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Querdenken und Verschwörungserzählungen in Zeiten der Pandemie | Rechtsextremismus | bpb.de

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Querdenken und Verschwörungserzählungen in Zeiten der Pandemie

Fabian Virchow

/ 6 Minuten zu lesen

(© picture alliance/dpa | Christoph Schmidt)

„So entwickelte sich am Samstagnachmittag rund um die Querdenken-Kundgebung zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule eine teils bizarre Szenerie. Junge und alte Männer und Frauen hatten sich da versammelt, Hippies, manche hatten im Tiergarten kleine Lager aufgeschlagen, Kinder spielten dort. Zwischendrin verteilte die NPD Flugblätter, vereinzelt waren auch Flaggen des Deutschen Kaiserreichs zu sehen. Masken wurden nicht getragen und der Sicherheitsabstand trotz ständiger Ermahnungen kaum gewahrt. Als Ballweg (Anm. der Red.: Michael Ballweg, Mitinitiator der Querdenken-Bewegung) seine Mitstreiter über Lautsprecher von der Bühne neben der Siegessäule aufrief, die Hand aufs Herz zu legen, folgten ihm viele. ‚Mit der Hand auf dem Herzen setzen wir ein Zeichen für Liebe und Frieden in der Welt‘, sagte Ballweg. Seine Sympathisanten wirkten da eher wie Jünger.“

Ganz ähnlich wie diese Darstellung, die am 30. August 2020 im Anschluss an eine Großdemonstration in Berlin in der „Süddeutschen Zeitung“ erschien, lasen sich zahlreiche Medienberichte über die seit dem Frühjahr 2020 in zahlreichen Orten der Bundesrepublik stattfindenden Versammlungen, in deren Rahmen Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie geübt wurde. Die rasch mit dem Etikett des „Querdenkens“ versehenen Demonstrationen fanden deutlich mehr Aufmerksamkeit als jene Versammlungen, die von Kulturschaffenden und Gastronomen organisiert worden waren, um auf deren prekäre ökonomische Lage aufmerksam zu machen. Anfangs fanden sich bei den Versammlungen von „Querdenken“ oder Gruppen wie der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ mehrere Menschen ein, die offenbar die Sorge um die Einschränkung demokratischer Freiheiten oder die ökonomischen Folgen der staatlich angeordneten Restriktionen antrieb. Bald schon setzten sich jedoch Verschwörungserzählungen als verbindendes Element unter der Mehrheit der Teilnehmenden durch.

Rechtsextreme Akteure auf Querdenken-Demos

Sieht man das Coronavirus SARS-CoV-2 als kaum gefährlicher als eine Grippe an – falls man es nicht ohnehin als Erfindung betrachtet –, so liegt es auf der Hand, zu vermuten, dass die zeitweise tief in den Alltag einschneidenden Maßnahmen des Staats einen anderen Zweck als den der Pandemiebekämpfung verfolgen. Entsprechend stimmte auch ein sehr hoher Prozentsatz der 1.150 Teilnehmer*innen einer großen „Querdenken“-Demonstration in Konstanz im Oktober 2020 bei einer Befragung Aussagen zu, dass die Gefährlichkeit des Virus nicht gegeben sei, die Regierung die Gefahr übertreibe und willkürlich handele. Bei den beiden Großdemonstrationen in Berlin, Anfang und Ende August 2020, bedienten die Redner*innen auf vielfältige Weise die Interpretation, nach der die staatlichen Maßnahmen einem ganz anderen Zweck dienten – und das Publikum schien gerade deshalb gekommen zu sein, denn es goutierte entsprechende Behauptungen mit Beifall.

In Situationen der existenziellen Krise können Verschwörungserzählungen dem nach Verstehen und Sicherheit suchenden Individuum nicht nur eine (scheinbar) eindeutige Erklärung dafür bieten, was gerade passiert. Sie reduzieren auch das Gefühl der Verunsicherung und Bedrohung und stiften ein Gefühl der Zugehörigkeit zu all denen, die ebenfalls „verstanden“ haben, dass es der Regierung (oder wahlweise einer die Regierung kontrollierenden Gruppe) bei den staatlichen Maßnahmen lediglich um die Ausweitung der eigenen Macht gehe.

