Seit einiger Zeit wird immer wieder das Phänomen der "Deutschenfeindlichkeit" beklagt, besonders an Schulen mit einem hohen Anteil türkischer oder arabischer Schülerschaft. In der Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft in Berlin wurde im Jahre 2009 ein Artikel von Posor und Meyer veröffentlicht, der die Diskussion ins Rollen brachte und sehr schnell von konservativen Politikern und Rechten vereinnahmt wurde. In diesem Artikel führten die Autoren an, dass aufgrund hoher Bildungssegregation bestimmte Schulen, z. B. in Berlin-Kreuzberg oder -Neukölln, einen überproportional hohen Ausländeranteil aufweisen. Hier komme es zu Beschimpfungen und einer ablehnenden Haltung gegenüber deutschen Schülern. Aufgrund dieses Artikels meldeten sich viele Praktiker aus anderen Städten aus dem Ruhrgebiet mit ähnlichen Erfahrungen.
Vorurteile existieren – sowohl in der Mehrheits- als auch in der Minderheitsgesellschaft
Deutschenfeindlichkeit wird – berechtigterweise, wir kommen noch dazu – in gängigen Studien nicht abgefragt, wohl aber allgemeine Vorurteile gegenüber anderen Gruppen oder Ethnien. In der Tat geben Jugendliche mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund an, gegenüber deutschen Jugendlichen und Familien Vorurteile zu haben. Dabei wird deutlich, dass gerade die Jugendlichen, bei denen die Vorurteile sich sehr verfestigt haben, kaum private Kontakte zu Deutschen pflegen. Der 17-jährige Anwar beispielsweise, der aus dem Irak stammt, fasste seine Einstellungen gegenüber Deutschen 2012 folgendermaßen zusammen: "Ja, ich finde, Deutsche sind komische Menschen. Die sind nicht gläubig, die denken nur an sich, die helfen sich nicht untereinander, wenn sie Probleme haben. (…) Ehrlich gesagt, habe ich kein [sic] Kontakt zu Deutschen. Nur wenn ich zu [sic] Behörde muss oder zum Arzt. Privatkontakte habe ich nicht. Ich habe auch keine deutschen Freunde oder so. (…) In der Schule haben wir schon öfter Deutsche verarscht. Es gab in unserer Klasse eh’ nur zwei oder drei Deutsche." (Toprak & Nowacki 2012)
Der Jugendliche hat zwar keine Kontakte zu einheimischen Deutschen – abgesehen von Arztbesuchen oder Behördengängen –, aber er vertritt eine Meinung, die von Vorurteilen und Stereotypen geprägt ist. Auch wenn hier eine gewisse "Deutschenfeindlichkeit" zu spüren ist, fallen zwei wichtige Erkenntnisse ins Auge. Hier spricht ein Vertreter einer Gruppe, die kaum Kontakte zu Deutschen hat. Erstens trifft in dieser Situation also eine Mehrheit (Migrantenjugendliche) auf eine Minderheit (Deutsche). Und wenn Mehrheiten auf Minderheiten treffen, spielt die Mehrheit oft ihre Macht aus und benachteiligt die Minderheit. Dass die Machtausübung in Beleidigung, Gewalt, Mobbing, Ausgrenzung oder in "Deutschenfeindlichkeit" ausartet, sind jugendspezifische Verhaltensweisen, die pädagogisch aufgearbeitet werden können. Zweitens weiß die Sozialforschung, dass Jugendliche institutionelle und persönliche Diskriminierung auf unbeteiligte Dritte übertragen, um sich besser zu fühlen (Mansel und Spaiser 2013).
Auch in einer repräsentativen Befragung von Jugendlichen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von Baier u.a. ist zunächst eine gewisse "Deutschenfeindlichkeit" zu erkennen. So berichtet z. B. die Gruppe der türkischen Jugendlichen häufiger von Übergriffen auf einheimische Deutsche. Allerdings konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass ein enger Zusammenhang zwischen eigenem gewalttätigem Verhalten gegenüber Deutschen und selbst erlebten Übergriffen aufgrund der Migrationsgeschichte besteht. Die türkischen Jugendlichen, die diskriminieren, haben also selbst Diskriminierungen erlebt (Baier u. a. 2010).
Das ist umso interessanter, wenn man ein weiteres Umfrageergebnis in Betracht zieht: Umfragen ergaben nämlich auch, dass Deutsche als Nachbarn von den türkischen Jugendlichen als relativ beliebt beschrieben wurden, während umgekehrt deutsche Jugendliche türkische Nachbarn als äußerst unbeliebt einstuften (Baier und Pfeiffer 2009). Hier zeigen sich Probleme zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den türkischen Migranten. Bereits Tajfel (1982) beschreibt die Bedeutung der sozialen Identität, bei der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe die eigene Wertung bestimmt. Damit geht eine Abwertung der anderen Gruppen einher. Diese Abwertung wird durch knappe materielle Ressourcen noch einmal verstärkt.
