Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
vor einigen Wochen traf sich eine Gruppe von Experten und langjährigen Beobachtern der Entwicklung in der rechtsextremistisch orientierten Alltagskultur in Städten und Regionen in Ost- und Westdeutschland. Über die Diagnose wurde man sich schnell einig: Die Formen, in denen die rechtsextremistische Bewegung sich in den vergangenen 15 Jahren manifestiert hat, haben sich verändert. Wer nach Springerstiefeln, Glatzen und einer spezifischen Musikszene sucht, wird diese zwar noch finden. Wer aber aus der Verbreitung solcher Selbstdarstellungen auf die Dynamik der rechtsextremistischen Entwicklung schließen wollte, würde vermutlich zu dem Eindruck kommen: der Rechtsextremismus hat an Kraft verloren. Dieser Eindruck täuscht.
Der Rechtsextremismus ist nicht mehr ein leicht im Straßenbild, in Kneipen oder Jugendzentren erkennbarer, klar abgegrenzter Lebensbereich, sondern an vielen Orten eine schwerer zu erfassende Dimension des Alltagslebens geworden. Die Zahl der Jugendclubs, die entweder als rechts oder als links gelten, ist kleiner geworden. Man nutzt die Angebote, die es gibt, mehr und mehr gemeinsam über alle Einstellungsdifferenzen hinweg: Einigen kann man sich bei solchen Themen wie Hartz, Irak, der Politik Israels gegenüber den Palästinensern, der Kritik an Amerika und - dass einmal Schluss sein sollte mit den Schuldbekenntnissen. Fremdenfeindliche, völkische oder antisemitische Äußerungen überhört man besser, wenn einem am Frieden liegt. Man lässt sich dadurch nicht provozieren und versucht auch niemanden mit Kritik an solchen Werten zu verärgern. Dafür wird das Hiphop-Konzert nicht gestört. Im Gegenteil: Man kann dem auch als völkisch Gesinnter manches abgewinnen und die Anwesenheit von einigen Jugendlichen anderer Hautfarben dabei gelegentlich auch einmal tolerieren. Die Hiphop-Musiker selbst, die immer eine Erkennungsmusik für antirassistische Gruppen und alternative Lebenswelten waren, schließen Kompromisse und nehmen deutschnationale Texte in ihre Konzerte auf. Manchmal entsteht auf eine schwer fassbare Weise als gelebte Selbstverständlichkeit eine politische Kultur, in der von Demokratie nicht viel erwartet wird, in der Achtung nur dem gilt, der ist wie man selbst, und wo der Kampf um Selbstachtung Hand in Hand geht mit Missachtung anderer. Die hier angedeutete Kultur des Laissez-faire gegenüber demokratiefeindlichen Werten ist aber nicht das Ende einer Entwicklung, sondern bisweilen deren Anfang.
An manchen Orten lässt sich lernen, wie diese Entwicklung zu einer undemokratischen und unzivilen Gesellschaft weitergeht, wie diese sich ausweiten und institutionell verfestigen kann. Vor allem dort, wo Staat und Zivilgesellschaft schwach sind und die Lebensbedingungen ohne Perspektiven zu sein scheinen, haben Organisationen und Kameradschaften, die der NPD nahe stehen, begonnen, soziale Funktionen zu übernehmen: Ferienangebote zu machen, sich um Hausaufgaben und Kinderbetreuung zu kümmern und sich zu Elternvertretern in der Schule wählen zu lassen. Auch die Zivilgesellschaft muss nicht demokratisch bleiben, wo solche Entwicklungen Fuß fassen: Der Verein, der gegen die Schließung des Krankenhauses angeht, oder für "schöner Wohnen" im Heimatort wirbt und viel Zustimmung dafür erntet, kann zugleich als wichtiges Ziel haben, die Asylbewerber aus dem Ort zu vertreiben. Wenn man nicht Kontakte in solchen Orten hat, ist es schwer festzustellen, an wie vielen Stellen die NPD präsent ist oder ihr Gedankengut in der Zivilgesellschaft wirksam wird.
Es ist auch Wunschdenken, dass dort, wo der NPD der Einzug in den Gemeinderat gelungen ist, sie sich auf Dauer unmöglich machen wird. Ihre gewählten Mitglieder lernen das politische Geschäft und es kommt vor, dass sie die Aktivsten sind, die Eingaben machen und Beschlussvorlagen erarbeiten, die dann von den anderen Parteien übernommen werden. Wo sich eine undemokratische Kultur, die auf der Gleichwertigkeit aller Menschen nicht beharrt, auf solche Weise verfestigt, wird es auch für eine Gemeindeverwaltung schwer, alternative Initiativen zu schützen und Freiräume für Andersdenkende zu verteidigen. Vor kurzem wollte eine demokratische Initiative in einem ostdeutschen Ort ein Plakat aufhängen, dass sich gegen Fremdenfeindlichkeit ausspricht. Die Bürgermeisterin verbot es mit der Begründung, es gäbe auch Andersdenkende und sie müsse neutral sein. Die Versuchung zur Konformität ist stets groß. Wer ihr aber dort unterliegt, wird manchmal ohne dies zu merken zum Teil des Problems.
Dies ist keine Schwarzmalerei, Herr Oberbürgermeister, sondern eine reale Gefahr, deren Wahrheitsgehalt Sie z. B. durch eine Reise nach Ostvorpommern überprüfen könnten. Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie bitten möchte, Ihre Möglichkeiten zur Förderung und Verteidigung einer demokratischen Kultur intensiver zu nutzen. Sie werden vielleicht angesichts der angespannten Lage Ihres Haushalts im absehbaren Auslaufen der Bundesprogramme Civitas, Entimon und Xenos abwehrend die Hände heben. Ich muss gestehen, dass auch wir in unserer Diskussion nicht gleich an Sie gedacht haben. Im Gegenteil: Wir haben über globale Entwicklungen, Desintegrationsprozesse in der Gesellschaft, Sozialabbau, krisenhafte Entwicklungen der Wirtschaft und ihre Folgen gesprochen. Unsere Fragen waren zunächst, was der Staat oberhalb der lokalen und regionalen Ebene und was die großen überregionalen gesellschaftlichen Organisationen tun können; was also Politik, Massenmedien, Gewerkschaft, Verbände, Kirchen, Wohlfahrtsorganisationen bewirken können und welche Bedeutung dabei die europäische Dimension hat.
