Die Israelin Alexandra Margalith besuchte im Dezember 2014 ihre Familie in Berlin. Sie ging zu Fuß durch Mitte und hatte ihren Mann am Telefon. Sie sprachen Hebräisch. An einer Ecke, so erzählt Margalith, hätten drei Männer gesessen – sie vermutet arabischstämmige. Als sie an ihnen vorbeikam, wurde sie bespuckt und beschimpft wegen ihrer "Judensprache". Einer der Männer habe eine Angriffsgeste mit dem Finger gemacht, das symbolische Messer am Hals. Da sei ihr mulmig geworden, erzählt Margalith, sie sei zügig weitergegangen.
"Dich kriegen wir auch noch, Judensau", habe ihr ein anderer, ihrem Eindruck nach arabisch aussehender Mann im März 2016 im Zug zwischen Duisburg und Köln zugeraunt, als er an ihr vorbeiging, berichtet die Journalistin Maxine Bacanji. Man habe ihr nicht ansehen können, ob sie Jüdin sei oder nicht, sagt die 24-Jährige. Sie habe eine Stofftasche mit der gut lesbaren Aufschrift "Judebeutel gegen Antisemitismus" auf dem Schoss gehabt, die aus einer Kampagne der Antonio-Amadeu-Antonio-Stiftung stammte. Als sie in Köln-Mülheim aussteigen wollte, habe der Mann im Weg zur Tür gestanden. Sie habe sich bedroht gefühlt. Erst im letzten Moment, als der Zug schon wieder anfuhr, sprang sie hinaus und rannte davon.
Geschichten wie diese gibt es viele, doch nur wenige Betroffene sprechen offen darüber. Zum einen, weil die angegriffenen Juden oder vermeintlichen Juden sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, Muslime oder solche, die sie dafür halten, pauschal zu verurteilen. Weder Margalith noch Bacanji wussten sicher, ob die Männer, die sie antisemitisch bedroht und beleidigt hatten, tatsächlich Muslime waren, welcher Nationalität sie angehörten, ob der verbal geäußerte Hass auf Juden religiös, nationalistisch oder islamistisch motiviert war. Zum anderen, weil die Fälle nur selten strafrechtlich verfolgt werden oder überhaupt strafrechtlich relevant sind. Das führt oft zur Resignation.
Judenfeindliche Handlungen, von Pöbeleien bis hin zu schweren Angriffen, werden – wenn sie bekannt werden – bei der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) seit Juli 2015 gesammelt und meist veröffentlicht.
Nach dem schwerwiegenden Fall des Rabbiners Daniel Alter, der im Jahr 2012 im als gutbürgerlich geltenden Berliner Viertel Friedenau von vermutlich arabischstämmigen Jugendlichen brutal zusammengeschlagen worden war, haben zuletzt 2017 die Schilderungen eines 14-jährigen jüdischen Jungen hohe Wellen geschlagen. Er hat im April 2017 nach antisemitischen Beleidigungen und körperlichen Angriffen durch nachweislich arabisch- und türkischstämmige Mitschüler eine Gemeinschaftsschule in Friedenau verlassen, weil er keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe. Kaum ein Medium in Deutschland, das nicht darüber berichtete, nachdem die Familie des Jungen sich zunächst einer britischen jüdischen Zeitung anvertraut hatte.
Einheitliche Kriterien zur Einordnung antisemitischer Straftaten fehlen
Die Polizei hat im ersten Halbjahr 2017 bundesweit 681 judenfeindliche oder antiisraelische Vorfälle registriert, wie aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Bundestagsanfrage des Grünen-Abgeordneten Volker Beck von August hervorgeht.
Im Gesamtjahr 2016 waren die antisemitischen Straftaten gegenüber 2015 um 7,5 Prozent auf 1.468 angestiegen.
632 der im ersten Halbjahr 2017 polizeilich registrierten antisemitischen Straftaten – mehr als 90 Prozent – wurden als rechts motiviert eingestuft. Dabei weist RIAS-Leiter Benjamin Steinitz darauf hin, dass Parolen wie "Juden raus", die üblicherweise unter rechtsextrem subsumiert werden, auch in islamistischen Kreisen populär seien, ebenfalls unter rechtsextreme Taten subsumiert werden. Von den 339 Personen, gegen die tatsächlich ermittelt wurde, hatten 312 die deutsche Staatsangehörigkeit. Ob darunter auch deutsche Muslime mit einem so genannten familiären Migrationshintergrund fallen, die seit mehreren Generationen im Land sind, wurde in der Statistik nicht erfasst.
Religiös oder arabisch-nationalistisch? Die Antisemitismen überlagern sich
Für Juden in Deutschland ist es einerlei: Sie fühlen sich zunehmend bedroht, unabhängig davon, ob eine antisemitische Tat durch eine religiöse oder eine politische Ideologie motiviert ist. In einer Studie des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung gaben 81 Prozent der befragten Juden an, schon einmal von einer muslimischen Person oder Gruppe angegriffen worden zu sein, 61 Prozent hatten verbale Beleidigungen oder Belästigungen erlebt.
