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Am Anschlag

/ 7 Minuten zu lesen

Abdul Kerim Şimşeks Vater war eines der Mordopfer des NSU. Neben dem Verlust musste die Familie auch damit leben, dass die Opfer zeitweise zu Tätern gemacht wurden.

Das Titelbild zeigt einen Anschlag des NSU, der oft vergessen wird: Am 9. Juni 2004 explodierte in der Kölner Keupstraße mit vielen türkischen Geschäften eine Nagelbombe. 22 Menschen wurden teils schwer verletzt. Getötet wurde niemand. (© picture-alliance/dpa)

Abdul Kerim Şimşek wird bald einen USB-Stick geschickt bekommen – mit einer PDF-Datei darauf, die in 3.025 Seiten das Urteil eines Jahrhundertprozesses begründet. Keine der Seiten wird er lesen. Stattdessen wird er den USB-Stick in den Schrank schmeißen. Dorthin, wo die Dutzenden Aktenordner stehen.

Sein Arbeitszimmer quillt über von Unterlagen zum NSU-Komplex. "Der Prozess war für die Katz", sagt er. Zu offen die Fragen, zu milde die Strafen. Bei der Urteilsverkündung, nach 438 Verhandlungstagen, hätten Neonazis auf der Zuschauertribüne geklatscht. Mit dem Thema NSU wolle er am liebsten abschließen; ein Leben beginnen, in dem die Wunden, die die Ermordung seines Vaters hinterließ, nicht immer wieder von Gerichtsterminen und Medienanfragen aufgerissen werden. Doch "damit abschließen", den Schlüssel ins Schloss stecken, umdrehen, abziehen, vergessen – das gehe einfach nicht, sagt Abdul Kerim, den die Deutschen Abdul und die Türken Kerim nennen. Wie soll man weitermachen, wenn die Kindheit mit 13 Jahren, am 9. September 2000, mit neun Schüssen endet? Und man in ein Loch fällt, aus dem man erst 20 Jahre später allmählich wieder rauskommt?

Enver Şimşek wurde mit acht Schüssen hingerichtet

Enver Şimşek, Abdul Kerims Vater, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. 15 Jahre vor seiner Ermordung war er nach Deutschland gekommen, arbeitete unter der Woche am Fließband und am Wochenende in Putzkolonnen. Er hatte sich hochgearbeitet und besaß wenige Jahre später einen Blumengroßhandel, einen Blumenladen und mobile Verkaufsstände. Jeden Montag fuhr er in die Niederlande, um neue Ware zu ersteigern. Meist arbeitete er von 5 bis 21 Uhr. Weil er deshalb kaum Zeit für die Familie hatte, beschloss er wenige Monate vor seinem Tod, den Großhandel zu verkaufen. Dann hätte er nicht nur in den Sommerferien etwas mit seinen Kindern Semiya und Abdul Kerim unternehmen können.

Am Samstag, dem 9. September 2000, vertrat Enver Şimşek einen Angestellten, der den Spätsommer in der Türkei verbrachte. Der Blumenstand war an dem Tag an einer viel befahrenen Ausfallstraße von Nürnberg aufgebaut. Als er im Inneren seines Wagens Blumen band, tauchten plötzlich zwei Männer in Radlerkleidung auf und zogen ihre Waffen. Mit acht Schüssen richteten sie Enver Şimşek hin. Als die Männer flohen, lebte er noch. Zwei Tage später erlag er im Krankenhaus seinen Verletzungen.

Heute steht in der Parkbucht an der Stelle des Tatorts ein kleines Schild. Es erinnert an Enver Şimşek, das erste Mordopfer der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund". Dass die Tafel schon mindestens 100-mal mit Hakenkreuzen beschmiert oder beschädigt wurde, sagt Abdul Kerim, nehme er mittlerweile nicht mehr persönlich. Er sitzt im Wohnzimmer seines kleinen Hauses im hessischen Friedberg und schaut in die Webcam seines Laptops. In manchen Wochen, wenn er viel zu tun hat, denke er kaum an das, was erst seinem Vater und dann seiner Familie angetan wurde. Nur wenn seine Tochter nach ihrem Opa fragt, komme alles wieder hoch. Dann denkt er daran, wie die Ermittler seine Mutter, seine Schwester und ihn viele Male auf die Wache bestellten.

Die Beamten fragten, ob er in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sei

Noch während sein Vater im Sterben lag, musste seine Mutter mit den Polizisten aufs Revier, um auszusagen. Sie fragten, ob ihr Mann in kriminelle Machenschaften verwickelt sei, eine Affäre oder Feinde gehabt habe. Bei 70 Prozent der Mordfälle kennen sich Täter und Opfer. Daher ermittelt die Kriminalpolizei meist im Umfeld des Opfers und bewegt sich dabei auf schmalem Grat: Die Beamten müssen die Angehörigen trauern lassen und ihnen gleichzeitig unangenehme Fragen stellen. Hört man Abdul Kerim jedoch zu, bekommt man das Gefühl, die Ermittler wandelten nicht auf einem Grat, sondern schossen eine steile Abfahrt in ein Tal aus Verdächtigungen hinunter, elf Jahre lang.

Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein kannte Şimşeks Blumenstand, weil er in der Nachbarschaft wohnte. Als die Nachricht über den Mord auf seinem Schreibtisch lag, notierte er: "Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?" Doch die Ermittler nahmen an, dass man die Mörder in der Drogen- oder Mafiaszene finden würde, Rechte hätten ihrer Auffassung nach ein Bekennerschreiben hinterlassen.

Abdul Kerim erinnert sich, wie die Wohnung seiner Familie mit Drogenhunden durchsucht und er auf der Wache ausgefragt wurde. Die Polizei verwanzte ihre Telefone und den Blumentransporter, um endlich die heiße Spur zu bekommen, die die Ermittlungshypothese beweisen würde. Doch die Ermittler tappten im Dunkeln – und machten somit die Opfer zu Tätern.

