Rechtsextremismus in Deutschland und Europa ... und der Widerstand der Bürgergesellschaft
Wie viele Nazis gibt es hier? Es gibt Örtlichkeiten in Deutschland, wo diese Frage sehr gut passt, Örtlichkeiten, an denen diese Frage betretenverlegene Heiterkeit auslöst. "Wie viele Nazis gibt es hier?" Wenn man diese Frage irgendwo in der ostdeutschen Provinz einer Plattenbauschule in einer Plattenbausiedlung stellt, dann erntet man Gelächter. "Wie viele Nazis gibt es hier?" Die Klasse grinst, ein Junge sagt leicht spöttisch: "Die kann man hier gar nicht zählen, die stehen doch hier überall herum!" Und daher geht man in etlichen Gegenden, zumal in Ost-Deutschland, eben nicht auf Stadtfeste und nicht in bestimmte Stadtteile, die den Nazis "gehören". Der Soulsänger Xavier Kurt Naidoo aus Mannheim hat vor einiger Zeit, als er zu Besuch in einer Schule in Anklam war, mit seiner Frage nach den Nazis beklommene Heiterkeit ausgelöst.
"Und wie ist es im Jugendclub", hat er die Klasse weiter gefragt. "Da sind überwiegend Nazis", erklärt ihm eines der Mädchen, "aber wir gehen trotzdem da hin. Wenn man die nicht blöd anmacht, sind die doch ganz normal". "Und wenn ich da hinkommen würde?", hakt der Soulsänger nach. Ungläubiges Hüsteln in der Klasse: "Na, dann gäbe es sicher Stress!" Der Sänger bohrt weiter: "Und wenn ihr Zeugen eines Überfalls werdet, holt ihr da wenigstens die Polizei?" "Die Polizei?" fragt eine Dunkelhaarige zurück, "die haben doch selbst Angst vor denen und machen nichts".
Die Nazi-Jugendkultur ist in Ostdeutschland und zunehmend in Westdeutschland allgegenwärtig. Und Nazi-Gewalt ebenso, nicht erst seit den Messerstichen auf Passaus Polizeipräsident Mannichl im Dezember 2008 war Zeit, das zu begreifen. Die rechte Szene ist längst keine Randgruppe mehr, sondern eine Massenbewegung – in Deutschland, in ganz Europa. Es gibt Nazi-Konzerte mit bis zu 2000 Leuten. Es gibt 200 Abgeordnete rechtsextremistischer Parteien in deutschen Landtagen. Es gibt vier Landtage, in denen Rechtsextremisten sitzen. Es gibt eine ansteigende braune Gewalt. Es gibt jedes Jahr ein neues "Rekordjahr" (wie es dann in den Zeitungen heißt) mit rechtsradikalen Übergriffen. 2007 wurden 600 Menschen bei Neonazi-Attacken verletzt. Und 2008 sogar noch einmal mehr. Laut einer Zählung der Amadeu Antonio Stiftung wurden seit der Wiedervereinigung 1990 mehr als 140 Menschen von Neonazis totgeschlagen, totgetrampelt, angezündet.
Ja, es gibt auch Programme gegen rechtsextreme Gewalt. Sie leiden unter Geldmangel und unter einer staatlichen Bürokratie, die ihnen immer weniger Zeit und Kraft zum engagierten Arbeiten lässt. "Exit", die Organisation, die den Ausstieg von Nazis aus ihrer Szene unterstützt, steht deshalb – zur Häme der Neonazis – immer wieder vor dem Aus. Es gibt Leute, die beschwichtigen, abwinken, wenn es um die Rechtsextremen in Deutschland geht. Schaut doch nach Österreich, heißt es dann – dort haben die Rechtspopulisten von Haider & Co bekanntlich mit ihren zwei Parteien dreißig Prozent der Stimmen erzielt. Aber das ist etwas anderes: Die Parteien in Österreich sind rechtspopulistisch, nicht gewaltaufgeladen rechtsextrem. Österreich hat ein Rechtsaußen-Problem, aber kein Neonazi-Problem.
Deutschland als braunes Versuchsfeld in Europa
In Deutschland findet etwas noch sehr viel Gefährlicheres statt: Deutschland ist ein Versuchsfeld für ganz Europa, Deutschland ist ein Feld, auf dem eine explosive Symbiose zu beobachten ist: Hier findet in der NPD eine atemberaubend-gefährliche Vereinigung statt: Das sind zum einen die proletarisierten nationalrevolutionären Gruppen, die gewalttätigen Skinheads, wie es sie überall in Osteuropa gibt – der unverdaute Totalitarismus in ihren Ländern hat die Brutalo-Bewegungen befördert.
Die NPD in Deutschland hat die Vernetzung, die Verbindung, die Symbiose geschafft – sie deckt das gesamte Rechtsaußen-Spektrum ab, das bürgerlich-rechtspopulistische und das antibürgerlich-rechtsrevolutionäre; dort sammeln sich Rechtspopulisten und nationale Sozialisten.
