Gesellschaften „‘haben‘ kein Gedächtnis, sie ‘machen‘ sich eines“ (Assmann 2008). Dieses kollektive Gedächtnis bestimmt darüber, wem erinnert wird, an welchen Orten dies geschieht und in welcher Form. Während die Erinnerung an den Holocaust und die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg notwendigerweise den Kern der deutschen Erinnerungskultur darstellt, hatte die öffentliche Auseinandersetzung mit rechtsextremistischer Gewalt nach Ende des Zweiten Weltkrieges im kollektiven Gedächtnis oft nur wenig Raum.
Rechtsextremistische Gewalt ist in Deutschland jedoch nie verschwunden und hat weiterhin Bestand. Diese Kontinuität wurde in der Erinnerungskultur lange Zeit ausgeklammert (vgl. Fischer 2021,
Der Begriff„Erinnerungskultur“
So selbstverständlich der Begriff der „Erinnerungskultur“ heute auch in die bundesdeutschen Debatten gehören mag, er ist noch relativ jung und hat sich erst in den 1990er-Jahren etabliert. Das Erinnern der nationalsozialistischen Vergangenheit mit all ihrer Gewalt und persönlichen Verstrickungen musste in Deutschland zunächst errungen werden. In den ersten Jahrzehnten nach Ende des
Umkämpfte Erinnerung an rechtsextreme Gewalt nach 1945
Es gibt zahlreiche Bestrebungen in Bildung und Kultur, Erinnerungskultur inklusiver zu gestalten, um diese neuen Realitäten zu erfassen (vgl. Mannitz et al. 2023). Zivilgesellschaftliche Initiativen, Betroffene und Angehörige sind häufig wichtige Akteure, um Opfer rechtsextremistischer Gewalt sichtbar zu machen: Sie treten für die juristische und politische Aufarbeitung ein, um den Opfern und Tatumständen zu erinnern, demonstrieren, schaffen Gedenkorte und -praktiken. Zudem fordern sie die Gesellschaft auf, zu verhindern, dass rechtsextremistische Gewalt sich wiederholt. In ihrer Erinnerungsarbeit treffen Akteure jedoch häufig auf Widerstände.
Die Anschläge in Solingen, Hanau und des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) gelten als Beispiele verschiedener Phasen rechten Terrors im wiedervereinigten Deutschland. Anhand der drei Beispiele soll skizziert werden, wo es zu erinnerungspolitischen Versäumnissen kam und wie Zivilgesellschaft, Betroffene und Angehörige sich dafür einsetzten, diese Lücken aufzuzeigen und zu füllen.
Solingen – Erinnerung an die „Baseballschlägerjahre“
Gewaltgeschichte
Am 29. Mai 1993 wurden bei einem rassistischen Brandanschlag fünf Frauen und Mädchen im Wohnhaus der Familie Genç in Solingen ermordet und weitere 14 Familienmitglieder verletzt. In Solingen starben Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Während die Betroffenheit in der Stadtgesellschaft groß war, bestätigte der Brandanschlag für weite Teile der migrantischen Gemeinschaft in Deutschland ihre alltägliche Angst. Die Tat reihte sich in eine
Politik
Das Gedenken an den Anschlag von Solingen begann mit einer Trauerfeier. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker ging in einer Rede auf das „rechtsextremistisch erzeugte Klima“ (von Weizsäcker 1993) und die weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit ein, die Morde wie in Solingen hervorbrächten. Diese Einschätzung stieß jedoch nur auf wenig Resonanz. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen Regierung zuvor den sogenannten
Zivilgesellschaft und Betroffene
Die Erinnerungsarbeit wurde lange durch Angehörige und Zivilgesellschaft vorangetrieben. Beispielhaft dafür steht das Solinger Mahnmal. Stadtrat und Stadtverwaltung reagierten zögerlich bis ablehnend auf den Vorstoß für eine Gedenkstätte. So war es eine Initiative aus der Zivilgesellschaft, die kurz nach dem Anschlag ein Mahnmal realisierte: Die Jugendhilfe-Werkstatt Solingen e.V. fertigte ein Mahnmal an, das bis heute auf dem Gelände der Mildred-Scheel-Berufskolleg steht (vgl. Jugendhilfe-Werkstatt Solingen e.V.). Auch die Familie Genç engagierte sich von Anfang an für die Erinnerung ihrer Angehörigen. Ihnen voran Mevlüde Genç, die bei dem Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor. Sie stand bis zu ihrem Tod 2022 öffentlich für die Erinnerung der Geschehnisse, für die Versöhnung und gegen den Hass ein.
