Demokratische Werteorientierung in der Praxis: Kriterien für einen Menschenrechts-orientierten Minimalkonsens
Nach Erfahrungen der MBR herrscht unter Jugendarbeiter/innen zuweilen Unsicherheit darüber, inwieweit die persönliche demokratische Werteorientierung auch professionell handlungsleitend sein kann – insbesondere dann, wenn mit rechtsextrem- orientierten Jugendlichen gearbeitet wird. Zudem weichen die individuellen Vorstellungen über eine solche Werteorientierung stark voneinander ab. Es ist daher sinnvoll, innerhalb einer Einrichtung einen professionellen politischen Minimalkonsens zu erarbeiten, in dem Kriterien der Werteorientierung für die Präventions- und Interventionsarbeit im Umgang mit Rechtsextremismus formuliert werden. Idealer Weise sollte ein solcher Diskussionsprozess möglichst viele Einrichtungen einbeziehen und in Regionen oder gar als kommunaler Standard Verankerung finden.
Da Werteorientierungen nicht verordnet werden können, sollte dies in einem kooperativen, demokratischen Verfahren geschehen, in dem Diskussionsvorlagen zunächst in einer Fachgruppe erarbeitet und später mit den Kolleg/innen aller Einrichtungen umfangreich diskutiert werden. Im Folgenden werden Kriterien aufgeführt, die nach Einschätzung der MBR als Grundlage eines demokratischen und menschenrechts-orientierten Minimalkonsenses dienen könnten.
Die Orientierung an demokratischen Werten ist nicht gleichbedeutend damit, alle Meinungen (also auch explizit anti-demokratische) gleichermaßen tolerieren und unwidersprochen hinnehmen zu müssen. Rechtsextreme Positionen und Ziele widersprechen einem an den Grund- und Menschenrechten orientierten professionellen Selbstverständnis fundamental. Grundvoraussetzung jeder sozialpädagogischen Praxis stellt die Orientierung an den Menschen- und Grundrechten dar. Das Grundgesetz fungiert als normative Rahmung des beruflichen Selbstverständnisses. Auf folgende fünf Punkte sollte in der Rechtsextremismus-Präventionsarbeit kontinuierlich Bezug genommen werden:
Anerkennung und Respekt der Würde jedes einzelnen Menschen;
Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen;
Einstehen für ein demokratisches Selbstverständnis in Abgrenzung zum National- sozialismus;
Bekenntnis zur Gewaltfreiheit;
Bekenntnis zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Anerkennung und Respekt der Würde jedes einzelnen Menschen
Menschenwürde
Menschenwürde bedeutet, dass allen Menschen von Geburt an Würde und grundlegende Rechte zukommen, die durch nichts verwirkt werden können. Im rechtsextremen Weltbild dagegen gewinnt der Einzelne seine Würde erst auf der Basis seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk und einer bestimmten Kultur. Daher steht immer das "Volk" im Sinne einer Bluts- und Kulturgemeinschaft im Mittelpunkt rechtsextremen Denkens und Handelns, nicht der einzelne Mensch. Deshalb stehen rechtsextreme Menschenbilder in einem absoluten Gegensatz zu einer demokratischen Werteorientierung.
Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen
Alle Menschen sind gleichwertig und haben die gleichen Grundrechte. Im rechtsextremen Denken und Handeln dagegen werden Minderheiten offen diskriminiert. Nicht-Weiße, Menschen mit Migrationshintergrund und Frauen gelten als ungleichwertig oder prinzipiell ungleich. Zu den Zielen rechtsextremer Gruppierungen gehört es, eine abstammungs- und kulturhomogene Volksgemeinschaft durchzusetzen. Nicht-weiße Menschen gehören aus ihrer Sicht minderwertigen »Rassen« an und können daher, selbst wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, keine "Deutschen" sein.
Im rechtsextremen Denken spielen Frauen zwar – was oft übersehen wird – eine wichtige, aber dennoch systematisch ungleiche Rolle. Das dominierende rechtsextreme Rollenverständnis sieht Frauen als Garantin der biologischen Reproduktion der »deutschen Volksgemeinschaft«, als Hüterin des Heims und Verantwortliche für die ideologische Erziehung. Frauen werden im rechtsextremen Weltbild auf eine im Vergleich zu Männern systematisch ungleiche Rolle festgelegt. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass Frauen bisweilen auch die Rolle einer politischen Aktivistin zugestanden wird. Diese rechtsextremen biologistischen Ungleichwertigkeitsvorstellungen stehen einer geschlechterdemokratischen Ausrichtung entgegen.