Es gibt politische Wetterbeobachter, die sehen das Problem so: Rechtsaußen-Parteien kommen von Zeit zu Zeit über die Staaten Europas wie das dreckige Wetter. Dunkle Wolken ziehen auf, das Licht wird fahl, die Welt schaut bedrohlich aus; es donnert und blitzt, es schüttet wie aus Kübeln. Aber das dauert dann nicht lange, dann klart es wieder auf, und alles ist wieder friedlich und schön. Das wäre ein beruhigendes Modell. Es hat aber den Nachteil, dass es nicht stimmt.
Es stimmt schon deswegen nicht, weil sich in der NPD, wie geschildert, ein Dauer-Bedrohungspotential auflädt. Trotzdem wird für die Gewitter-Theorie gern die BRD als Exempel genommen. Das geht so: Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre war die rechtsradikale NPD mit 61 Abgeordneten in sieben Landtagen vertreten, bei der Wahl in Baden-Württemberg im Jahr 1968 erhielt sie 9,8 Prozent der Stimmen. "Neonazis rüsten fleißig für ein neues 33." Aufkleber mit dieser Parole pappten damals warnend an den Türen von Schulen und Hochschulen.
Mit dem "neuen 33", mit der zweiten Machtergreifung, kamen die NPD-Leute aber nicht weit. Bei der Bundestagswahl von 1969 erzielten sie zwar mit eineinhalb Millionen Stimmen (4,3 Prozent) das beste Wahlergebnis einer antidemokratischen Partei nach 1945 in der Bundesrepublik. Das war jedoch damals schon der Anfang vom schnellen Ende, das von innerparteilichen Kämpfen beschleunigt wurde. Bald spielte die NPD für lange Zeit keine Rolle mehr. Ähnlich erging es anderen rechtsradikalen Parteien, den Republikanern und der DVU, später auch wieder der NPD. Sie kamen und gingen und tauchten wieder auf. Wenn in den Landtagen Rechtsextreme sitzen, was das nach deren Theorie wieder der vorrübergehende Durchgang von dreckigem Wetter. Das ist erstens grob verharmlosend, weil in ganz Ostdeutschland zu beobachten ist, wie die Parlamentarisierung der NPD zu einer institutionellen Gewöhnung führt. Und das ist zum anderen falsch, von einer jeweils nur temporären demokratischen Störung durch Rechtsaußen-Parteien zu reden. Warum?
Seit Mitte der 80er-Jahre, seit der französischen Front National unter seinem Führer Jean-Marie Le Pen erste größere Erfolge erzielte, sind rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien zu festen politischen Größen in Europa geworden. Die Grenzen zwischen rechtspopulistischem und rechtsradikalem Gedankengut verschwimmen. In vielen Ländern erzielen Rechtsrechts-Parteien auf nationaler Ebene regelmäßig Wahlergebnisse zwischen zehn und 20 Prozent, oft noch mehr. Sie sind nicht mehr vorwiegend anachronistisch, sondern liegen immer öfter im Trend, der, je nach Land, ein je ganz anderer sein kann. Es gibt Rechtsaußen-Parteien mit antimodernen und es gibt solche mit libertären Zügen.
Was verbindet die Rechts- und Rechtsrechtsparteien in Europa? Was verband den 2008 tödlich verunglückten Jörg Haider in Österreich, der vor 20 Jahren mit seiner damaligen FPÖ zunächst einen radikalliberalen wirtschaftspolitischen Kurs für Freiberufler und Selbständige führte, sich aber dann mit seiner Partei den Arbeitern zuwandte und protektionistische Maßnahmen forderte, was verband diesen alten und neuen Haider mit sich selbst und einem Le Pen und seinem Front National? Was verbindet Le Pen mit dem Vlaams Blok in Belgien? Was verbindet den Vlaams Block mit der norwegischen wohlstands-chauvinistischen und antieuropäischen Fortschrittspartei des Carl I. Hagen? Was verbindet Hagen mit dem Schweizer Christoph Blocher, der keine neue Partei gegründet, sondern die alte, seit Jahrzehnten etablierte Schweizer Volkspartei rechtsgewendet hat? Was verbindet Blocher mit Umberto Bossi und seiner lombardischen Lega Nord, die als Partei der Handwerker und Kleinunternehmer die Abspaltung von Italien und ein ultraliberales Wirtschaftskonzept verficht? Was verbindet Bossi mit der dänischen Volkspartei DF, die bei Wahlen 2005 erneut zur drittstärksten Partei wurde (13,2 Prozent). Und was verbindet sie mit dem Ungarn Viktor Orban und seiner Fidesz-Partei?
Der gemeinsame Nenner ist die aggressive Agitation gegen Einwanderer und gegen Flüchtlinge. Gemeinsam ist allen die Islamphobie, die den Islam mit islamistischem Fundamentalismus gleich setzt. Gemeinsam ist eine Sündenbock-Polemik gegen Ausländer als Basso continuo ihrer Politik. Alle rechtspopulistischen Parteien in Europa schüren Überfremdungsängste – sie reden aber nicht, wie das die klassisch rechtsextremen Parteien tun, vom Schutz der Rasse, sondern vom Schutz der kulturellen und nationalen Identität. Ihre Chefs agieren als angebliche Saubermänner mit dem eisernen Besen. Sie stellen üblicherweise auch nicht die Demokratie als solche in Frage, sie agieren aber gegen ihre Werte: Sie richten sich gegen den Gleichheitsgrundsatz, sie propagieren die Ausgrenzung "der Anderen", der Ausländer, der Einwanderer, der Muslime, sie propagieren das Recht auf den Unterschied, auf das Anders- und Besser-Sein.