Mit anderen Worten: Unser Gespräch ist langsam in der Komplexität der Verhältnisse versunken, bis wir drei Kreise auf die Tafel gemalt haben. In den inneren Kreis haben wir die Frage geschrieben: Was kann im lokalen und regionalen Kontext geschehen? In den äußeren Kreisen wollten wir notieren, welche Initiativen wirksam nur auf Landesebene oder im nationalen oder internationalen Rahmen gefördert werden können. Zu unserem eigenen Erstaunen füllte sich der engere Kreis rascher als die anderen und als wir die Stichworte auswerteten, die wir dort hineingeschrieben haben, wurde uns klar, dass der Kampf um die Geltung demokratischer Werte und einer integrativen und solidarischen Kultur vor allem auf der Ebene der Stadtgesellschaft oder in der ländlichen Gesellschaft in regionaler Begrenzung geführt werden muss. Die hoch komplexen Gestaltungsaufgaben, mit denen man es bei solchen Themen wie Sicherung demokratischer Kultur zu tun hat, lassen sich nur sozialräumlich mit einiger Aussicht auf Erfolg angehen. Ich kann Ihnen leider keinen Ort nennen, in dem alle Handlungsmöglichkeiten gleichmäßig entwickelt und systematisch miteinander verbunden sind. Was ich Ihnen als Ergebnis unserer Diskussion vorschlage, hat also einen utopischen Charakter. Aber ich kann Ihnen einzelne gelungene und hoffnungsvolle Ansätze aus verschiedenen Orten und Regionen nennen, von denen man ausgehen könnte. Zum Teil haben diese eine katalysatorische Dynamik entwickelt und können - gewissermaßen im Kopf zusammengesetzt - ein inspirierendes Modell ergeben.
1. Die Schilderung des idealen Ortes beginnt mit Ihrer Rolle, der des Bürgermeisters. Seine Bedeutung für die Gestaltung eines demokratischen Klimas wird oft verkannt. Im Auftrag der Herbert- Quandt-Stiftung hat Professor Leggewie u. a. in hessischen und badischen Städten die Konflikte analysiert, die beim Bau von Moscheen entstanden sind. Er suchte Begründungen dafür, warum der Bau einer Moschee in der einen Stadt keinerlei Probleme zur Folge hatte, in der Nachbargemeinde hingegen zu fremdenfeindlichen Reaktionen führte, die manchmal beinahe die Form von Kulturkämpfen annahmen. Er fand viele mögliche Faktoren, die die Unterschiede zwischen Stadt und Stadt begründen konnten. Letztenendes lief es aber heraus auf das Klima in der jeweiligen städtischen Verwaltung, im Bauausschuss z. B. und im Gemeinderat. Beeinflusst wird das Klima aber durch den Bürgermeister mehr als durch jeden anderen. Von seinem Handeln hing es letztlich ab, ob das Fremde als bedrohlich empfunden wurde und Unfrieden stiftete oder gelassen akzeptiert werden konnte. Sie werden mir zugestehen, Herr Oberbürgermeister, dass Sie in Ihrer Rolle als Spitze der Verwaltung, als Vorsitzender des Gemeinderats und als direkt vom Volk gewählter Bürger mehr Möglichkeiten haben als jeder andere, Ihre moralischen Maßstäbe und Ihre demokratischen Überzeugungen in der Stadtgesellschaft politisch zur Geltung zu bringen.
Anetta Kahane hatte in dem Buch "Rechtsextremistische Jugendliche - was tun?" Ende der neunziger Jahre über den kleinen Ort Ferch und seinen damaligen Bürgermeister Thomas Hartmann geschrieben. Ferch liegt in Brandenburg und hat ungefähr 1300 Einwohner und unterscheidet sich nicht sehr von vielen anderen seiner Nachbarorte. Folgendes war zu spüren in Ferch: Es gab viele Initiativen und Bemühungen, etwas für die Jugendlichen zu tun und Wirtschaftsbetriebe anzusiedeln. Der Bürgermeister wurde immer an der Spitze von Aktivitäten gesehen, die mit Hoffnung auf eine positive Entwicklung verbunden waren. Als es um den Zuzug von Juden aus der früheren Sowjetunion ging und die Gefahr bestand, dass dies zu ähnlichen negativen Reaktionen wie in einem der Nachbarorte führen würde, brauchte Thomas Hartmann, so berichtete Anetta Kahane, eine Minute, bis seine Reaktion gegen die aufkommende Empörung feststand: "Nicht mit mir, nicht bei uns, kommt nicht in Frage." Die negative Stimmung gegen die Fremden konnte damals in Ferch nicht Fuß fassen.
Wunder kann man in der Sächsischen Schweiz nicht erwarten. Die NPD hat zwei Abgeordnete im Gemeinderat und es gibt in der Region eine lebhafte, selbstbewusste und im Alltag der Menschen gut integrierte rechtsextremistische Szene. Trotz engagierten Polizeieinsatzes kommt es immer wieder zu rechtsextremistischen Übergriffen und Überfällen, rassistischem Mobbing gegen Ausländer und Kinder aus binationalen Familien. Über die meisten solcher Ereignisse erfährt man wenig, weil sie den Weg in die Medien nicht finden. Seit der Landtagswahl in Sachsen sind die Verhältnisse in der Region um Pirna bundesweit bekannt. Sie gilt als Hochburg der NPD. Als Ihr Kollege, Herr Oberbürgermeister, Markus Ulrich von der CDU zum Bürgermeister gewählt wurde, galt noch die von Ministerpräsident Biedenkopf begründete Haltung: Es gibt kein Rechtsextremismus im Freistaat Sachsen und die Bürgermeister sollten ihn gefälligst nicht herbeireden. Vor allem die der CDU angehörigen Bürgermeister standen unter dem Druck, dissimulieren zu müssen, wenn sie nicht unangenehm auffallen wollten. In Pirna selbst gab es eine beherzte Aktion Zivilcourage von engagierten jungen Leuten, die auf den Bürgermeister schimpften, viele Gegner hatten und eher isoliert waren. Markus Ulbig verdrängte das Problem der sich verfestigenden rechtsextremistischen Alltagskultur nicht. Er suchte und hielt Kontakt mit den Jugendlichen und half ihnen, wo immer er konnte: durch Empfehlungen an Geldgeber, Kofinanzierung, Ermutigung und Anerkennung. Zu dieser trug sicher nicht zuletzt bei, dass er immer wieder ihren Rat suchte.