Vier Gruppen des Verschwörungsglaubens

Die „soziale Landkarte“, die Verschwörungserzählungen zeichnet, ruft vier Gruppen auf: die kleine Kerngruppe der Verschwörer*innen; eine deutlich größere Gruppe, die dieser Kerngruppe naiv, opportunistisch oder aus Gewinninteresse zuarbeitet; die große Mehrheit der Bevölkerung, die manipuliert wird; und die kleine Gruppe derjenigen, die die tatsächlichen Hintergründe bereits erkannt hat und nun unter hohem persönlichem Risiko um Aufklärung ringt. Die Selbstbezeichnung als „Querdenker“ spiegelt bereits ein Paradigma aus Verschwörungserzählungen wider: „Nichts ist, wie es scheint. Hinterfrage alles.“

Bei den Versammlungen der „Querdenken“-Bewegung wurden von Redner*innen, in Flugschriften, aber auch auf Kleidungsstücken und Transparenten von Teilnehmenden ganz verschiedene, einander vielfach auch widersprechende Verschwörungserzählungen aufgerufen. Mal wurde beispielweise behauptet, Bill Gates sei der Drahtzieher hinter der bewusst herbeigeführten Pandemie, weil dieser mit den Impfungen seinen weltweiten Einfluss ausbauen wolle; mal wurden die kryptischen Botschaften von „QAnon“ – einer Bewegung von Verschwörungstheoretiker*innen mit rechtsextremen Inhalten, die sich 2017 im umstrittenen Internetforum „4Chan“ formiert hat und die von US-amerikanischen und deutschen Behörden und Expert*innen als Gefahr für die Demokratie eingestuft wird3 – verbreitet oder von einer umfassenden Neuordnung der Gesellschaft („great reset“) gesprochen, die die Regierung(en) mithilfe der „Lügenpresse“ zum Nachteil des Volkes umsetzen würde.

Instrumentalisierung der Begriffe

Die bei Versammlungen von „Querdenken“ immer wieder auf Plakaten und in Sprechchören aufgerufenen Begrifflichkeiten wie „Frieden“, „Freiheit“, „Souveränität“ oder „keine Diktatur“ werten das eigene Handeln auf, weil sich damit mehrheitlich positive Wertungen verbinden. Diese Begriffe sind zugleich so deutungsoffen, dass sie für verschiedene Interpretationen anschlussfähig sind: wenn es um „Freiheit“ beziehungsweise „Souveränität“ geht, dann denkt – vereinfacht gesprochen – der Neonazi an die Befreiung von der angeblichen Weltherrschaft des Judentums, der Libertäre fordert für sich das Recht ein, über das Tragen einer Maske individuell entscheiden zu können, und manch Frauenbewegte sieht die Ablehnung des Impfens als konsequente Fortsetzung des Rechts auf die – in der Tat kollektiv hart erkämpfte – Kontrolle über den eigenen Körper.

In der Charakterisierung des Gegners greift die Bewegung zu Vokabeln wie „Diktatur“ und „Faschismus“, um Regierung, Ärzt*innen und Medienschaffende als das schlechthin Böse darzustellen und sich selbst moralisch aufzuwerten. Parallel zur Ausweitung des Impfangebots und als Teil der Verbreitung zahlreicher Falschmeldungen über Impffolgen wird in Publikationen und bei vielen Kundgebungen der „Querdenken“-Bewegung immer häufiger die Pandemiebekämpfung mit dem Menschheitsverbrechen des Holocaust gleichgesetzt . Entsprechend verbreitet sind Forderungen, die als verantwortlich Markierten in einer Neuauflage der Nürnberger Prozesse (in deren Rahmen 1945/46 die Hauptkriegsverbrecher der NS-Diktatur juristisch zur Rechenschaft gezogen wurden) zu bestrafen. Solche Beispiele zeigen einen besorgniserregenden Trend der NS- und Shoah-Relativierung, der offen antisemitische Verschwörungserzählungen übernimmt.