Die meisten der genannten Rechtsaußenparteien schrecken davor zurück (zu den Ausnahmen gehört FN von Le Pen), sich exzessiv rechtsextrem zu gebärden; sie nehmen aber kräftige Anleihen im argumentativen Fundus, sind aber nicht militant. Es geht ihnen um nationale und kulturelle Identität. Die deutsche NPD ist, wie gesagt, etwas Anderes, noch viel Gefährlicheres: Dort finden sich Elemente des genannten rechtskonservativ-populistischen Gedankenguts und des gewaltbereit national-sozialistischen Milieus mit ihren geheimbündlerischen Kameradschaften.
Seit dem 11. September 2001, seit den Attentaten islamistischer Fundamentalisten in New York und Washington, hat sich das Klima für Rechtsrechts-Parteien noch einmal erwärmt – und die Debatte über die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen tut noch einmal ihren Teil. Klima kommt vom griechischen "klimatos", "Neigung", und meint den Einstrahlwinkel der Sonne. Seitdem die Angst der Menschen wächst, wächst auch die Neigung, den autoritären Rechtsaußen-Parteien und ihrer binären Politik zu vertrauen. Der politische Ton hat sich verschärft, die Fremdenangst hat zugenommen, das innerpolitische Klima in vielen europäischen Ländern ist giftiger geworden.
Auffallend ist, dass es einen Rechtspopulismus auch ohne Einwanderung gibt, wo wie es seit jeher einen Antisemitismus ohne Juden gab. In Deutschland erzielen die fremdenfeindlichen Parteien DVU und NPD ihre größten Erfolge dort, wo es am wenigsten Ausländer gibt: Im Osten, in Brandenburg, in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Wie bekämpft man Rechtsextremismus?
Wie bekämpft man Rechtsextremismus? Wie bekämpft man Rassismus und Fremdenfeindlichkeit? Es gibt einen merkwürdigen Glauben daran, auch bei aufrechten Demokraten, dass es, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus geht, genügt, die richtige Gesinnung zu haben. Aber: Moral allein genügt noch nicht. Es genügt auch nicht ein neuer Verbotsantrag gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht. Manche Leute glauben, so ein Verbotsantrag funktioniert wie die Fernbedienung beim Fernsehen: Man drückt drauf – und schon hat man ein neues Bild und ein neues, besseres Programm. So einfach ist es nicht.
Was braucht man wirklich, um Rechtsextremismus zu bekämpfen? Was braucht man wirklich, um Visionen zu entwickeln für eine gute Zukunft der demokratischen Gesellschaft Man braucht Leute, die sich trauen, und die in mühseliger Alltagsarbeit in die Schulen gehen, in die Jugendzentren, in die Behörden und zur Polizei – Leute, die es nicht akzeptieren, wenn abgewiegelt und abgewimmelt wird. Man braucht Leute und Projekte, die "Wehret den Anfängen" heißen, oder "Buntes Leben", man braucht die Leute, die Workshops, Demonstrationen, Konzerte, Aufklärungskampagnen machen, man braucht Leute, die einer braunen Alltagskultur offensiv entgegentreten. Man braucht eine diskursive Gesellschaft, man braucht staatliche und stattlich geförderte Gegenstrategien, man braucht, vor allem, mutige Bürgerinnen und Bürger, denen nicht gleichgültig ist, wenn sich die Gesellschaft braun verfärbt, wenn Neonazis den öffentlichen Raum zu dominieren versuchen. Dabei dürfte es den Leuten, die dagegen aufstehen, die sich also etwas trauen, manchmal so ergehen, wie es in einem berühmten Film-Buchtitel steht: "Allein gegen die Mafia." In dieser Situation zu bestehen ist ein Akt hoher Zivilcourage. Wo die Mitte der Gesellschaft braun schillert, gilt oft als Nestbeschmutzer nicht der, der das Nest beschmutzt, sondern der, der es säubert.
Allein gegen die Mafia? Der Vergleich ist nicht abwegig
Die Mafia. Lassen Sie mich einen kleinen gedanklichen Ausflug machen. Vor zwei Wochen durfte ich in Köln eine Laudatio für Leoluca Orlando halten, den früheren Bürgermeister von Palermo, den berühmten Kämpfer gegen die Mafia. Er bekam den Konrad-Adenauer-Preis der Stadt Köln. Vor gut zehn Jahren bin ich mit diesem Leoluca Orlando dem damaligen Bürgermeister von Palermo und Gründer der Anti-Mafia-Partei La Rete, durch Sizilien gefahren. Er hat mir nicht nur sein Land, sein Palermo, gezeigt: Er hat mir gezeigt, was Bürgersinn ist – und was Beharrlichkeit, Unbeirrbarkeit und Mut vermag. Ich mag Ihnen das erzählen, weil es auch für unser Thema lehrreich ist.