Öffentliche Auseinandersetzung
Trotz dieser Bestrebungen war eine breite bundesweite Erinnerung an Solingen jahrelang nicht existent. Die öffentlichen Debatten der 1990er-Jahren wurden lange von einer affirmativen Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung dominiert, während die Erinnerungen an Anfeindung, Hass und Gewalt darin kaum einen Platz hatten (vgl. Perinelli 2022: 22). Erst in den vergangenen Jahren wurden die Leerstellen durch das Zusammentragen von Gewalt- und Rassismus-Erfahrungen der sogenannten
Erinnerung
Auf der Gedenkfeier zum 30. Jahrestag des Anschlags benannte Bundespräsident Steinmeier explizit die kontinuierliche rechtsextremistische Gewalt: „Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen. Es gibt eine Kontinuität von rechtsextremer Gewalt in unserem Land" (Steinmeier 2023). Özlem Genç wies in ihrer Rede darauf hin, dass die Erinnerung an das Schicksal ihrer Familie auch weiterhin eine Mahnung seien müsste. Im Rahmen des 30. Jahrestag wurde außerdem eine Ausstellung in Solingen eröffnet, die den Anschlag künstlerisch aufarbeitet. Ohne den Einsatz der Betroffenen rechtsextremer Gewalt hätte es diese Ausstellung wohl nicht gegeben, Externer Link: so die Kuratorin Hanna Sauer.
NSU – Strukturelles Versagen und stockende Aufarbeitung
Gewaltgeschichte
Symptomatisch für die Kontinuität
Politik
Mit der Selbstenttarnung der Zwickauer Zelle um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe im November 2011 begann die Aufdeckung des Versagens deutscher Sicherheitsbehörden. Über ein Jahrzehnt hinweg konnten die Terrorist*innen deutschlandweit Morde, Bombenanschläge und Überfälle begehen, ohne, dass sie trotz vorliegender Hinweise gestellt wurden. Die Behörden vermuteten sogenannte „Ausländerkriminalität“ und mafiöse Strukturen in der türkischen Community, aber keine rassistischen Tatmotive. Angehörige wurden verdächtigt und ihre Hinweise nicht ernstgenommen (vgl. Karakayalı/Perinelli 2023: 34).
Zivilgesellschaft und Betroffene
Die Sicherheitsbehörden schlossen, begünstigt durch ein mangelndes Bewusstsein und fehlende Sensibilität für bestehende rechtsextreme Gewaltpotenziale, die Existenz eines rechtsextremistischen Terror-Netzwerks in Deutschland aus – und das, obwohl Angehörige sie immer wieder aufforderten, in diese Richtung zu ermitteln (vgl. Karakayalı/Perinelli 2023: 35). Diese fehlende Benennung der Taten als rechter Terror blieb lange eine Leerstelle. Erst durch die Selbstenttarnung des NSU wurde die Erinnerung an die rechtsextremistischen Taten und damit auch eine Anerkennung für die Opfer möglich.
Öffentliche Auseinandersetzung
Nachdem das Ausmaß der Taten ersichtlich geworden war, richtete sich das öffentliche Interesse vor allem auf das Versagen der Sicherheitsbehörden, die immer wieder Hinweise ignoriert hatten. Insbesondere die Rolle des
Erinnerung
Leerstellen gab es lange im Hinblick auf Erinnerungsorte. In mehreren Städten kam es zu Verzögerungen und Unklarheiten über Gedenkorte für Opfer des NSU – so etwa in Köln, wo das 2014 beschlossene Mahnmal für den Bombenanschlag in der Keupstraße nach wie vor nicht errichtet ist. Dort wo Gedenkorte entstanden sind, werden diese immer wieder geschändet (vgl. Lutz/Naumann 2019). Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist nun festgeschrieben, dass sie den Aufbau eines zentralen Gedenkorts und eines Dokumentationszentrums unterstützen will (Koalitionsvertrag 2021: 117). In diesem Vorhaben soll Erinnerung mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes verknüpft werden: So soll auch ein Online-Archiv für rechten Terror entstehen. Form und Ort der Gedenk- und Dokumentationsstätte sind allerdings noch ungeklärt. Die Angehörigen erhoffen sich nach vielen Enttäuschungen bei dessen Realisierung nun umfassend eingebunden zu werden (vgl. Hess 2023: 41ff.).
Hanau – Kämpferische Erinnerung gegen das Vergessen
Gewaltgeschichte
Am Abend des 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias R. an mehreren Tatorten in Hanau innerhalb von sechs Minuten neun Frauen und Männer mit Migrationsgeschichte: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der rassistische Mordanschlag reiht sich in die jüngste Welle rechtsextremistischer Gewalt seit 2016 in Deutschland ein. Zuvor töteten rechtsextremistisch und rassistisch motivierte Täter in München, Halle und Kassel zwölf Menschen. Der Täter von Hanau hatte rassistische Pamphlete im Internet veröffentlicht und ging gezielt gegen Personen mit Einwanderungsgeschichte vor.
