für Deutschland“ (JA) (Az. 13 K 208/20) durch das BfV rechtmäßig sei. Die „AfD“ hat hiergegen Berufung eingelegt, aktuell ist diese vor dem Oberverwaltungsgericht Münster anhängig. Außerdem werden in den Berichten einiger Länder der bereits 2020 formal aufgelöste „Flügel“ bzw. „völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss“ sowie manche „JA“-Landesverbände als Beobachtungsobjekte geführt.

Der neue Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“

Das äußerst heterogene Protest- und Radikalisierungsgeschehen, das sich insbesondere im Rahmen der Demonstrationen gegen die staatlichen Einschränkungen während der Corona-Pandemie formiert hat, sei nur schwerlich einem der klassischen Phänomenbereiche zuzuordnen. Diese Wahrnehmung scheint auf Bundes- und Landesebene geteilt zu werden (BfV 2023, S. 116; LfV HE 2023, S. 168; LfV RP 2023, S. 122). Unter anderem das LfV HH spricht in Bezug auf den radikalisierten, demokratiefeindlichen Teil des Protestgeschehens von einem „Extremismus sui generis“, einer extremistischen Strömung eigener Art (LfV HH 2023, S. 109; LfV NI 2023, S. 47; LfV HE 2023, S. 168). Das Milieu, das das Protestgeschehen maßgeblich präge, kennzeichne ein umfassender Verschwörungsglaube, die Ablehnung des Rechtsstaats und der demokratischen Entscheidungsfindung, die Beanspruchung eines vermeintlich legitimen Widerstandsrechts nach Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz, die Verächtlichmachung des parlamentarischen Systems und (teilweise) eine erhöhte Gewaltbereitschaft (LfV ST 2023, S. 120f.; LfV MV 2023, S. 52; LfV BW 2023, S. 72ff.). Es setze sich aus verschiedenen Gruppen, auch aus dem bürgerlichen Milieu zusammen (LfV HB 2023, S. 54). Rechtsextremist:innen sowie sogenannte „Reichsbürger:innen“ und „Selbstverwalter:innen“ bemühten sich fortwährend um eine Vereinnahmung der Proteste und könnten bereits Erfolge bei der Streuung der eigenen Narrative in Teilen des Protestmilieus verzeichnen (BfV 2023, S. 117). Gerade zum radikalisierten Teil bestünden unter anderem durch den immanenten Verschwörungsglauben, antisemitische und geschichtsrevisionistische Einstellungen sowie durch die Ablehnung des Rechtsstaats deutliche Überschneidungen (LfV BW 2023, S. 75). Für das BfV sei das Protestgeschehen aber noch nicht signifikant durch Rechtsextremist:innen gesteuert (BfV 2023, S. 117). Zudem fehlten zentrale rechtsextremistische Merkmale wie ein nationalistisch-völkisches Gesellschaftsideal oder ein autoritäres Staatsverständnis. Dennoch zeige sich mancherorts, dass der Protest eine Möglichkeit des ideologischen Austauschs, der Vernetzung und der inhaltlich-personellen Vermischung bietet (LfV SN 2023, S. 107ff.; LfV NW 2023, S. 151; LfV BB 2023, S. 98).

Es zeichne sich ab, dass der Protest gegen die Corona-Schutzverordnung lediglich die Initialzündung der Szene gewesen sei und es sich nicht um ein vorübergehendes Phänomen handele (LfV BE 2023, S. 45; LfV HB 2023, S. 55). Alle LfV sowie das BfV stellen in der zweiten Hälfte des Berichtsjahres 2022 eine inhaltliche Verschiebung hin zu neuen gesellschaftspolitischen und sozialökonomischen Konfliktthemen fest. Hierzu zählten der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Inflationsrate, die Energiepolitik und die deutsche Positionierung zu Waffenlieferungen an den ukrainischen Staat. Themen wie der Klimaschutz oder auch die Migrationszahlen besäßen ebenfalls eine Relevanz für die Szene (BfV 2023, S. 119f.; LfV BB 2023, S. 98; LfV BY 2023, S. 262; LfV SH 2023, S. 67; LfV NW 2023, S. 152). Zudem werde teilweise russische Propaganda verbreitet oder eine prorussische Haltung eingenommen. Ein „heißer Herbst“ oder ein „Wutwinter“, der den Protest in bürgerliche Milieus in der zweiten Jahreshälfte 2022 hineintragen sollte, sei trotz eines leichten Anstiegs von Protestveranstaltungen ab September ausgeblieben, so die LfV und das BfV. Dem BfV zufolge seien aktuell rund 1.400 Personen bundesweit dem Phänomenbereich zuzurechnen (BfV 2023, S. 117), eine nähere Herkunftsbestimmung wird im Bericht aber nicht vorgenommen. Größere Gruppen weisen die LfV in BW (350), NW (300) und SN (niedrige dreistellige Personenanzahl) aus (LfV BW 2023, S. 72; LfV NW 2023, S. 148; LfV SN 2023, S. 110).