Die Pirnaer Aktion Zivilcourage sitzt dadurch längst nicht mehr in einem angefeindeten Winkel der Stadtgesellschaft. Seit 2002 hat der Bürgermeister versucht, die verschiedenen Gruppen demokratisch denkender Bürger zu stärken und hat sich an der Gründung der Pirnaer Initiative gegen Extremismus und für Zivilcourage beteiligt. Er hat also seine Möglichkeiten genutzt, die Organisationskraft der Zivilgesellschaft zu stärken. Er selbst beteiligt sich an der Gestaltung der öffentlichen Meinung durch Bürgerbriefe. Er versucht Immobilienkäufe von Rechtsextremisten zu verhindern und unterstützt einen "Markt der Kulturen". Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung hat er ein Fortbildungsseminar veranstaltet. Drei Tage lang wurde das Problem der Bedrohung demokratischer Kultur über alle Zuständigkeiten hinweg diskutiert. Mit all dem hat Markus Ulrich ein gutes Rollenmodell für das Bürgermeisteramt in einer Region entwickelt, in der die Geltung demokratischer Werte bestritten wird. Ein Bürgermeister, der sich an der Rolle von Markus Ulrich orientiert, wird für zivilgesellschaftliche Initiativen in der Stadtgesellschaft ein wertvoller Partner sein. Umgekehrt gilt aber auch, es gibt Bewegungen in der Zivilgesellschaft, in der Wirtschaft, in der Jugendarbeit, in den Medien, die ihm seine Aufgabe erleichtern und seine Handlungsmöglichkeiten verbessern können.
2. Eine starke Zivilgesellschaft so wie sie sich Alexis de Tocqueville und in seiner Nachfolge Ralf Dahrendorf vorstellen, kann in der Stadtgesellschaft oder in der ländlichen Region viele Funktionen übernehmen. Gemeint ist mit Zivilgesellschaft die Welt der privaten Initiativen und Vereine, die auch "Dritter Sektor" genannt werden, neben den anderen Sektoren der Wirtschaft und der Politik. Wenn Vereine und Initiativen an demokratischen Werten orientiert und selbst demokratisch strukturiert sind, dann können sie - erstens - so etwas sein, wie eine Schule der Demokratie.
Eine wichtige Funktion, die die Zivilgesellschaft - zweitens - haben kann und im Fall der rechtsextremistischen Entwicklungen hatte und hat, das was Soziologen Agenda-Setting nennen. Das heißt, zivilgesellschaftliche Initiativen können Probleme in der Öffentlichkeit thematisieren, an die sich staatliche Stellen nicht heranwagen. Die Amadeu Antonio Stiftung z. B. hat dies in den vergangenen Jahren oft und wirkungsvoll auf überregionaler und regionaler Ebene getan. Ohne die Hartnäckigkeit vieler lokaler Initiativen wäre es oft schwierig gewesen, die Gefährdungen der Entwicklung einer demokratischen Kultur in der lokalen Öffentlichkeit zu thematisieren. Dass dies oft eine heikle Sache ist, muss ich Ihnen nicht erklären, Herr Oberbürgermeister. Die lokale Öffentlichkeit ist ja sehr auf Konsens bedacht und lässt sich ungern dazu zwingen, auch notwendigen Konflikten ins Auge zu sehen und diese auszutragen. Daher werden die Störenfriede oft angefeindet und reagieren dann gelegentlich so, dass sie selbst Argumente für ihre Ausgrenzung schaffen. Von der Haltung des Bürgermeisters hängt es oft ab, wohin sich die Waage neigt.
Vereine und Initiativen können - drittens - Lücken staatlichen Handelns füllen. So gibt es sehr wirkungsvoll arbeitende Initiativen, die sich an dem Schutz potenzieller Opfer von Gewalt beteiligen und Menschen, die tatsächlich Opfer von Gewalt wurden, betreuen. Opferperspektive nannten die Erfinder der ersten Initiative in Brandenburg die Lücke staatlichen Handelns, weil die ganze Aufmerksamkeit der zuständigen Institutionen meist den Tätern galt und die Opfer in ihren ohnehin schwierigen Lebenssituationen allein ließ. Inzwischen gibt es diese mit Unterstützung des Bundesprogramms Civitas in allen Ländern Ostdeutschlands. Sie werden sicher in den vergangenen Jahren mit dem einen oder anderen Projekt in Berührung gekommen sein, Herr Oberbürgermeister, das von den Bundesprogrammen Civitas, Entimon und Xenos finanziell unterstützt wird. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Sie die Fülle der Möglichkeiten überblicken, die in diesen Programmen entstanden sind. Ich nenne einige der zivilgesellschaftlichen Initiativen, die auf diesem Weg unterstützt, weiterentwickelt, stabilisiert und verbreitet werden konnten: die Mobilen Beratungsteams, die dort Aktivitäten entfalten, wo es zu rechtsextremistischen Übergriffen kommt oder wo präventiv Beratung gewünscht wird. Es gibt Netzwerkstellen, die bei der Koordination von Initiativen und kommunalen Bemühungen helfen sollen. Das Projekt "Exit" der Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH in Berlin bietet z. B. Rechtsextremisten Hilfen beim Ausstieg an und berät mit einem mit ihr verbundenen Projekt Eltern, deren Kinder sich rechtsextremistischen Gruppen angeschlossen haben. Die Gesellschaft Demokratische Kultur bietet in Städten und Gemeinden Kommunalanalysen an. Sie untersucht das rechtsextremistische Entwicklungspotenzial und unterstützt nach Wunsch die Kommunen bei der Gestaltung von Aktivitäten durch Prävention und Intervention. Die Servicestellen der Bundesprogramme und das von der Bundesregierung finanzierte Bündnis für Demokratie und Toleranz verfügen über Informationsmaterial, das über den in den vergangenen Jahren entstandenen Reichtum an Handlungsmöglichkeiten in der Zivilgesellschaft Auskunft gibt. Darüber hinaus gibt es Analysen und Einschätzungen dieser Möglichkeiten durch die wissenschaftlichen Begleitungen dieser Programme. Die generelle Schwierigkeit der Projekte, die durch Bundesmittel gefördert werden, ist natürlich, dass ihre Existenz bedroht ist, wenn diese nicht mehr fließen. Die Länder und Kommunen werden nur die wenigsten durch eigene Mittel halten können. Daher besteht die Gefahr, dass wertvolle Erfahrungen wieder verloren gehen. Die Amadeu Antonio Stiftung wird aus diesem Grund vom Civitas-Programm dabei unterstützt, die private Förderbereitschaft zu ergründen und für sie zu werben. Das geschieht z. B. im Rahmen der Gemeinschaftsaktion mit dem stern "Mut gegen rechte Gewalt".