Politik
Die Bundespolitik zeigte sich bestürzt über den Terror in Hanau. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte: „Rassismus ist ein Gift (…). Und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft. Und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen“ (Schmidt-Mattern 2020). Die neuerliche Welle rechtsterroristischer Gewalt schien in staatlichen Stellen ein neues Bewusstsein für rechtsextreme Potenziale hervorgerufen zu haben. Die derzeitige Innenministerin Nancy Faeser betonte wiederholt, dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland darstelle.
Zivilgesellschaft und Betroffene
Es war abermals vor allem der Einsatz von Angehörigen und Zivilgesellschaft, der die Erinnerungsarbeit vorantrieb. Betroffene, Angehörige und Unterstützer*innen schlossen sich in der „Initiative 19. Februar Hanau“ zusammen und drängten erfolgreich auf die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag. Sie forderten die Aufklärung der Tathintergründe sowie des Polizeieinsatzes in der Tatnacht und organisierten Veranstaltungen, um den Opfern zu gedenken sowie für die Anliegen der Angehörigen einzutreten. In der Arbeit der Initiative 19. Februar zeigt sich ein weites und forderndes Verständnis von Erinnerung, das über ein bloßes Gedenken hinaus geht und auf die Aufarbeitung zielt. Ihren Unterstützungsaufruf zum dritten Jahrestag des Anschlags schlossen die in der Initiative organisierten Angehörigen mit den Worten: „Erinnern heißt verändern“. Erst, wenn verstanden wurde, was in Hanau geschehen ist, könne dafür gesorgt werden, dass es nicht anderswo geschieht.
Öffentliche Auseinandersetzung
Der Initiative gelang es, den öffentlichen Diskurs mitzubestimmen. Ihre Erinnerungsarbeit in Hanau stieß vor allem auch in den sozialen Medien auf breite Resonanz. Es gab eine große Anteilnahme an der Kampagne „#SayTheirNames“. Unter diesem Hashtag sollten die Namen und Gesichter der Opfer sichtbar gemacht werden. Viele Menschen beteiligten sich online und offline an der Aktion und auch in der Berichterstattung nach dem Attentat wurden immer wieder die Namen aller Opfer genannt.
Erinnerung
Als Reaktion auf den Terror wurde ein Externer Link: Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingerichtet, der ein Jahr lang Maßnahmen für verschiedene Sektoren erarbeitete. In dem Abschlussbericht wird auf den erinnerungspolitischen Umgang mit rechtsextremer Gewalt eingegangen und Beteiligungsformate für eine lokale Erinnerungskultur besprochen (vgl. Bundesregierung 2021: 24). Dieser Aspekt war schon in Hanau relevant geworden. Lokale Politik und insbesondere Bürgermeister Claus Kaminsky hatten sich dazu bekannt, eine Gedenkstätte in Hanau errichten zu wollen. Doch Uneinigkeiten in der Stadtöffentlichkeit zu Form und Ort des Denkmals ließen das Projekt ins Stocken geraten. Mittlerweile hat ein öffentlicher Wettbewerb einen Entwurf hervorgebracht. Über den Ort gehen die Meinungen zwischen Lokalpolitik und Angehörigen allerdings auseinander, sodass der Erinnerungsort noch nicht umgesetzt wurde (vgl. Mannitz et al. 2023).
Erinnerung an rechtsextreme Kontinuitäten
Die drei Beispiele deuten auf Leerstellen hin, die in der jeweiligen erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit rechtem Terror zutage traten: die unzureichende Sichtbarkeit von Opfern, die lange Zeit fehlende Benennung rechtsextremer Potenziale, Widerstände gegen Erinnerungsorte und eine unvollständige Aufarbeitung. Diese Lücken erschweren es, gesamtgesellschaftlich zu erinnern, was passiert ist sowie rechtsextremen Gewalttaten vorzubeugen.
Die Beispiele zeigen aber auch ein wachsendes Bewusstsein für rechtsextreme Kontinuitäten. Die erinnerungspolitischen Folgen dieser Erkenntnis sind jedoch meist noch unkonkret. In allen drei Fällen betrieben maßgeblich Betroffene, Angehörige sowie zivilgesellschaftliche Akteure die konkrete Erinnerungsarbeit und setzten sich für Aufarbeitung ein.
Ausblick
Eine Erinnerungskultur, die die deutsche Verpflichtung an ein „Nie Wieder“ als Mahnung und Auftrag versteht, sollte in ihren Formaten und Erzählungen den Fortbestand rechtsextremer Gewalt selbstkritisch thematisieren. So können Voraussetzungen geschaffen werden, um „rechtem Terror die gesellschaftliche Grundlage [zu entziehen]“ (Keller 2021). Erinnerungskultur kann eine Gesellschaft nicht immunisieren, aber sie muss eine vollständige(re) Erzählung über rechtsextreme Potenziale in dieser Gesellschaft bieten und Bürger*innen für diese sensibilisieren. Dabei ist die Einbindung von Betroffenenperspektiven unerlässlich, um das Bild deutscher Gewaltgeschichten erweitern zu können.