Er hat mir Kirchen gezeigt, die auch nachts geöffnet sind, er hat mir die Oper gezeigt, die er wiedereröffnen wollte – was mittlerweile auch geschehen ist. Er hat mich mit stillem, unbändigem Stolz durch die nächtlichen Gassen geführt hin zur Santa Maria dello Spasimo, zu jener gotischen Kirchenruine, in der Unerhörtes geschehen ist: Palermo hat sich dort selbst ausgegraben. Mehr als 1500 Lastwagen waren es, mit denen Freiwillige den Schutt aus der Ruine abtransportiert haben. Aus einem Trümmerhaufen, einem Rattenloch, ist ein Zentrum der Kultur, eine Heimstatt der schönen Künste geworden.
Und dort, zwischen Baum und einem der Strebebögen haben Sie mir, es war schon Mitternacht, von der "Wiedergeburt Palermos" erzählt. Und als ich fragte, was ich mir darunter vorstellen sollte, zeigten Sie um sich und erzählten: "Als ich mit meiner politischen Tätigkeit begann, war Palermo nur physisch eine Stadt; niemand fühlte sich für sie verantwortlich. Niemand fühlte sich für die Straßen und Plätze, für den Markt, für die öffentlichen Anlagen oder das Theater verantwortlich. Die Geschichte einer Stadt, nehmen Sie Freiburg oder Köln oder Florenz, ist immer die Geschichte ihrer gemeinsamen Werte und Sachen – eine solche Geschichte gab es in Palermo nicht. Die Verantwortung des Einzelnen endete an der Grenze des eigenen Besitzes, es gab keinen Gemeinsinn. Als aber die Mafia anfing, exzessiv zu morden, als sie die beliebten Richter und Polizisten tötete, da bekamen die Menschen Angst – sie sind auf die Straßen und Plätze gegangen und haben entdeckt, das es eine Stadt gab, die außerhalb ihrer eigenen Häuser existierte." Ich verstand. Er meinte die Wiederentdeckung der Zivilcourage, des Gemeinsinns und der Zivilgesellschaft. Seitdem haben diese Wörter für mich einen sizilianischen Klang.
Bei der Stadtführung zeigte er mir eine Kirche, die er soeben wieder eingeweiht hatte; sie war fünfhundert Jahre alt. Den Hafen hatte er auch wieder eingeweiht, er ist tausend Jahre alt und den zweihundertjährigen Park auch. In Deutschland, so sagten Sie, würde man solche Renovierung und Restaurierungen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den Bürgermeister und ein paar Baufirmen bezeichnen – aber: "In Wahrheit handelt es sich um eine Revolution."
Revolution – das bedeutet den Umsturz der alten Verhältnisse. Und die alten Verhältnisse – das waren Korruption, mafiose Bürgermeister, katzbuckelnde Stadträte, unterwürfige Architekten und käufliche Stadträte, die die ganze Bauwirtschaft der Stadt kontrollierten. Die alten Verhältnisse: Da war der Verfall der Altstadt, der der mafiösen Sippschaft gar nicht schnell genug gehen konnte, weil sie am liebsten alles niedergewalzt hätte, um auch dort noch Wohntürme hochzuziehen. Die alten Verhältnisse: Das waren die Jahre, in denen selbst die Straßenlaternen nur leuchteten, wenn die Mafia es wollte. In diesen alten Verhältnissen gab es in Palermo an die 250 Morde im Jahr, die auf das Konto der Mafia gingen. Am Ende seiner Amtszeit als Bürgermeister gab es in Palermo noch acht Morde im Jahr – und diese ohne Beteiligung der Mafia. Palermo wurde unter seiner Ägide zur sichersten Stadt Italiens. Es war eine internationale Anerkennung dieser Leistung, dass in dieser Stadt im Dezember 2000 die UN-Konferenz zur Unterzeichnung der Konvention gegen das länderübergreifende organisierte Verbrechen stattfand.
Die alten Verhältnisse: Das Ende dieser alten Verhältnisse begann auch damit, dass Letizia Battaglia, die weltberühmte Fotografin, die Leoluca, zur "Stadträtin für Lebensqualität" ernannt hatten, auf Plätzen und an Uferstreifen Palmen pflanzte und Marmorbänke aufstellte. Das war der erste zaghafte Frühling von Palermo – der dann in dem baugrubengroßen Krater verschwand, den das Mafia-Kommando 1992 beim Anschlag auf den Richter Giovanni Falcone in die Autobahn zum Flughafen sprengte. Die Mafia-Morde an den Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino waren anders als hundert stille Morde früher: Sie waren laut, und sichtbar.
Leoluca Orlando stand als nächster auf der Todesliste. Als das in einem Zeitungsinterview angedeutet wurde, boten sich Tausende von Frauen aus Palermo in einer Unterschriftenliste an, Orlando künftig mit ihren Kindern in dessen Dienstwagen zu begleiten. Denn die Mafia, die, so Orlando, "unsere Werte, unsere Kultur benutzt und pervertiert, um zu töten", habe größere Angst und größeren Respekt vor den Frauen und Kindern gehabt als vor den Waffen der Polizei.