Eine andere Möglichkeit, die für die kommunale oder regionale Entwicklung interessant werden könnte und die neben anderen auch die Amadeu Antonio Stiftung verfolgt, sind die Bürgerstiftungen, die zurzeit in vielen Orten gegründet werden. Im Idealfall kann die Bürgerstiftung einzelne Initiativen bündeln, Ressourcen für deren Förderung mobilisieren und verhindern, dass die Initiativen in eine Außenseiterposition geraten. Voraussetzung ist in allen Fällen, wo man die Zivilgesellschaft gegen Gefährdungen demokratischer Kultur in Stellung bringen möchte, dass diejenigen, die sie betreiben, sich an solchen Werten orientieren. Wenn in einem Ort eine solche Bürgerstiftung entsteht, dann dürfte dies die Aufgaben des Bürgermeisters sehr erleichtern und ihn auf der anderen Seite ermutigen, Kraft in deren Unterstützung zu investieren.
In Parchim in Mecklenburg z. B. gibt es keine rechten Kameradschaften und ein durchweg demokratisches Klima. Zu danken ist dies vermutlich in erster Linie den Initiativen, für die Karin Gruhlke und Birgit Naxer, die Sprecherinnen sind: dem Bürgerkomitee Parchim und dem Projekt "Zusammen in Parchim". Beide haben sie im Ort ein Netz gebildet, aus dem eine Bürgerstiftung entstanden ist. Frau Gruhlke, die von einer Besucherin einmal als Typ einer mecklenburgischen Entschlossenheit bezeichnet wurde, lässt keinen Zweifel, dass rechtsextremistische und fremdenfeindliche Haltungen ein Übel sind und nicht deshalb milde beurteilt werden sollten, weil es ja "unsere Jungs" sind. Zugleich hat man bei dem Parchimer Netz von Initiativen die Erfahrung machen können, dass diese nicht nur reden, sondern sich um soziale Probleme kümmern, dass sie die Aufgaben der sozialen Integration im Ort im Auge haben und auch die Verwaltung mitunter zu schnellerem Handeln und enger Zusammenarbeit drängen. Für die Kameradschaften, die es in der Region gibt, ist Parchim ein schwieriges Pflaster. Zuviel Zivilgesellschaft ist eben nicht gut für Extremisten.
3. Ich könnte mir vorstellen, Herr Oberbürgermeister, dass Sie an dieser Stelle meines langen Briefes ungeduldig werden. Da lesen Sie die Empfehlung, dass Sie zusammen mit engagierten Akteuren vor Ort ein Meinungsklima herstellen sollen, das es schwierig macht, sich zur psychischen Verarbeitung von Hoffnungslosigkeit, Anerkennungsverlusten und Frustrationen aller Arten extremistischer Angebote zu bedienen. Ich habe die Einwände oft selbst formuliert: Wie soll man ohne Unterstützung der Massenmedien ein Meinungsklima schaffen oder aufrecht erhalten? Wie soll man auf Hoffnungslosigkeit antworten, wenn man keine Hoffnung auf Arbeit machen kann? Was soll man vor allem Jugendlichen sagen, deren Schwierigkeiten auf dem Weg von der Schule in die Arbeitswelt sich zu dem Eindruck verfestigen: Ich werde nicht gebraucht und ich bin nichts wert. Ist es also nicht eine Illusion zu erwarten, dass man angesichts solcher gesamtgesellschaftlicher Desintegrationsprozesse auf lokaler und regionaler Ebene Integrationserfahrungen vermitteln kann? Denn das bedeutet ja, dass Menschen sich aufgehoben fühlen und bereit sind, auf der Basis demokratischer Werte zusammenzuleben.
Ich glaube nicht, dass dies eine Illusion ist. Betrachten wir die Medien. Es ist unbestreitbar, dass Massenmedien einen großen Einfluss darauf haben, was auf die politische Tagesordnung kommt und wie das jeweilige Thema in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Auf eine bisweilen schwer zu rekonstruierende Weise beeinflussen sich hier Politik und Medien gegenseitig. Dabei entstehen oft rasch wechselnde thematische Konjunkturen. So kann es geschehen, dass die rechtsextremistischen Bewegungen Kraft gewinnen, aber die bundesweite Öffentlichkeit davon lange Zeit keine Notiz nimmt, bis z. B. die Wahl der NPD in einen Landtag das Thema wieder auf die Tagesordnung bringt. Wer im Tal der medienöffentlichen Aufmerksamkeit ein gesellschaftspolitisches Ziel verfolgt, das öffentlicher Unterstützung bedarf, wird es in der Tat nicht leicht haben. Und noch schwerer wird es oft haben, wer gegen vorherrschende mediale Interpretationen von Ereignissen Differenzierungen oder Alternativen anbringen möchte. Nur: das gilt für die überregionale Öffentlichkeit und ihre Politik, nicht aber umstandslos für die regionale und lokale Öffentlichkeit. Die großen westdeutschen Zeitungen und Magazine werden z. B. in Ostdeutschland kaum gelesen und auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten finden in Ostdeutschland verhältnismäßig wenig Zuschauer. Ein großer Teil der Menschen orientiert sich an der Lokalzeitung.
Ich wünsche Ihnen, Herr Oberbürgermeister, in Ihrer Stadt eine Zeitung wie die in Verden. Der Bremer Weser-Kurier, zu dem die Ausgabe in Verden gehört, hat zwei Redakteure abgestellt, die kontinuierlich über Verletzungen demokratischer Kultur, über Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus berichten, was immer auch überregional gerade Konjunktur hat. Oder ich wünsche Ihnen den Spreeboten, ein lokales Anzeigenblatt in Bad Saarow. Solche Anzeigenblätter werden viel gelesen und haben größeren Einfluss als man denkt. Als der PDS-Vorsitzende und stellvertretende Bürgermeister von Bad Saarow die Rückübertragung jüdischen Eigentums an die Jewish Claims Conference im Gemeinderat bösartig kritisierte, blieb dies unkommentiert. Erst als der Spreebote wie so oft kritisch berichtete, schlossen sich die Märkische Oderzeitung und andere überregionale Medien an und machten den verbalen Übergriff öffentlich. Der Bürgermeister musste sich entschuldigen.