Da die aufgeführten Themen aber von verschiedenen Akteur:innen aus unterschiedlichen Lagern aufgegriffen würden, verliere die Szene zunehmend ihr Alleinstellungsmerkmal. Es verbleibe trotz gesunkener überregionaler Mobilisierungsfähigkeit allerdings ein Personenpotenzial, das als „harter Kern“ beschrieben werden könne (LfV HB 2023, S. 54). Dass von diesem Teil der Gruppe eine konkrete Gefahr ausgehe, verdeutliche die Aufdeckung der mutmaßlich terroristischen Vereinigung „Vereinte Patrioten“ im Berichtszeitraum (LfV BB 2023, S. 94f.; LfV RP 2023, S. 54–57).

Die Bedeutung des Ukraine-Kriegs für die rechtsextremistische Szene

Neben den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stand für die gesamte rechtsextremistische Szene die politische Reaktion der Bundesregierung auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine im Mittelpunkt, darin stimmen die LfV und das BfV überein (BfV 2023, S. 61; LfV BE 2023, S. 28f.; LfV RP 2023, S. 41ff.; LfV HE 2023, S. 143). Gerade durch die bundesweite Beteiligung am heterogenen Protestgeschehen hätten sich mannigfaltige Gelegenheiten geboten, um die eigene Ideologie in breitere Gesellschaftsteile zu streuen (BfV 2023, S. 62). Über die Grenzen der Bundesländer hinweg habe der Krieg in der Ukraine die Szene aber auch zu einer Debatte um die Bewertung der Aggression gezwungen. Im Vergleich zum überwiegend prorussischen Milieu der „Delegitimierer:innen“ zeigte sich das rechtsextremistische Spektrum hinsichtlich seiner Positionierungen indifferenter: Im Berichtszeitraum 2022 schwankte es zwischen Solidaritätsbekundungen sowie Unterstützungsaktionen für die Ukraine („III. Weg“ und „NSP“) und der Übernahme antiwestlicher und russischer Propaganda, mit der vor allem ein autoritäres Staatsverständnis propagiert und eine vermeintlich expansionistische Haltung der NATO unterstellt wurde (unter anderem in Publikationen wie „Compact“ und „PI-News“) (BfV 2023, S. 61). Ob es durch die unterschiedlichen Positionierungen zu internen Konflikten kommen wird, bleibe abzuwarten (LfV NW 2023, S. 79). Übereinstimmend herrschten in der Szene allerdings nach wie vor starke antiamerikanische Einstellungen vor, ebenso versuchten nahezu alle Akteure die Konfliktfolgen als Politikversagen der Bundesregierung zu instrumentalisieren (LfV NW 2023, S. 75f.).

Über das Bundesgebiet hinweg wurden vom BfV in Einzelfällen auch Ausreisebekundungen und -versuche von Rechtsextremist:innen beobachtet, jedoch werden keine näheren Angaben zu spezifischen Bundesländern gemacht. Laut BfV dienten sie zumeist der „Berichterstattung“ vor Ort oder vermeintlichen humanitären Hilfeleistungen. In wenigen Fällen sei aber auch der Anschluss an militärische Verbände angestrebt worden (BfV 2023, S. 61). Von Ausreisen mit solchen Absichten berichten indes nur zwei LfV: Den Ausführungen des LfV NW zufolge sei im September 2022 ein Rechtsextremist ausgereist, bei dem Anhaltspunkte für eine Beteiligung an Kampfhandlungen auf ukrainischer Seite vorgelegen hätten (LfV NW 2023, S. 78). Einzelne Ausreisen in das Kampfgebiet hätte es ebenfalls in SN gegeben (LfV SN 2023, S. 85).