Bundesweite Mobilisierungen

Seit dem Frühjahr 2020 haben in sehr vielen Orten dieses Landes vermutlich 12.000 bis 15.000 Versammlungen dieser pandemieleugnenden Bewegung stattgefunden; die Ausbreitung der Bewegung hat zunächst in den beiden Großdemonstrationen in Berlin im August 2020 ihren Höhepunkt erreicht – zentrale Aktivist*innen der Bewegung bezeichneten diese als „Freiheitsbewegung“, die die größten Versammlungen seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten organisiert habe. Um die eigene Wirkmächtigkeit herbeizureden und die Ankündigung, man werde die Regierung stürzen und das „korrupte System“ beseitigen, irgendwie plausibel klingen zu lassen, wurde die Zahl der an diesen Demonstrationen Teilnehmenden deutlich überhöht. Inzwischen gelingt es mit Mühe, im Rahmen bundesweiter Mobilisierung einige Tausend Menschen auf die Straße zu bringen, zuletzt Anfang November 2021 in Leipzig. Dieser Rückgang der Teilnehmerzahlen erklärt sich maßgeblich damit, dass die mit der Bekämpfung der Pandemie verbundenen Einschränkungen bei niedrigen Infektionszahlen im Sommer entfielen; auch das Nichteintreten dystopischer Vorhersagen über negative Impffolgen mag bei einem Teil der Mobilisierten zu Zweifeln an den Zielen und den Behauptungen der Bewegung geführt haben. Wie sich das Geschehen in Deutschland im Verlauf der „vierten Welle“ entwickeln wird, bleibt (Stand: Ende November 2021) abzuwarten.

Nähe zur Politik

Ein Teil der Bewegung setzt – vor allem im Rahmen der aus der Bewegung entstandenen Partei „Die Basis“ – darauf, parlamentarisch Einfluss nehmen zu können; der harte Kern der Bewegung setzt auf der Grundlage eines hermetisch abgeschlossenen Weltbilds die Mobilisierung auf der Straße fort und denunziert dabei die Impfmaßnahmen und -regelungen als „unberechenbar gefährlich“, „verbrecherisch“ oder als „Impf-Apartheid“. Dabei wird vielfach der Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes bemüht, um auch Konfrontation und Gewalt als legitime Widerstandshandlungen erscheinen zu lassen. Etliche der Protestversammlungen boten extrem rechten Aktivist*innen jedweder Couleur – von der AfD über die „Identitäre Bewegung“ und die NPD bis zu sogenannten Reichsbürger*innen – weitgehend ungehindert Gelegenheit zur Agitation. Rechte Hooligans und Neonazis suchten gemeinsam mit anderen Teilnehmer*innen dieser Demonstrationen die Konfrontation mit der Polizei , indem sie Polizeiketten durchbrachen und die Beamt*innen mit Gegenständen bewarfen , und brachten so ihre Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaats zum Ausdruck.

Einschätzungen

Rechtsextremismus-Expert*innen bescheinigen der Szene der Pandemieleugner*innen infolge der zunehmenden Einkapselung in Verschwörungserzählungen und der Instrumentalisierung der Protestbewegung durch die radikale Rechte eine gefährliche Radikalisierung : von ersten Bedenken über den konkreten Nutzen einzelner Schutzmaßnahmen zur Propagierung antisemitischer Verschwörungserzählungen, aber auch zu Gewalt und Mordaufrufen gegen Politiker*innen, Medienschaffende oder an der Pandemiebekämpfung beteiligte Ärzt*innen. Auch Impfwillige wurden immer wieder eingeschüchtert und bedroht. Der Mord an dem 20-jährigen Tankstellenmitarbeiter Alexander W. in Idar-Oberstein im September 2021 durch einen Pandemieleugner ist bisher der tragische Höhepunkt dieser Entwicklung. Angesichts weiterer Gewalttaten – wie etwa den Sprengstoff- bzw. Brandanschlägen auf Forschungseinrichtungen wie das Robert Koch Institut – ist auch in Zukunft ein entsprechendes Gewalthandeln nicht auszuschließen.

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ist promovierter Politikwissenschaftler und Professor am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf. Sein Buch "Nicht nur der NSU. Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland" erscheint 2020 in aktualisierter Auflage. E-Mail Link: fabian.virchow@hs-duesseldorf.de