Referierende:
Ungarn:
János Gadó, Redakteur der jüdischen Zeitung "Szombat", Budapest
Niederlande:
Willem Wagenaar, Anne Frank Stiftung Amsterdam
Österreich:
Dr. Karin Stögner, Universität Wien
Moderation: Dr. Cordelia Heß, Stockholm University
Antisemitismus wurde traditionell als einer der grundlegendsten ideologischen Bausteine von Faschismus und der extremen Rechten gesehen. Mit dem Aufkommen der rechtspopulistischen Parteien und ihrem Erfolg in vielen europäischen Ländern hat sich diese Gewissheit teilweise geändert und verschoben. Das Panel wollte die aktuelle Situation in Ungarn, den Niederlanden und Österreich beleuchten - in drei Ländern also, in denen rechte Parteien erheblichen parlamentarischen Erfolg haben. János Gadó aus Budapest, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift 'Szombat', beschrieb den Antisemitismus in Ungarn vor allem aus der Sicht der jüdischen Gemeinde in Budapest, die eine der größten in Europa ist und sich durch ein vielfältiges kulturelles und intellektuelles Leben auszeichnet. Der Erfolg der Jobbik-Partei hat nach Gadó vor allem zu einer Verschärfung des diskursiven Klimas geführt, verbale Angriffe vor allem in der virtuellen Welt sind an der Tagesordnung. Gadó wies besonders auf die Bedeutung des kollektiven ungarischen Geschichtsmythos hin, der auf der Idee aufbaut, die UngarInnen seien primär FreiheitskämpferInnen gegen das faschistische Deutschland gewesen. Antisemitismus in Ungarn heute, so Gadós, speise sich aus der Konfrontation dieses Geschichtsbildes mit den Fakten der Shoah, Kollaboration und Denunziation, und drehe sich insofern oft um geschichts- und erinnerungspolitische Kontroversen.
Ganz anders stellt sich die Situation in den Niederlanden dar, wo es keine nennenswerten jüdischen Gemeinden gibt. Willem Wagenaar von der Anne Frank Foundation in Amsterdam betonte, dass die extreme Rechte in den letzen Jahrzehnten auf wenige hundert Personen zurückgegangen sei und entsprechend keine Rolle für die Entwicklung des Antisemitismus spiele, während die rechtspopulistische Partei sich eher als philosemitisch präsentiert. Gewalttätige Übergriffe auf jüdische Einrichtungen und/oder Personen sind aus den letzten Jahren nicht bekannt, aber Wagenaar wies auf drei Bereiche hin, in denen dennoch ein Anstieg antisemitischer Äußerungen zu verzeichnen ist: erstens die Schulen, aus denen 30% der LehrerInnen berichten, antisemitische Äußerungen regelmäßig in den Klassenzimmern zu hören. Der zweite Bereich ist die Fußball-Subkultur, und drittens die muslimischen migrantischen Communities - der Antisemitismus letzterer nimmt in der niederländischen Debatte den breitesten Raum ein, dies lässt sich aber nicht durch das tatsächliche Ausmaß an Vorfällen oder Übergriffen rechtfertigen, so Wagenaar.
Karin Stögner von der Universität Wien schließlich fokussierte auf antisemitische Äußerungen aus den Reihen der FPÖ, die einerseits ständig ihre pro-israelische Haltung betont, andererseits besonders in ihrer Eigeninszenierung als Opfer - der politischen Korrektheit, der anderen Parteien, etc. - besonders gern den Holocaust verharmlost, indem sie sich selbst als verfolgte Juden bezeichnet. Ein Problem in der Wahrnehmung solcher Äußerungen, so Stögner, sei die Tatsache, dass Antisemitismus mit dem Genozid Nazideutschlands gleichgesetzt werde und deshalb niedrigschwelligere Formen von Antisemitismus oft nicht erkannt und als solche wahrgenommen würden. Neben der Verharmlosung des Holocaust in Form von Täter-Opfer-Umkehrungen kommt Antisemitismus in Österreich auch in Form verkürzter Kapitalismuskritik mit antisemitischen Stereotypen und Zuschreibungen vor.
Die Debatte nach den Präsentationen der ReferentInnen drehte sich vor allem um vergleichende Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der drei Länder, etwa bezüglich der Reaktionen der jüdischen Gemeinden auf antisemitische Vorfälle. Besonderes Interesse zeigten die Teilnehmenden an den verschiedenen Geschichtsmythen, die Gadós und Stögner als Grundlage des gegenwärtigen Antisemitismus ausmachten. Insgesamt wurde von allen Beitragenden der Antisemitismus der rechtspopulistischen Parteien und in der Folge im allgemeinen politischen Diskurs als zwar sehr unterschiedlich ausgeformte, aber durchaus überall weiterhin präsente Realität dargestellt.