Die rechtsextremistische Musikszene

Rechtsextremistische Musik sei primär im informell und strukturlos organisierten subkulturellen Rechtsextremismus verankert, verfüge aber auch für die neonationalsozialistische Szene und den parteigebundenen Rechtsextremismus durch seinen indoktrinierenden und werbenden Charakter über eine besondere Bedeutung (LfV NI 2023, S. 57). Alle Berichte der LfV und des BfV setzen sich mit dem Phänomen in (Unter-)Kapiteln auseinander. Dem BfV zufolge sei nach einem Corona-bedingten Rückgang der Aktivitäten bundesweit wieder ein Anstieg von Konzert- und Musikveranstaltungen festzustellen (2021: 144; 2022: 257), wobei sich ein Trend hin zu kleineren Events und Veranstaltungsformen (Lieder- und Balladenabende) in einschlägigen Szeneobjekten abzeichne (BfV 2023, S. 65). Häufig seien auch Mischformen mit politischen Redebeiträgen zu beobachten. Eine konkrete Aufschlüsselung der Veranstaltungsorte findet sich allerdings nicht. Alle LfV thematisieren in ihren Berichten hingegen örtliche Musikgruppen und/oder Liedermacher:innen, wobei sich regionale Schwerpunkte abzuzeichnen scheinen: In BB gäbe es im Berichtszeitraum 25 Bands sowie 14 Liedermacher:innen und entsprechende Vertriebsstrukturen. Damit bilde das Land ein Zentrum der rechtsextremistischen Musikszene in Deutschland (LfV BB 2023, S. 8, 69). Im Hinblick auf die bundesweit bekannten Musikveranstaltungen in 2022 lasse sich wiederum erkennen, dass SN mit zwölf Konzerten, 24 Liederabenden beziehungsweise sonstigen Musikveranstaltungen sowie 26 Musikgruppen und Liedermacher:innen als weiteres Schwerpunktland zu betrachten sei (LfV SN 2023, S. 73–76). Auch hier existierten bedeutende Vertriebsstrukturen. Mit sechs Konzerten, 39 Liederabenden und sonstigen Musikveranstaltungen gelte Ähnliches für ST (LfV ST 2023, S. 82). Im Vergleich verzeichnete das einwohnerstärkste Bundesland NW im Jahr 2022 insgesamt zwei Konzerte, 13 Lieder- beziehungsweise Balladenabende und zehn sonstige Veranstaltungen mit Livemusik (LfV NW 2023, S. 118).

Unisono wird seitens der Behörden die Relevanz der rechtsextremistischen Musikszene als Vernetzungsort und Einnahmequelle beschrieben. Zugleich diene sie aber auch der Festigung der eigenen Ideologie, böte Gelegenheit zur Schärfung der Feindbildkonstruktionen und ermögliche einen Erlebnisraum (LfV SH 2023, S. 56; LfV HE 2023, S. 110f.; LfV RP 2023, S. 92f.). Die Formen der Musikdarbietungen, Bands und Genres seien äußerst wandelbar und hätten sich gerade in den letzten Jahren nochmals diversifiziert. Als einer der wenigen strukturierten Akteur:innen in diesem Feld werden von einigen LfV die „Hammerskins“ ausgemacht. Sie gelten als eine internationale Vereinigung, wobei ihr deutscher Ableger im September 2023 durch das Verbot von Bundesinnenministerin Nancy Faeser starke öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Oftmals seien sie es, die die länderübergreifende Musikszene prägten, Konzerte im In- und Ausland organisierten und Szeneartikel vertreiben würden (LfV BB 2023, S. 49; LfV BY 2023, S. 228f.; LfV HB 2023, S. 52; LfV HH 2023, S. 100; LfV RP 2023, S. 92f.). In Kontrast hierzu findet die Gruppierung im Bericht des BfV keine Erwähnung.

Eine Internationalisierung der Szene

Als einen bundesweiten und strömungsübergreifenden Trend identifizierten die Behörden eine Internationalisierung der rechtsextremistischen Szene. So seien Mitglieder der Partei „Die Rechte“ aus NW zu zentralen „Gedenkveranstaltungen“ ins Ausland gereist, an denen zum Teil auch Rechtsextremist:innen aus BB, HE, MV, SN und ST teilgenommen hätten. Ebenfalls habe der Dortmunder Kreisverband der Partei „Die Rechte“ einen Kongress des rechtsextremistischen Bündnisses „Fortress Europe“ in Dortmund veranstaltet, zu dem Vertreter:innen aus Ungarn, Bulgarien, Frankreich, der Schweiz, Tschechien und den Niederlanden angereist seien (LfV NW 2023, S. 103). In BY bestünden wiederum Verbindungen in die rechtsextremistische Szene nach Italien (LfV BY 2023, S. 189). Aber auch Konzertteilnahmen von Einzelpersonen, Personenzusammenschlüssen und Musikgruppen im Ausland konnten seitens der Behörden festgestellt werden. In BW sei beispielsweise die Ausreise von Neonationalsozialist:innen nach Bulgarien zu einer Musikveranstaltung verhindert worden (LfV BW 2023, S. 66). Mehrere ausländische Bands spielten im Gegenzug in Deutschland in verschiedenen Szenelokalen. Dennoch sei es vielerorts auch zur Verhinderung solcher Zusammenkünfte aufgrund behördlicher Maßnahmen gekommen (BfV 2023, S. 66). Unter einem ähnlich starken Fokus der Behörden hätten auch Kampfsportveranstaltungen gestanden, die in der Szene aufgrund ihrer Rolle als Kampfertüchtigungsgelegenheiten, Vernetzungs- und Einnahmemöglichkeiten sowie durch ihre gemeinschaftsstiftende Funktion zu einem organisationsformübergreifenden Merkmal geworden seien (BfV 2023, S. 66f.).