Offensiver Umgang: Am Tag eines Neonaziaufmarschs 2006 ließ die Stadt Rostock im Verbund mit dem DGB ihr Bekenntnis plakatieren: Rostock bleibt bunt. (© H. Kulick)
Offensiver Umgang: Am Tag eines Neonaziaufmarschs 2006 ließ die Stadt Rostock im Verbund mit dem DGB ihr Bekenntnis plakatieren: Rostock bleibt bunt. (© H. Kulick)
4. Bleiben wir noch einen Augenblick bei dem Aspekt Abwehr der Gefährdungen demokratischer Kultur, ehe wir uns dem schwierigen Punkt Umgang mit der Hoffnungslosigkeit zuwenden: Keine unerhebliche Bedeutung z. B. für die Abwehr von Fremdenfeindlichkeit kann die Wirtschaft haben. Als es in den neunziger Jahren im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung über die Gestaltung des Asylrechts zu einer Welle von fremdenfeindlicher Gewalt kam, haben z. B. die Unternehmensleitungen von Daimler Benz in Stuttgart und von Freudenberg in Weinheim ihren Belegschaften mitgeteilt, dass entlassen wird, wer sich im Betrieb fremdenfeindlich äußert. Notwendig wurde dies nicht. Die von den Betriebsräten gestützten Drohungen reichten aus. Die Wirkungen beschränkten sich dabei durchaus nicht nur auf die Betriebe, sondern erfassten auch das Umfeld.
Die SAP hat zwei Jahre das Portal "Mut gegen rechte Gewalt" gefördert, mit dessen Hilfe die Amadeu Antonio Stiftung zusammen mit dem stern über rechtsextremistische und antisemitische Vorfälle und interessante Projekte und Initiativen berichtet. Das Verbundnetz GAS AG nutzt den eigenen Namen für ein Projekt gegen die Gefährdungen demokratischer Kultur in ostdeutschen Kommunen und hat ein Verbundnetz für Demokratie und Toleranz gegründet. Kooperationspartner sind neben den Kommunen Kunden befreundeter Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure wie die Gesellschaft Demokratische Kultur. Es ist gewiss richtig, dass die Haltung etlicher mittelständischer Betriebe nicht sehr ermutigend ist für diejenigen, die z. B. Fremdenfeindlichkeit nicht als Element des politischen Klimas akzeptieren wollen. Und oft sind die international orientierten Unternehmen weit weg oder halten sich von Regionen mit dem Ruf der Fremdenfeindlichkeit fern. Aber es scheint mir eine wichtige Strategie zu sein, die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft in den Kommunen zu suchen, um sie zur Partnerschaft bei der Gestaltung des demokratischen Klimas zu gewinnen.
In Orla gab es in der Schule eine kleine Freundesclique, die oft unter dem Druck rechtsextremistischer Jugendlicher zu leiden hatte. Auf den zentralen Marktplatz zu gehen, traute sie sich wie andere schon lange nicht mehr, denn dieser wurde von einer rechtsextremistischen gewalttätigen Gruppe mit Beschlag belegt. Die Freunde beschlossen, etwas dagegen zu tun und wollten in einer Veranstaltung auf die Entwicklung aufmerksam machen. Sie baten den Vater eines der Jugendlichen, einen Lehrer, ihnen dabei zu helfen. Er stellte einen Kontakt zur Landeszentrale für politische Bildung und zum Zentrum Demokratische Kultur in Berlin her und sagte ihnen: Von jetzt an müssten sie alles allein organisieren. Das taten sie, informierten sich, beantragten etwas Geld für die Veranstaltung und setzten mit Hilfe der beiden Organisationen, die sie zur Unterstützung gewonnen hatten, durch, dass sie den großen Saal im Rathaus bekamen. Dann erzählten sie den 150 Menschen, die gekommen waren, von den 24 Gewalttaten der Rechten des vergangenen Jahres und zeigten auf den Stadtplan, wo diese geschehen waren. Danach: peinliches Schweigen. Der Bürgermeister äußerte sich nicht und kein Mitglied des Gemeinderats sprach. Dann stand einer der wenigen mittelständischen Unternehmer der Stadt auf und sagte: es sei eine Schande. Er holte 150 Mark aus der Tasche, drückte sie den Jugendlichen in die Hand und versprach, sie auch in Zukunft zu unterstützen. Wegen der Umtriebe der Rechten verliere er immer wieder Auszubildende und Arbeiter aus dem Westen. Ihm lange es jetzt. Das brach das Eis. Bürgermeister, Gemeinderäte und andere versprachen zu helfen, die Jugendlichen organisierten sich und zogen bald andere nach. Es gab Veranstaltungen, Konzerte, Preise, Reisen. "Die sind cool", sagten jüngere Schüler, als sie gefragt wurden, was sie von der Gruppe hielten.
Ein engagierter Vater berichtete mir einmal, dass sein Sohn wachsenden Gefallen an rechtsextremistischen Schriften fände. Alle seine beschwörenden Reden seien auf taube Ohren gestoßen. Nur ein Argument habe deutlich Eindruck gemacht: "Mit den Ansichten, die in den von dir bewunderten Broschüren stecken, wirst du keine Chance haben, in einer der großen Firmen, für die du dich interessierst, genommen zu werden." Aber dieses Argument macht natürlich nur dann Eindruck, wenn es zumindest eine geringe Hoffnung gibt, einmal dorthin kommen zu können.
5. Ich weiß, Herr Oberbürgermeister, dass Sie die Probleme der beruflichen und sozialen Integration der Jugendlichen besonders bedrücken. Wir haben es hier mit einem Dilemma zu tun: Es gibt zu wenig Angebote zur beruflichen Qualifizierung und die, die es gibt, sind schwieriger zu erreichen. Um den mühsamer werdenden Weg in das Arbeits- und Berufsleben finden zu können, müssen die Jugendlichen aber in der Schule gut vorbereitet worden sein. Sie müssen in der Lage sein, eigene Initiativen zu entfalten, sich nicht leicht entmutigen zu lassen, Mühen auf sich zu nehmen, aber auch bereit und imstande sein, sich auf Neues einzustellen und verlässlich zu arbeiten. Sie müssen darüber hinaus gut kommunizieren können und fähig sein, sich auf offene Aushandlungsprozesse einzulassen. Das alles hat eine wachsende Zahl von Jugendlichen in Familie, Kindergarten, Schule und in der Jugendarbeit nicht lernen können. Was müsste geschehen, was geschieht schon hier und da und was könnten Sie, Herr Oberbürgermeister tun?