… einen rechtsextrimistischen Hintergrund schlossen sie dagegen aus

"Keine Sekunde habe ich an meinem Vater gezweifelt", sagt Abdul Kerim. Als im darauffolgenden Sommer 2001 mit derselben Pistole der Schneider Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg, dann die Gemüsehändler Süleyman Taşköprü in Hamburg und Habil Kılıç in München ermordet werden, hofft Familie Şimşek, dass organisierte Kriminalität als Motiv endlich ausgeschlossen wird. Doch das Gegenteil tritt ein: Die Ermittler gehen erst von Drogenkriminalität, dann von einem Konflikt zwischen verfeindeten türkischen Gruppen aus. Alle Angehörigen erleben nun in ähnlicher Weise das, was die Şimşeks seit ein paar Monaten durchmachen. Nach jedem Mord fragt die Sonderkommission "Bosporus" die Familien nach kriminellen Machenschaften, Drogen, heimlichen Affären. Einige Angehörige weisen darauf hin, dass es vielleicht "Türkenhasser" oder Nazis waren. Doch in diese Richtung wird kaum oder gar nicht ermittelt.

Abdul Kerim gewöhnt sich daran, zu verschweigen, dass sein Vater ermordet wurde. Die Leute hätten immer nach demselben Schema reagiert: "Irgendwas muss dein Vater doch angestellt haben." In der Schule rufen ihm Mitschüler hinterher: "Mafiajunge! Das ist der Sohn des Drogendealers." Als zwei Morde in Dönerimbissen geschehen, erfindet ein Redakteur der "Nürnberger Nachrichten" das Wort "Döner-Morde". Es macht eine traurige Karriere und wird von allen großen Medien aufgegriffen. "Das ist menschenverachtend: Mein Vater war kein Döner, er war ein Mensch", sagt Abdul Kerim. Spätestens nachdem im April 2006 erst Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in Dortmund und zwei Tage später Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé ermordet werden, ist für viele Menschen mit Migrationshintergrund klar, dass es sich um eine rassistische Mordserie handeln muss. Tausende Menschen ziehen durch Kassel. "Wir haben gefordert: 'Kein zehntes Opfer!'", erinnert sich Abdul Kerim. Die Menschen am Straßenrand hätten den Trauermarsch kaum beachtet. "Da hat uns immer noch keiner geglaubt, dass es Rechtsextreme waren."

Es dauerte elf Jahre, bis feststand: Şimşek wurde von Nazis ermordert

Am 4. November 2011 fliegt der NSU auf, am 11. hört Abdul Kerim im Radio, dass die Waffe gefunden wurde, und fährt sofort zu seiner Schwester. Gemeinsam schauen sie Nachrichten. "Endlich konnte ich sagen: Nazis haben ihn umgebracht." Elf Jahre musste er auf diese Gewissheit warten. "Von einem auf den anderen Tag konnten wir Opfer sein." Die Journalisten stehen Tag und Nacht vor seiner Haustür. Die meisten wollen Interviews, manche sich für ihre Berichte entschuldigen. Im Februar 2012 lädt die Bundeskanzlerin alle Angehörigen zu einer Trauerfeier ein und sagt: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken …"

"Vollständig aufgeklärt wurde nicht", sagt Abdul Kerim, auf eine offizielle Entschuldigung der Ermittlungsbehörden warte er immer noch. Mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse und einer der größten Prozesse der Bundesrepublik hätten die Mordserie nicht aufklären können. Dass die Täter so lange morden konnten, nannte Bayerns ehemaliger Innenminister Beckstein "die größte Niederlage des Rechtsstaats der letzten Jahrzehnte". Der NSU habe nicht nur aus dem Kerntrio bestanden, sagt Abdul Kerim. Es gebe Hinweise, dass Helfer vor Ort mögliche Ziele ausgekundschaftet hätten. Er würde gerne wissen, wie die Opfer ausgewählt worden seien. Warum versagten die Sicherheitsbehörden – vom Verfassungsschutz bis zum Militärischen Abschirmdienst –, die mehr als 40 V-Leute im Umfeld des Trios platziert hatten? Wenn Abdul Kerim darüber spricht, klingt es so, als habe er keinen Bachelor in Medizintechnik, sondern eine Doktorarbeit über den NSU-Komplex abgeschlossen.

"Man konnte sich damals einfach nicht vorstellen, dass Neonazis mordend durchs Land ziehen", sagt Abdul Kerim. Heute sieht das anders aus: die Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Attentate in Halle und Hanau. Nachdem in der hessischen Stadt ein Rechtsterrorist zehn Menschen erschossen hatte, fuhr Abdul Kerim täglich nach Hanau und traf sich mit Angehörigen. Dann erzählt er von seiner Anwältin Seda Başay-Yıldız, die Todesdrohungen erhalten habe, unterschrieben mit "NSU 2.0".

Abdul Kerim ist vor Kurzem in die Türkei geflogen, um seine Mutter und seine Schwester zu besuchen. Sie leben in dem Ort, wo Enver Şimşek alt werden wollte und heute begraben liegt. Auf dem Rückflug saß Abdul Kerim in einem Charter-Ferienflieger: "90 Prozent deutsche Rentner darin", schätzt er. Als sie in Frankfurt landeten, hätten die Beamten diese nicht kontrolliert. Er und andere Passagiere mussten ihr Gepäck aber öffnen. Also Menschen, die wie Abdul Kerim anders aussehen – in den Augen ihrer Betrachter.

Der Artikel ist zuerst im Externer Link: fluter zum Thema "Terror" erschienen.