Handlungsleitend für jede Form sozialpädagogischer Praxis sollte es von daher sein, zum Abbau von Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung, Alter oder Religion beizutragen.
Einstehen für ein demokratisches Selbstverständnis in Abgrenzung zum Nationalsozialismus
Das Grundgesetz verkörpert als ganzes eine Abkehr von der menschenverachtenden nationalsozialistischen Politik. Im modernen Rechtsextremismus stellt der Nationalsozialismus dagegen einen positiven Bezugspunkt dar, seine Verbrechen werden verharmlost oder geleugnet. Ein positiver Bezug auf den historischen Nationalsozialismus, seine Verharmlosung oder der Versuch, ihn wieder zu beleben, widersprechen einem demokratischen Selbstverständnis grundlegend.
Das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt ohne Einschränkungen für alle Menschen. Gewaltanwendung gegen Minderheiten oder "politische Feinde" ist jedoch die logische Konsequenz der menschenverachtenden Grundannahmen rechtsextremen Denkens, das von der grundsätzlichen Ungleichwertigkeit von Menschen ausgeht. Insbesondere für Angehörige von Minderheiten wird mancherorts bereits durch die Präsenz (gewaltbereiter) Rechtsextremer ein Klima der Einschüchterung geschaffen, das sie in der Wahrnehmung ihrer Grundrechte beeinträchtigt. Daher muss ein weiteres Ziel sozialpädagogischer Jugendarbeit sein, dass innerhalb von Einrichtungen kein Klima von Einschüchterung und Bedrohung für nicht-rechte Jugendliche entstehen kann.
Das Bekenntnis zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
Während im Demokratischen Weltbild der einzelne Mensch unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Behinderung im Mittelpunkt steht und folglich der Staat Verantwortung gegenüber jedem einzelnen Menschen trägt, folgt aus einem völkischen Denken eine Verantwortung einzig dem "Volk" gegenüber, dem sich die/der Einzelne unterzuordnen hat. Rechtsextreme Vorstellungen, die davon ausgehen, dass sich die/der Einzelne in allen Entwicklungsmöglichkeiten dem Wohl der "Volksgemeinschaft" unterzuordnen hat und diesem jederzeit geopfert werden kann, stehen somit in grundlegendem Widerspruch zu dem demokratischen Auftrag, zur freien Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen beizutragen, der in § 1 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) als Grundsatz festgelegt ist. Allgemein findet das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit seine Grenze dort, wo dasselbe Grundrecht anderer verletzt wird. In diesem Spannungsfeld allgemeingültige Grenzen für den Alltag der Jugendarbeit zu ziehen, ist schwer.
In Bezug auf Rechtsextremismus bestehen Grenzbereiche aber dort, wo Personen menschenverachtende Inhalte vermitteln und dadurch negativen Einfluss auf die Entwicklung von anderen Jugendlichen nehmen. Diese Grenze gilt auch dort, wo durch die Anwesenheit von Rechtsextremen in einer Jugendfreizeiteinrichtung oder in ihrem Umfeld der Bewegungsspielraum nicht-rechter Jugendlicher eingeschränkt wird oder wo Jugendliche, die zu den "Feindgruppen" der Rechtsextremen gehören, bedroht oder angegriffen werden oder sich bedroht fühlen (s. "Interventionsmaßnahmen – Grundsätze und Empfehlungen"). Auf der Grundlage eines solchen politischen Minimalkonsenses können unterschiedliche Handlungsstrategien in einer Einrichtung, in einem Bezirk oder einer Region entwickelt werden, die von der Arbeit mit rechtsextrem-orientierten Jugendlichen über die Stärkung demokratischer Jugendkulturen bis hin zu sozialräumlichem Engagement für Demokratie und gegen Rechtsextremismus reicht.
Auszug aus: "Integrierte Handlungsstrategien zur Rechtsextremismusprävention und -intervention bei Jugendlichen", herausgegeben von Bianca Klose u.a. von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus und dem Verein für demokratische Kultur in Berlin – Initiative für urbane Demokratieentwicklung (VDK) e.V im Frühsommer 2007. Der Ausschnitt stammt aus Kapitel 3 (Folgerungen, S. 73 ff).
Der komplette Text ist als PDF erhältlich unter Externer Link: www.mbr-berlin.de