Eine Schlüsselrolle hat die Schule. In einer guten Schule können Kinder viel von dem lernen und erfahren, was sie brauchen, um sich danach zurechtzufinden und den Ansprüchen gewachsen zu sein, die auf sie zukommen. In einer schlechten Schule überwiegen am Ende die Erfahrungen, dass sie nichts können und nichts wert sind. 1999 haben Wolfgang Frindte und Jörg Neumann in einer Schulstudie herausgefunden, dass Jugendliche, die nach eigener Auskunft Partizipationschancen in der Schule haben, keine rechtsextremistischen Haltungen zeigen und Gewalt ablehnen. Umgekehrt ist aus einer Untersuchung in Brandenburg (Sturzbecher 2001) zu schließen, dass rechtsextremistische Einstellungen dort besonders stark geäußert werden, wo Schüler nicht erwarten, dass Lehrer sich für sie einsetzen, dass Schule ihnen für die Zukunft nützt und wo sie vor allem Erfolglosigkeit und Abwertung erlebt haben. In Schulklassen, in denen die Lehrerprofessionalität hoch ist, das Klassengefüge intakt, Partizipationschancen groß und die Schülerbefindlichkeit positiv ist, da ist die Gewaltorientierung gering. Das haben Wolfgang Melzer u. a. in mehreren Studien zur Wirkung des Schulklimas seit 1993 herausgefunden. Schule kann also Teil des Problems und Teil der Lösung sein: Sie kann Jugendliche intensiv fördern, auf die berufliche Zukunft vorbereiten und sich darum intensiv kümmern. Sie kann Demokratie und gegenseitigen Respekt erfahrbar machen und das Selbstgefühl stärken oder sie kann zum Gegenteil beitragen und helfen, die Türen für Gewaltorientierung und extremistische Versuchungen weit zu öffnen.
In den vergangenen Jahren hat es an vielen Orten in Ost- und Westdeutschland interessante Modellversuche gegeben, durch die man zeigen kann, wie Schulqualität sich verbessern lässt. Ich nenne u. a. die Entwicklung von "Selbstwirksamen Schulen". Diese haben sich zum Ziel gesetzt, das Selbstwertgefühl und die Eigeninitiative ihrer Schülerinnen und Schüler dadurch zu stärken, dass sie ihnen viele Möglichkeiten bieten, das Schulleben und ihr Lernen selbst zu gestalten. Viele Anregungen bietet das Modellprogramm der Bund-Länd-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) "Demokratie lernen und leben". Über 150 Schulen beteiligen sich daran. Das Problem solcher Modellversuche ist, dass sich ihre Ergebnisse so schwer verbreiten lassen. Sie bleiben in ihren Wirkungen meist beschränkt auf die unmittelbar beteiligten Schulen.
Die Frage ist, wie sich Anregungen und Erfahrungen, die es in großer Zahl gibt, zur Schulentwicklung an anderen Orten nutzen lassen? Nun liegt die innere Gestaltung der Schule im Verantwortungsbereich der Kultusministerien. Die Kommunen sind als Schulträger nur zuständig für die Pflege des Gebäudes, die Ausstattung mit Lehrmitteln und das nicht pädagogische Personal. Ganz ohne Einfluss ist die Kommune trotzdem nicht. Sie kann sich an Schulversuchen des Landes beteiligen, Kooperation suchen, Unterstützungs- und Beratungseinrichtungen für Schulen wie die RAA fördern (Regionale Arbeitsstellen für Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien bzw. für Jugendarbeit und Schule). Es gibt Städte wie Dortmund, die sehr viele solcher Möglichkeiten nutzen und deswegen eine wichtige Rolle für die Entwicklung wenigstens eines Teils ihrer Schulen bekommen haben. Es lohnt sich, diesen Weg eines aktiv gestaltenden Schulträgers zu gehen. Es ist gewiss ein mühsamer Weg, aber es besteht gute Aussicht, dass man schon unterwegs die drückenden Probleme erheblich reduzieren kann. Das klingt kühn, aber es ist nicht übertrieben. Manchmal reicht ein beherzter Schulleiter aus, um spürbare Veränderungen zu bewirken.
Im Landkreis Oder-Spree gibt es das Oberstufenzentrum Palmnicken mit über 3000 Auszubildenden. Unter ihnen befand sich eine große Anzahl von Jugendlichen mit einer ausgeprägten rechtsextremen Orientierung wie oft in beruflichen Schulen. Diese gewannen mehr und mehr Einfluss auf das Klima in der Schule. Die Entwicklung kulminierte in einer Gewalttat, über die auch in den überregionalen Medien berichtet wurde: Ein Jugendlicher aus einer jemenitischen Familie wurde so zusammengeschlagen, dass eine dauerhafte Behinderung geblieben ist. Der Schulleiter, Dr. Volker Kanitz, nahm den Kampf um die kulturelle Hegemonie auf. Er organisierte Beratung und Fortbildung für sich und das Kollegium und antwortete mit der Entwicklung eines demokratischen Schulprogramms. Wichtige Elemente dabei waren Projekte, mit deren Hilfe die Schule ein internationales Profil bekam, Kooperation mit Bildungsträgern in anderen europäischen Ländern, Jugendaustausch und Jugendbegegnungen. Auf diese Weise wurde den völkisch nationalen Ideologien langsam das Wasser abgegraben. Es wurden Projekttage zu Rechtsextremismus und Antisemitismus angeboten, die Interessenten fanden. Auch gab es Projekte zu geschichtlichen Themen mit dem Ziel, Wege zu alternativen Geschichtsbildern zu bahnen. Zur Identität rechtsextremistischer Gruppen gehört ein Verständnis von Heimat und Geschichte, das bestimmt ist durch Begriffe wie Familie, Stamm, Volk und Nation. Man sieht sich in einer Tradition von Blut und Boden, die es gegen Fremde zu verteidigen gilt. Hier wie in anderen Orten gelang es mit Hilfe von Geschichtswerkstätten ein Bild der lokalen Vergangenheit zu erzeugen, das Identifikation ermöglicht und doch den Wert von Demokratie, Freiheit und Menschrechte verdeutlichen kann. Natürlich besuchen rechtsextrem orientierte Jugendliche weiterhin das Oberstufenzentrum Palmnicken. Das Schulklima aber bestimmen sie nicht mehr. Pluralismus und Weltoffenheit erscheinen der Mehrheit als Werte, die es zu schützen lohnt.