Die alten Verhältnisse endeten mit dem Wieder-Erwachen von Zivilcourage und Gemeinsinn in Palermo. Gemeinsinn: In Deutschland fragt man neuerdings immer öfter – etwa dann, wenn es um die Wirtschaft und ihr Management geht – was dieses Wort bedeutet und wozu es verpflichtet. Im Palermo des Leoluca Orlando war es so: Schulklassen übernahmen die Patenschaft für Kulturdenkmäler, Betriebe adoptierten einen bestimmten Platz. Sie kümmerten sich darum, entrissen Denkmäler und Plätze dem Niemandsland und der Verwahrlosung. In diesen beginnenden neuen Verhältnissen war jede Kunstausstellung, jede restaurierte Säule, jedes neue Straßencafe ein Sieg. Hunderte Cafes und Restaurants stellten ihre Tische auf die Straße, fünf Jahre zuvor hatte das kaum ein Wirt gewagt. Die Stadtverwaltung schickte mehr Polizisten auf die Straße, der Müll wurde getrennt und regelmäßig abtransportiert, die neuen Busse fuhren pünktlich. Auch so sehen neue Zeiten aus.
Noch eine letzte Erzählung von diesem Mann: Er lief mit mir, es war im Herbst 1996, durch das berühmte Mafia-Nest Corleone, seinem Geburts- und Heimatort.
Soeben hatte in Florenz der Prozess gegen die Corleonesi begonnen. Sie liefen nach dem Essen mit mir hinauf zum Franziskaner-Kloster, das wie eine Bastion auf dem höchsten Felsvorsprung von Corleone sitzt, zu Fra Paolo und den Patres. Die Leibwächter, so schien es mir, waren sehr nervös, sie hatten den gepanzerten Wagen stehen lassen, liefen den Berg hoch durch die steilen Gassen, als wollten Sie mit ein Fitnessprogramm absolvieren. Sie schauten auf dem Weg hier in eine Kneipe, dort in einen Friseursalon, sie suchten, so dachte ich mir, gerade zu manisch den Kontakt mit den Leuten.
Man müsse, sagten sie, zeigen, dass man sich nicht fürchtet, dass man keine Angst hat, dass man den öffentlichen Raum nicht "denen" überlässt. Nicht "denen" – das waren die, die ein paar Jahre vorher ihre Freunde Borsellino und Falcone ermordet hatten. Man darf nicht zeigen, dass man Angst hat. Man darf den öffentlichen Raum "nicht denen" überlassen. Diese Sätze Leoluca Orlandos fallen mir ein, wenn ich über die Neonazis in Deutschland nachdenke.
Wege zur Rückeroberung des öffentlichen Raums
In Ostdeutschland sind es rechte Kameradschaften, die den öffentlichen Raum besetzen. In ganzen Kleinstädten ist der Rechtsextremismus zur dominanten Jugendkultur geworden. Die NPD und die DVU sitzen in den Stadträten und die rechten Cliquen sitzen in den Kneipen und an den Tankstellen, bei Sportveranstaltungen und Stadtfesten. Wenn Neonazis "ausländerfreie" oder "national befreite" Zonen proklamieren, dann sagt das sehr genau, worum es gehen muss: Um die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz.
In Sizilien heißt das, was das Gemeinwesen zerstört, Mafia. In Deutschland heißt es Neonazismus. Es heißt Antisemitismus. Es heißt Ausgrenzung. Es heißt Desintegration. Es heißt auch Jugendarbeitslosigkeit. Es heißt Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Mafia in Deutschland hat also andere Namen, eine andere Geschichte, sie funktioniert anders – aber sie richtet vergleichbares Unheil an: Hier wie dort macht sie Gesellschaft und Kultur kaputt. Und hier wie dort wird oder wurde geleugnet, dass es Mafia gibt: "Mir ist nicht bekannt, das es bei uns Rechtsradikale gibt", sagen Bürgermeister in Deutschland nicht selten. Leoluca Orlando kennt diesen Satz, man sagte ihn über die Mafia auch. Gern heißt es auch: "Das war doch keine Hetzjagd, das war doch nur eine Wirtshausschlägerei!" Es ist dies, wie Juristen sagen würden, eine Protestatio facto contraria – eine Leugnung von Fakten also, die offenkundig sind.
Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz: Das gilt nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Die besonderen Probleme in Ostdeutschland verleiten im Westen bisweilen dazu, sich sehr pharisäerhaft zu gerieren – als ob Zivilcourage und Verantwortungsgefühl nicht auch hier Mangelware wären. Der Westen unseres Landes braucht den Sauerteig Zivilcourage so sehr wie der Osten: "Viele sahen zu. Niemand half." Es gibt viele solcher Situationen. Man sitzt dann nicht mir Bier und Erdnüssen vor dem Fernsehen, wo Gewalt und Gemeinheit anmoderiert und von Werbeblöcken unterbrochen werden. Live ist es anders: Man müsste oft schreien, einschreiten, oder wenigstens die Notbremse ziehen, sich mit anderen, die auch herumstehen, verständigen.
Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz: Da helfen die klassischen Methoden der Mafia-Bekämpfung und die klassischen Methoden der Bekämpfung von organisierter Kriminalität nicht sehr viel weiter. Mit Kronzeugenregelungen, mit Opferhilfsprogrammen, mit den Mittel und Methoden des starken Staats ist es da nicht getan – da braucht man Leute und Initiativen wie Sie: Es geht um Demokratie-Coaching, es geht darum, notfalls den Behörden und der Öffentlichkeit die Augen immer wieder zu öffnen, ihnen zu zeigen, wer sich hinter nur vermeintlich harmlosen Vereinen verbirgt; es geht darum, das Vertrauen der Jugendlichen in den Rechtsstaat wieder zu gewinnen, wenn sie ungute, schockierende Erfahrungen mit Neonazis und fehlendem Polizeischutz gemacht haben. Es gibt die Fälle, bei denen Jugendliche von einer Horde Neonazis durch die Stadt gejagt werden, sich gerade noch in die Wohnung flüchten können, bei der Polizei anrufen – und dann zu hören bekommen, auch wenn die Nazis noch vor der Tür stehen: "Dann bist Du doch jetzt in Sicherheit, dann ist doch alles in Ordnung!" Nichts ist in Ordnung. In so einem Fall bricht die Geborgenheit im Rechtsstaat zusammen. Es braucht oft viel Zivilcourage, um für Geborgenheit im Demokratischen Rechtsstaat zu sorgen.
Die Pest der freiheitlichen Gesellschaft
Angstmache nicht nur im Osten: Neonazis in Passau am 3.1.2009. (© Reuters)
Angstmache nicht nur im Osten: Neonazis in Passau am 3.1.2009. (© Reuters)
Neonazismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus: Das ist die Pest für eine freiheitliche Gesellschaft. Es ist, wenn es etwa gegen den Antisemitismus geht, nicht damit getan, Auschwitzlüge und Volksverhetzung unter Strafe zu stellen, die Synagogen zu bewachen, ein paar als verrückt apostrophierte Neonazis aus dem Verkehr zu ziehen und den Zentralrat der Juden zu beruhigen. Der Antisemitismus ist nämlich nicht nur eine Angriff auf eine Minderheit in Deutschland, auf eine, der man aus historischen Gründen besonders verpflichtet ist. Er ist ein Angriff, der die Gesellschaft insgesamt bedroht. Der Antisemitismus ist kein Minderheitenthema, kein Thema, bei dem es nur um das Verhältnis zu den mittlerweile wieder hunderttausend Juden in Deutschland geht; er ist ein zentrales Thema der deutschen Gesellschaft.
Es ist sicher so, dass sich das offizielle Deutschland bemüht. Es gab Wiedergutmachung, schon unter Adenauer. Es gibt die Woche der Brüderlichkeit, Jahr für Jahr ist der Bundespräsident ihr Schirmherr. Christlich-jüdische Gesellschaften sind entstanden, Synagogen restauriert, jüdische Gemeinden neu- und wiedergegründet worden. Gedenkstätten werden gepflegt, Denkmäler errichtet. Spitzenpolitiker schreiben Grußworte zu den jüdischen Feiertagen und bei den Gedenkfeiern der Republik sitzen die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in der ersten Reihe. Das offizielle Deutschland fühlt sich in der Rolle des ehemaligen Alkoholikers, der weiß, was passiert, wenn er wieder zur Flasche greift.
Abseits der offiziösen Anlässe dagegen, und zwar nicht nur an den Stammtischen, greift man immer wieder zum alten Fusel. Man hat sich hierzulande daran gewöhnt, dass jüdische Einrichtungen ausschauen müssen wie Festungen und dass fast tagtäglich jüdische Gräber geschändet werden. Soll man sich jetzt auch noch daran gewöhnen müssen, das Kindern in der S-Bahn der Davidstern vom Halskettchen gerissen wird – und die Politik Israels als Entschuldigungsgrund herhalten muss?
"Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher", hat Hannah Arendt voller ironischem Pessimismus gesagt. Das gilt für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit genauso. Vor Rassismus und Ausländerfeinlichkeit ist man nur noch auf dem Monde sicher. Umso wichtiger sind die Versuche, denn Mond auf die Erde zu holen. Damit, mit diesen Versuchen, sind wir bei der Arbeit der Netzwerke für Demokratie, bei den Aktionen für Zivilcourage, bei der Arbeit der Bürgergesellschaft – zu der auch diese Tagung der Schwarzkopf-Stiftung gehört. Verfassungsschutz ist nämlich nicht, jedenfalls nicht nur und nicht in erster Linie, das, was sich in einer Bundesbehörde oder einer Landesbehörde dieses Namens etabliert hat. Der vitale Verfassungsschutz lebt in den Initiativen gegen Rechtsextremismus und gegen rechtsradikale Gewalt.
Zivilgesellschaft ist gebündelte Zivilcourage. Zivilcourage ist es, den Opfern rechtsextremer Gewalt zu helfen, sie zur Polizei zu begleiten. Zivilcourage ist es, das Feld nicht denen zu überlassen, die sich "Sturmfront" oder "White Power" ans Autofenster kleben, nicht denen, die sich "Sturm 34" nennen. Zivilcourage ist es zu versuchen, den Mond auf die Erde zu holen, immer und immer wieder. Demokratie muss die Auseinandersetzung mit braunem Gedankengut nicht scheuen.
In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die Heimat sein kann für alle Menschen, die in ihr leben? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die sich darauf besinnt, was Demokratie eigentlich ist – nämlich, und das ist die schönste Definition, die ich kenne: eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Miteinander gestaltet! Miteinander! Damit verträgt es sich nicht, wenn immer mehr Menschen ausgegrenzt werden: Arbeitslose, sozial Schwache, Ausländer, Flüchtlinge, Einwanderer. Die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie brauchen, um Bürgerin und Bürger sein zu können, Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte Existenz, sie müssen frei sein können von Angst. Das gilt für die Alt- und für die Neubürger, das gilt für Deutsche und Zuwanderer. Ein Patriot ist der, der dafür sorgt, dass Deutschland Heimat bleibt für alle Altbürger und Heimat wird für alle Neubürger. Das nennt man Integration und das ist das Gegenteil von Ausgrenzung.