Der Immobilienerwerb und -besitz durch „völkische Siedler:innen“

In nord- und ostdeutschen Bundesländern (BB, NI, SN, ST) wird verstärkt von Rechtsextremist:innen und sogenannten „völkischen Siedler:innen“ berichtet, die durch Siedlungsbestrebungen beabsichtigten, einzelne kleinere Ortsgemeinschaften ideologisch zu beeinflussen. Auch das BfV behandelt dieses Themengebiet, ohne allerdings näher auf die spezifische Lage der Länder einzugehen. Die zugrunde liegenden Intentionen, die handelnden Akteur:innen und ihr Gedankengut seien vielfältig, häufig bestünden Querverbindungen in das „Reichsbürger:innen“- bzw. „Selbstverwalter:innen“- und „Delegitimierer:innen“-Milieu (BfV 2023, S.70f.). Zu beobachten seien unterschiedliche Bestrebungen: Manche zielten darauf ab, jenseits staatlicher Kontrolle autarke Rückzugsräume für gleich gesinnte Personen zu bilden, während andere durch das aktive Einbringen vor Ort eine Anschlussfähigkeit an die eigene Gedankenwelt herstellen wollen würden (BfV 2023, S. 70). In NI würden „völkische Siedler/Personenzusammenschlüsse“ beobachtet, die im Familien- und Freundeskreis jenseits urbaner Räume eine naturnahe, ländliche Lebensgestaltung auf Grundlage eines völkisch-nationalistischen Weltbilds, entsprechender Verhaltens- und Denkmuster sowie neuheidnischer Traditionen führten (LfV NI 2023, S. 113). Oft seien Personen auch in anderen rechtsextremen Zusammenschlüssen aktiv oder hätten eine gemeinsame Vergangenheit in mittlerweile verbotenen Jugendorganisationen. Landhöfe oder bäuerliche Grundstücke würden preisgünstig erworben, oft fänden Brauchtums- und Gemeinschaftspflege in Form von Sommerlagern oder ähnlichen Veranstaltungen statt, die auch der Indoktrination von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen dienen sollen (LfV NI 2023, S. 113). In SN ständen hingegen eng miteinander verbundene Rechtsextremist:innen im Fokus, die offen für Ansiedlungen im mitteldeutschen Raum werben (LfV SN 2023, S. 53). Der LfV ST beschreibt indes, dass einige der Rechtsextremist:innen, die ein Teil der völkischen Siedlungsbewegung in ST ausmachen, auch der „Anastasia-Bewegung“ zuzurechnen seien. Diese aus Russland stammende esoterisch-ökologische Bewegung sähe im Rahmen ihres internationalen Netzwerks die Etablierung von autarken Familienlandsitzen und die Ablehnung der modernen, pluralen Gesellschaft vor und werde daher beobachtet (LfV ST 2023, S. 66).

Zusammenfassung

Die heterogene rechtsextremistische Szene ist über die Bundesrepublik hinweg vielschichtig und verschiedenartig aktiv. Es lassen sich größere, länderübergreifende Trends für das Berichtsjahr 2022 nachzeichnen, dazu zählen der (weitestgehend) schwindende Einfluss des traditionellen rechtsextremen Parteienspektrums, die versuchte Instrumentalisierung des russischen Angriffskriegs, die Vernetzung mit ausländischen Akteur:innen sowie das Wiederaufleben der Konzert- und Veranstaltungsaktivitäten. Dennoch sind die Berichte auch von Uneinheitlichkeit geprägt: Phänomene werden unterschiedlich eingeordnet, es wird nicht kohärent an der inhaltlichen Einteilung des Personenpotenzials festgehalten oder es werden länderspezifische, thematische Akzentuierungen hervorgehoben. Zuletzt zeichnen sich die Berichte auch dadurch aus, dass einige Länder als Hochburg für bestimmte Akteur:innen, Organisationsformen und Phänomene betrachtet werden, während über diese in anderen Ländern kaum oder gar nicht berichtet wird.

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Nils Langer studierte B.A. Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, in Kürze Abschluss des M.A. an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Inhaltliche Schwerpunkte liegen auf der nationalen/internationalen Sicherheitspolitik sowie der Extremismusforschung. Sammelte praktische Erfahrungen im Fachbereich Extremismus der Bundeszentrale für politische Bildung, in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik sowie der Forschungs- und Beratungsstelle Terrorismus/Extremismus des Bundeskriminalamts.