6. Nichts wäre in der Lage, in der die Jugendlichen sich befinden, wichtiger als gute Jugendarbeit: wo es möglich ist, in der Gruppe von Gleichaltrigen gemeinsame Interessen zu finden, seine Kräfte zu erproben, Eigeninitiative zu entwickeln, frei von dem Lerndruck der Schule soziale Erfahrungen zu machen. In der Jugendgruppe kann man viele Fähigkeiten und Fertigkeiten lernen - nur anders: selbstbestimmt, entdeckend und daher nachhaltig. Theoretisch können in der Jugendarbeit die positiven Impulse der Schule verstärkt und die negativen kompensiert werden. Das wäre schön, nur leider ist es selten so. Die offene Jugendarbeit ist in der Krise. Nur 10 % der Jugendlichen nehmen die Angebote der freien Träger und der Kommunen an und besuchen die Jugendzentren und Jugendtreffs. Und hier ist es oft das Problem, dass die Gewaltbereiten diejenigen, die jeweils als stark gelten, den Ton angeben: z. B. eine Gang türkischer Jugendlicher oder eine extremistisch orientierte Gruppe.
Einer der Mechanismen der Ausbreitung rechtsextremistischer Alltagskultur ist, dass Jugendliche, den Rechtsextremismus oft als einzige Alternative in ihren Gruppen erfahren und sich dem Druck anpassen, der von ihm ausgeht. Wie ist dann Jugendarbeit möglich? Man findet viele Möglichkeiten dort, wo Schule und Jugendarbeit eng zusammengehen: in den Schülerclubs z. B. und beim Training von Peerleaders, die sich in demokratischer Bildung und interkultureller Kompetenz bei der RAA ausbilden lassen und dann in die Schulen und Schülerclubs zurückwirken. Oder an Orten wie bei der Pfarrerin Bea Spreng. Begonnen hatte sie vor einigen Jahren damit, Jugendliche um sich zu sammeln, die von den rechtsextremistischen Kameradschaften bedrängt wurden. Sie fand Kontakt zur Berliner Musikszene und es gelang ihr, mit der Gruppe ein gemeinsames Ziel zu entwickeln und ein Programm zu erarbeiten. Sie wollten Musik machen und Konzerte veranstalten. Der Aufbau der Gruppe war nicht leicht, weil die Rechtsextremisten sie unter Druck setzten, gelegentlich kam es zu Überfällen. Bea Spreng wollte keine geschlossene Gruppe haben, aber auch keine offene Jugendarbeit. Sie wollte alle integrieren, die an dem Thema interessiert sind, auch die Nazis. Voraussetzung, dass dies gelingt, ist nach ihren Erfahrungen: Es muss erstens immer eine feste Gruppe geben, in die hinein man integrieren kann. Zweitens muss es ein verbindendes Thema geben, das einen Sog hervorruft und Jugendliche provoziert, aus sich herauszugehen. Die Arbeit an dem gemeinsamen Thema muss so stark sein, dass sie die bisherigen politischen Zuordnungen außer Kraft setzt. Es darf dann nicht mehr um Fragen des Outfits und dessen Bewertung gehen, sondern um etwas ganz anderes: um Rhythmus, Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit zum Beispiel. Drittens muss dies kontinuierlich geschehen und viertens muss es dabei Höhepunkte geben, auf die man zusteuern und zuleben kann: der gemeinsame Auftritt oder die gemeinsame Reise nach Kroatien. Unter diesen Bedingungen kann man Verhaltensstandards verlangen wie: hier wird nicht gemobbt und hier werden keine Nazilieder gesungen. Auch solche Arbeit bleibt gefährdet. Es braucht die Unterstützung durch die Stadtgesellschaft und den Bürgermeister. Und notwendig ist die Unterstützung durch eine Polizei, die sich darauf konzentriert, diese Art demokratisch orientierter integrativer Jugendarbeit zu schützen. Es gibt sie nicht oft diese aufmerksam, die Zivilgesellschaft schützende Polizei. Denn die Polizei ist häufig Teil des Problems. Bea Spreng geht es relativ gut in Barnim-Uckermark. Als ihre Gruppe neulich eine Tanzveranstaltung organisierte, standen plötzlich 30 als rechtsextrem erkennbare junge Männer auf der Tanzfläche. Den fünf Polizisten, die anwesend waren, gelang es, sie behutsam herauszudrängen, ohne dass es zu einer Schlägerei gekommen wäre.
An Jugendarbeit wird oft gespart, Herr Oberbürgermeister, oder kurzfristiges Geld für langfristige Aufgaben verwendet. Die Krise, in der die Jugendarbeit sich befindet, darf kein Argument sein, sie finanziell auszutrocknen. Sie ist eines der wichtigsten Instrumente, die die Kommune zur Förderung von Jugendlichen hat.
7. Auf Initiative von Kap Anamur wurde in der Mitte der neunziger Jahre mit Stiftungs- und Lottomitteln in Storkow ein Friedensdorf gebaut. Die Idee war, Jugendlichen aus der rechtsextremistischen Szene die Möglichkeit zu geben, gemeinsam mit bosnischen Flüchtlingen und vietnamesischen Arbeitern Häuser zu bauen, in denen sie dann später auch einziehen durften. Es war auch Wohnraum für wohnungssuchende ältere Menschen vorgesehen. Das Projekt wurde ein großer Erfolg. Die Jugendlichen fanden das Angebot attraktiv und lernten viel beim Bauen. Die bosnischen Kollegen begannen sie zu schätzen, nachdem sie sie kennen gelernt hatten. Das Eis brach, als diese von ihren Gewalterlebnissen zu erzählen begonnen hatten. Im Trägerverein engagierte sich die Spitze der Gesellschaft in Storkow. Es gab eine hohe Identifizierung mit dem Ort. Manchmal half die Bundeswehr in der Nachbarschaft mit schwerem Gerät. Als die Jugendlichen aus ihrer ehemaligen Szene hörten, dass ein Angriff geplant sei, patrouillierten sie in der Nacht um das Gelände. Sie wollten sich diese Chance nicht nehmen lassen. Die große Integrationskraft, die der Bau des Friedensdorfs hatte, konnte natürlich nicht aufrecht erhalten werden, als die heroischen Zeiten vorbei waren, als die Häuser gebaut und die bosnischen Flüchtlinge zurückgeschickt wurden. Aber mir ist die Überzeugung geblieben, Herr Oberbürgermeister, dass es möglich ist, Jugendliche zurückzugewinnen, wenn man ihnen etwas Sinnvolles und für sie Attraktives anbietet, das wie ein Hoffnungszeichen wirkt. Dieses wird die demokratische Kultur stärken, wenn man die Angebote mit klaren Wertestandards verbindet und zur Bedingung der Teilnahme macht und wenn man diejenigen stützt, die die Werte täglich durchsetzen müssen. Das Wichtigste ist, dass es in den Orten, die von Desintegration bedroht sind, Hoffnungspunkte gibt. Dass Möglichkeiten sichtbar werden und dass die Autoritäten, an der Spitze der Bürgermeister, zeigen, dass sie sich kümmern. Und dass sie die Suche nach solchen Hoffnungspunkten zu einem Teil ihrer Verantwortung zählen.