An dieser Stelle möchte ich auf die Vielfältigkeit von Ursachen im Hinblick auf eine sogenannte "Deutschenfeindlichkeit" verweisen und deutlich hervorheben, dass insbesondere soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten von jungen Migranten türkischer oder arabischer Abstammung abweichendes Verhalten begünstigen.
Wer selbst Diskriminierungen erlebt, diskriminiert auch eher andere
Darüber hinaus gibt es etliche Untersuchungen, die nachweisen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, vor allem aber türkisch- und arabischstämmige, Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind (vgl. Baier u. a. 2010; Jünschke 2003). Diesen Trend bestätigt auch eine Studie von Mansel und Spaiser (2013), der zufolge Jugendliche mit muslimischem Hintergrund am häufigsten Diskriminierungen und Benachteiligungen erfahren. Die Gruppe wird in der allgemeinen Öffentlichkeit – sei es unter der Kategorie "Türken", "Muslime" oder "Deutsch-Türken" – als eine homogene Gruppe wahrgenommen und stigmatisiert. Junge Muslime empfinden sich in ihrer kulturellen Verortung häufig als Hybrid, d.h., sie empfinden sich selber als halb deutsch und halb türkisch/arabisch etc.. Daraus ergibt sich für junge Menschen ein Identitätsdilemma, wenn sie weder als Deutsche noch als Türke/Araber Anerkennung erfahren. Als Konsequenz entsteht daraus Assimilierungsdruck, welcher einerseits die Normen, Werte und kulturellen Orientierungen der Elterngeneration in den Hintergrund rückt und auf der anderen Seite jedoch keine Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft garantiert. Aus diesem Spannungsverhältnis kommt es zur Bildung einer negativen Identität. Minderwertigkeitsgefühle werden zu einem negativen Selbstbild verinnerlicht, und abweichendes Verhalten und Diskriminierung einer anderen Gruppe – ggf. Deutsche ohne Migrationshintergrund – wird zur Lösungsstrategie eines bewussten oder unbewussten Identitätskonfliktes. Zugespitzt führt das zur Abgrenzung von den – und zur Abwertung der – anderen und vermeintlich Schuldigen, in diesem Fall der Mehrheitsgesellschaft.
Dieses Verhalten "Deutschenfeindlichkeit" zu nennen, kommt den benannten Ursachen und Erklärungen noch nicht mal ansatzweise nah. Der Begriff ist aus meiner Sicht nicht zu gebrauchen, weil die autochthonen Deutschen nicht per se aufgrund ihrer Ethnie ausgeschlossen oder abgelehnt werden, sondern weil sie emotional die Gruppe der Mehrheitsgesellschaft bilden. Wie schon ausgeführt: Minderheiten werden dort benachteiligt, wo sie auf Mehrheiten treffen. Außerdem ist deutlich zu beobachten, dass Vorurteile einander beeinflussen und vor allem, dass Vorurteile ohne persönliche Kontakte auf das Verhalten einwirken. Es lässt sich feststellen, dass auch Diskriminierungen in Wechselwirkung stehen. Unabhängig von nationaler und kultureller Herkunft diskriminieren in bestimmten Kontexten die Mehrheiten die Minderheiten. Es ist sehr zu empfehlen, über solche Phänomene zu reden und Probleme deutlich zu benennen. Aber der Begriff "Deutschenfeindlichkeit" ist dafür nicht geeignet, weil er stark polarisierend wirkt und die Gräben zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten vertieft.
Dass Probleme von Jugendlichen und Heranwachsenden mannigfaltig sind, ist hinlänglich bekannt. Interventionen gegen Gewalt und für die Integration von Jugendlichen mit (türkischem/arabischem) Migrationshintergrund müssen zum einen an den sozialen Problemen allgemein ansetzen. Zum anderen müssen sie spezifische pädagogische und politische Ansätze im Umgang mit den Jugendlichen und ihren Familien berücksichtigen. Die Förderung einer positiven Identifizierung auch mit der deutschen Kultur, einer Partizipation am sozialen und wirtschaftlichen Leben sowie politische Bildung sind wichtige Ziele.
Literatur
Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J. und Rabold, S. (2010). Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. KFN-Forschungsbericht Nr. 107. Hannover. Baier, D. & Pfeiffer, C. (2009). Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrung, Integration, Medienkonsum. KFN-Forschungsbericht Nr. 109. Hannover. Mansel, J & Spaiser, V. (2013). Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche Fremdgruppen abwerten. Weinheim. Posor, A. & Meyer, C. (2009). Deutschenfeindlichkeit in Schulen. http://www.gew-berlin.de/blz/19635.htm Tajfel, H. (1982). Gruppenkonflikt und Vorurteil. Bern. Toprak, A. & Nowacki, K. (2012)- Muslimische Jungen. Prinzen, Machos oder Verlierer? Ein Methodenhandbuch. Freiburg i. B.