Multikultur schmeckt hierzulande allen – so lange man sie essen kann. Wäre der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ein Gradmesser für die Integration der Ausländer in dieser Gesellschaft – es könnte keine besseren Werte geben. Indes: Integration ist nicht die Addition aller Döner-Buden in den deutschen Fußgängerzonen, Integration ist mehr als das In-Sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem schmecken und die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht. Als ich Jura studiert habe, und wir im strafrechtlichen Seminar die Probleme diskutiert haben, die sich den Diebstahlsparagrafen im Strafgesetzbuch ergeben, da sagte mein Professor über einen Dieb, der Nahrungsmittel stiehlt und sie sofort verputzt, den schönen Satz: "Die Insichnahme ist die intensivste Form der Ansichnahme." Würde dieser Satz auch für die Einwanderungsgesellschaft gelten – dann wären wir schon erheblich weiter. Einwanderung darf nicht nur in Gaststätten und Einwohnermeldeämtern statt finden. Aneignung von Einwanderung sieht anders aus: Sie findet statt an den Schulen, sie zeigt sich in den Lehrplänen aller Schularten, sie zeigt sich auf den Spielplänen der Theater – und sie zeigt sich, am allermeisten, in einem selbstverständlichen, alltäglichen Miteinander.
'Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit'
Wenn ich die Arbeit der Initiativen und Projekte gegen Rechtsextremismus studiert habe, ist mir das Wort "Widerstand" eingefallen. Diese leisten Widerstand gegen die Verbräunung und Verrohung unserer Gesellschaft. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort Widerstand anders benutzt. Widerstand hierzulande wird meist reduziert auf die letzte Chance, auf die letzte Notwehrmaßnahme gegen eine verbrecherische Obrigkeit. Ich glaube, das nicht ganz richtig. Die Worte aus den Flugblättern der Weißen Rose haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit, also auch in der gegenwärtigen: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt." Und: "Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keine anfangen!" Jeder und jede muss für sich nachdenken, was ihm und was ihr das heute sagt und wozu es ihn und sie verpflichtet – und das Ergebnis dieser Pflicht kann man Widerstand nennen. Ein Ergebnis dieses Nachdenkens sind Initiativen wie "Bunt statt Braun" oder "Exit". Es gibt sie zahlreich, aber sie werden finanziell ausgetrocknet. Wir müssen sie stärken, fördern, ermutigen.
Widerstand in der Demokratie heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang
Widerstand – das war 1944 der Widerstand gegen das verbrecherische Naziregime. Widerstand, das waren auch die Montagsdemonstrationen in der DDR. Staatsrechtler und Rechtsphilosophen mögen diesen Widerstand gegen ein illegitimes Regime als den einzig legitimen, als den großen Widerstand bezeichnen. Das mag in der juristischen Wissenschaft so richtig sein. In der Wirklichkeit ist es anders. Widerstand ist auch in der Demokratie, auch im Rechtsstaat notwendig. Dieser Widerstand heißt nur anders: Er heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang, er heißt zum Beispiel "Netzwerk für demokratische Kultur" oder "Arche Nova". Es ist Widerstand, wenn Selbstverteidigungskurse für Jugendliche organisiert werden, die sich von rechten Schlägern nicht mehr einschüchtern lassen wollen. Man mag das den "kleinen" Widerstand nennen. Für diejenigen, die ihn leisten, ist es ein, ganz subjektiv, ein ganz großer. Er erfasst die ganze physische und psychische Existenz.
Bürgerprotest in Passau am 3.1.2009. (© dpa)
Bürgerprotest in Passau am 3.1.2009. (© dpa)
Das alles ist Widerstand – aber nicht als Ultima ratio, sondern als Prima ratio: Solcher Widerstand ist Ratio der Demokratie. Solcher Widerstand ist Ratio der Demokratie, ihr Lebensnerv. Widerstand bedeutet heute: Nicht wegsehen, wenn Unrecht geschieht, wachsam bleiben, wachsam handeln, den Rechtsextremisten nicht das Feld zu überlassen. Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann, mein Lehrer, hat einmal davon gesprochen, "dass dieser 'kleine' Widerstand beständig geleistet werden muss, damit der große Widerstand entbehrlich bleibt". So ist es.
Widerstand mag in vielen Fällen auch und vor allem der Widerstand gegen die eigene Angst sein, gegen die eigene Bequemlichkeit, gegen das Angepasstsein. "Alleine kann man ohnehin nichts bewirken" – "So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht" – "Nach mir die Sintflut." In uns allen stecken manchmal solche Sätze. Da beobachtet eine Deutsche, wie im Bus ein älterer ausländischer Mann von einigen Jugendlichen angepöbelt wird. Lohnt es sich denn, aufzustehen? Der sogenannte "kleine" Widerstand lebt oft von kleinen Schritten – oft von der Selbstüberwindung. Der kleine Widerstand ist nicht nur wichtig für andere, nicht nur für die Opfer, nicht nur für unser Land, nicht nur für die Demokratie. Im Kern ist er wichtig für jeden Einzelnen – für die eigene Selbstachtung nämlich. Die Arbeit gegen Rechtsextremismus und Intoleranz beginnt mit der Überwindung der eigenen Bequemlichkeit und Angst.