In Hoyerswerda z. B. hat sich Ihr Kollege entschlossen, für die berufliche Qualifizierung der Jugendlichen eine Verantwortungsgemeinschaft zu gründen und damit Anregungen von Weinheim, Offenbach, Dortmund und anderen Städten zu folgen. Er will mit seiner Verwaltung und der RAA z. B. helfen, Jugendlichen, die in Hoyerswerda keine Betriebspraxis kennen lernen können, die Möglichkeit dazu in Betrieben westdeutscher Städte zu verschaffen. Er hat dabei natürlich die Hoffnung, dass diese so qualifizierten Jugendlichen nach Hoyerswerda zurückkommen. Wenn dies aber nicht möglich sein sollte, dann will er die Abwanderung mitgestalten, damit diese nicht nur negativ wirkt, sondern Teil einer Kultur des sich Kümmerns wird. Es muss Hoffnung geben und Solidarität, sagt er. Und wenn das in seiner Stadt erfahren werden kann, dann, glaube ich, entsteht auch die Identifikation, die Voraussetzung für das Entstehen demokratischer Kultur ist.
Was ich Ihnen hier insgesamt vorschlage, Herr Oberbürgermeister, ist nichts Geringes. Ich verlange ja nicht weniger, als dass Sie Verantwortung für die Entwicklung einer lokalen Bildungs- und Berufsbildungspolitik übernehmen, die Jugendpolitik neu gestalten und Gemeinschaftsaktionen mit der Zivilgesellschaft unterstützen. Ich schlage vor, dass Sie dort, wo Minderheiten nichtdeutscher Muttersprache leben, Integrationspolitik zu Ihrer Aufgabe machen und dies alles mit Demokratiepolitik verbinden und das alles neben Ihren sonstigen Pflichten wie die Wirtschaftsansiedlung zu verbessern und für eine ausreichende Infrastruktur zu sorgen usw. Und das alles bei schwindenden Mitteln und einer Tendenz, mehr und mehr Aufgaben weit weg von der lokalen Basis zu organisieren, wie das bei der Reform der Arbeitsverwaltung wieder deutlich geworden ist. Ich weiß nicht, ob all dies zu tun möglich sein wird, ich bin mir aber sicher, dass es an anderer Stelle sich als gänzlich unmöglich herausstellen wird. Nur am Ort, wo die Menschen ihren Lebensmittelpunkt haben, wird man neue Ressourcen durch die Bereitschaft zu privatem Engagement finden können. Und nur auf der lokalen Ebene wird es möglich sein, neue Ressourcen durch die Reform der Verwaltung zu erschließen. Ich nenne das Stichwort "Neue Steuerung". Sie werden selbstverständlich zeitlich ganz und gar überfordert sein, wenn man von Ihnen oder Sie von sich verlangen würden, die hier skizzierten Aufgaben allein oder mit einem bescheidenen Stab anzupacken. Die notwendigen Ressourcen stecken in Ihrer durch Zuständigkeiten und Hierarchien geordneten Bürokratie. Zu beschreiben, was es für eine bessere politische Steuerung braucht, ist einfach. Notwendig ist eine bessere vertikale Kommunikation, d. h. bessere Kenntnisse und engere Interaktionen zwischen den Bedürfnissen, Wünschen und der Handlungsbereitschaft der Menschen, die die Probleme haben und der Hierarchie, die sich über ihnen bis zum Oberbürgermeister erhebt. Und es braucht eine bessere horizontale Kommunikation, über die oft eifersüchtig bewachten Grenzen der Zuständigkeiten hinweg: zwischen Schulamt und Jugendamt, Sozialamt, Wirtschaftsamt, Ordnungsamt usw. Nicht als Selbstzweck, sondern damit die Verwaltung auf die meist komplexen Probleme auch angemessen antworten kann. Ich glaube nicht, dass es eine schwerere Aufgabe gibt, eine solche Verwaltungsreform einzuleiten. Es gibt Kolleginnen und Kollegen von Ihnen, die wie Sie daran arbeiten: um der Lösung von Aufgaben willen, die ich hier eher angedeutet als ausgeführt habe. Vielleicht haben Sie Interesse, an einem Erfahrungsaustausch teilzunehmen und an der gemeinsamen Konzipierung einer Politik mitzuwirken, die die kommunale Verantwortungsübernahme neu begründet und die notwendige öffentliche und private Unterstützung dafür mobilisiert. Wichtig dabei wäre es, die ersten kleinen Schritte zu identifizieren, die man gehen kann, ohne bei allen Beteiligten das Gefühl von Vergeblichkeit zu erzeugen. An einem solchen Versuch würden wir uns gerne beteiligen.
Mit freundlichen Grüßen
Christian Petry
Anmerkung:
Für ihre Unterstützung danke ich der Seehausener Gruppe Dierk Borstel, Anetta Kahane, Lars Rensmann, Bernd Wagner und Sascha Wenzel
Literaturhinweise:
Roland Eckert/Wolfgang Edelstein/Wolfgang Frindte/Hajo Funke/Jan Hofmann/Lothar Krappmann/Wolfgang Melzer/Jörg Neumann/Bernd Wagner. Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band I. Probleme – Voraussetzungen – Möglichkeiten. Weinheim 2001
Anne Sliwka: Demokratie lernen und leben - Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band II. Das anglo-amerikanische Beispiel. Weinheim 2001.
Peter Kalb/Christian Petry/Karin Sitte (Hrsg.): Rechtsextremistische Jugendliche – was tun? 5. Weinheimer Gespräch. Weinheim/Basel 1999
Berichte des BLK-Projekts "Demokratie lernen und leben", Externer Link: www.blk-demokratie.de
RAA Berlin/Bundesarbeitsgemeinschaft der RAA: Interkulturelle Beiträge Jugend & Schule No. 7. Peer Leadership Training für interkulturelle Kompetenz und Demokratie. Berlin 2004.