Ich habe Ihnen viel von Leoluca Orlando erzählt, von seinen Kämpfen gegen die Mafia. Leoluca Orlando hat ein Credo, es ist ein Credo der Aufklärung. Und dieses Credo ist sehr anschaulich niedergelegt in seinem Nachwort zum Buch "Ich sollte der Nächste sein": "Den islamischen Terrorismus bekämpft man, indem man die islamische Kultur erneuert; den Nationalsozialismus bekämpft man, indem man die deutsche Kultur erneuert; und das beste Mittel gegen die Gewalttaten der Katholiken in Nordirland ist es, die Kultur der nordirischen Katholiken zu erneuern. Diesen Zusammenhang habe ich begriffen aufgrund der Erfahrungen, die wir in Sizilien gemacht haben. Was ich auch begriffen habe: Veränderungen sind möglich. In Sizilien ebenso wie in Afghanistan – oder in Deutschland." Diese Sätze lehren, was Aufklärung heute bedeutet. Aufklärung ist nicht eine historische Epoche, sie ist nicht einfach da und bleibt einfach da. Aufklärung ist eine Aufgabe für jede Generation, für jede und jeden, immer wieder.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Nicht in einer braunen, sondern in einer bunten, einer freien, einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft. Also brauchen wir neue, phantasievolle Formen der demokratischen Solidarität, phantasievolle Projekte des Widerstands gegen den Rechtsextremismus, wir brauchen eine Gegenbewegung von unten, eine Gegenbewegung gegen die gefährlichen Extremismen, mitten in den Kommunen, an der Basis.
Wie also geht diese Arbeit der Eroberung des öffentlichen Raums für die Demokratie weiter? Märchen beflügeln die Phantasie. Deshalb soll diese Laudatio für die Zivilgesellschaft, soll die Anstiftung zum Widerstand mit einem Märchen enden. Es ist, wie Märchen es oft sind, sehr drastisch – aber es handelt davon, wie sich vermeintlich Schwache gegen eine Gefahr verteidigen und wie man das miteinander schafft. Es ist ein Märchen für alle, die unter oft schwierigsten Umständen soziale Arbeit leisten müssen. Es ist ein ziemlich unbekanntes Märchen der Brüder Grimm. Die Gefahr, gegen die sie sich verteidigen, wird verkörpert durch einen Herrn Korbes.
"Da taten sich also Hähnchen und Hühnchen, der Mühlstein, ein Ei, eine Ente, eine Stecknadel und eine Nähnadel zusammen: Wie sie zu dem Herrn Korbes seinem Haus kamen, war der Herr Korbes nicht da. Die Mäuschen fuhren den Wagen in die Remise, das Hähnchen flog mit dem Hühnchen auf eine Stange, die Katze setzte sich in den Kamin, die Ente in die Bornstande, die Stecknadel setzte sich auf ein Stuhlkissen, die Nähnadel ins Kopfkissen im Bett, der Mühlenstein legte sich über die Türe und das Ei wickelte sich in ein Handtuch. Da kam der Herr Korbes nach Hause, ging an den Kamin und wollte Feuer anmachen. Da warf ihm die Katze Asche ins Gesicht. Er ging geschwind in die Küche und wollte sich abwaschen. Wie er an die Bornstande kam, spritzte ihm die Ente Wasser ins Gesicht. Als er sich abtrocknen wollte, rollte ihm das Ei aus dem Handtuch entgegen, ging entzwei und klebte ihm die Augen zu. Er wollte sich ruhen und setzte sich auf den Stuhl, da stach ihn die Stecknadel. Darüber wurde er ganz verdrießlich und ging ins Bett. Und wie er den Kopf aufs Kissen legte, da stach ihn die Nähnadel. Da war es so bös und toll, dass er zum Haus hinauslaufen wollte. Wie er aber an die Tür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot."
Das ist nun freilich ein etwas befremdliches Ende. Die Fabel soll auch nicht als Aufruf zur Gewalt für einen guten Zweck missverstanden werden. Es geht in diesem Märchen um den Wert der gemeinsamen Aktion. Der Herr Korbes, er ist die Verkörperung der Gefahren, die einer demokratischen Gesellschaft drohen. Und die Geschichte zeigt, wie man sich gemeinsam dagegen wehrt, was solidarische Aktion vermag. Schreiben wir das Ende des Grimmschen Märchens um:
Der Herr Korbes soll bitte nicht erschlagen, er soll nur vertrieben werden aus dem Haus der Demokratie – vertreiben wir die Entsolidarisierung, vertreiben wir die Rücksichtslosigkeit, die den Rassismus, den Ausländerhass, die Intoleranz, vertreiben wir den Neonazismus. Aber wer ist mit seinen Möglichkeiten eher die Stecknadel, eher das Ei oder die Ente? Die eigene Rolle und die eigene Aufgabe zu finden, damit fangen der Widerstand und die gemeinsame Aktion an.