Beim Antisemitismus von muslimischen Menschen mit Migrationshintergrund überschneiden sich viele Faktoren: Religionszugehörigkeit, allgemeine und politische Sozialisation, schulische Bildung, die familiäre Migrationsgeschichte aus verschiedenen muslimisch geprägten Ländern, und im Falle der eigenen Migration auch die Erfahrung unterschiedlicher Bedingungen im Herkunftsland und in Deutschland. Die Religion sei jedenfalls nur ein Einflussfaktor unter vielen, betonte 2017 der 312 Seiten starke Antisemitismus-Bericht einer Expertenkommission der Bundesregierung.
Ein hohes Maß an antisemitischen Einstellungen stellten die Autoren des Antisemitismus-Berichts unter muslimischen Flüchtlingen aus etwa arabischen und nordafrikanischen Ländern fest.
Identifikation mit dem Nahostkonflikt bei vielen jungen Muslimen besonders präsent
Dass Antisemitismus unter Schülern Alltag ist, zeigen aktuelle Erfahrungsberichte von 27 Lehrern an 21 Berliner Schulen, die im Auftrag des American Jewish Committee Berlin dokumentiert wurden.
Jüdische Institutionen beobachten seit Jahren einen immer stärker werdenden, auf Israel bezogenen Antisemitismus, wie er in der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance
Diese undifferenzierte Anti-Israel-Haltung, verbunden mit antisemitischen Stereotypen, kann religiösen Fanatikern zuspielen. 'Wir fragen uns, wie geschickt die Gehirnwäsche ablaufen muss, damit die Schüler so schnell so antiwestlich, so antiamerikanisch sowieso, aber auch antisemitisch werden', gab ein Lehrer in der Berliner Umfrage zu Protokoll.
"Hier ist viel Emotionalität im Spiel"
Aycan Demirel, Direktor der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), war Mitglied der Expertenkommission des Bundestages. Er entwickelt mit seinem Verein seit fast 15 Jahren Konzepte für Modellprojekte zur Präventionsarbeit. Für seine Arbeit wurde der türkischstämmige Deutsche 2012 mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wenn Demirel mit jungen Muslimen zu tun hat, begegnet auch er meist Ressentiments gegen Juden im Zusammenhang mit Israel. "Hier ist viel Emotionalität im Spiel", sagt er. Den Judenhass eines Teils der Muslime pauschal damit zu begründen, dass sie Muslime sind, greife zu kurz. So sehen sich manche der frommen muslimischen Jugendlichen häufig sogar eher in einer Schicksalsgemeinschaft mit religiösen Juden in Deutschland, etwa wenn es um Rituale wie Schächten oder Beschneidung gehe. Auch habe er offenes Interesse und Empathie erlebt, sobald Einzelschicksale von jüdischen Verfolgten im Nationalsozialismus besprochen wurden.
"Das sind nicht alle Antisemiten", sagt Demirel. Auch während des Gazakrieges vor drei Jahren habe KIgA alle Workshops mit Schülern ohne aggressive Zwischenfälle abhalten können. Es gebe immer wieder konkrete Anfragen von Schulen, mehr vor Ort zu arbeiten, was er gern übernehmen würde. Doch dafür fehlen die Fördergelder. "Es kann nur eine Antwort geben: Wir kümmern uns um euch", sagt Demirel. Nur dann seien die jungen Muslime weniger instrumentalisierbar durch radikale Imame, Salafisten oder Politiker wie Erdogan, die ihnen das Gefühl geben, sie seien wertgeschätzt. Man müsse ihnen Raum bieten, Druck nehmen, Chancen geben und sie anerkennen.
Eine einfache Aufgabe ist das nicht, findet Demirel. Jeder der vielen muslimischen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sei durch eine andere Sozialisation geprägt, und in den meisten Fällen spiele diese eine größere Rolle als die Religion, ist auch seine Erfahrung. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Umfragen der Anti-Defamation League unter der Bevölkerung im mit Israel verfeindeten Libanon, wo neben Muslimen auch Christen auffällig stark zum Antisemitismus neigen (82 Prozent vers 75 Prozent).
No-Go-Areas und andere Problemviertel
Bacanji erzählt, sie habe den Vorfall im Zug nach Köln bereits vergessen gehabt, als sie ein paar Wochen später in Berlin-Neukölln ein T-Shirt mit der Aufschrift "I stand with Israel" trug und von einer Gruppe Männer verfolgt worden sei. Es sei arabisch, türkisch und deutsch gesprochen worden. Auch der Satz "Juden ins Gas" sei gefallen. Seitdem überlege sie sich gut, durch welches Viertel sie gehe, wenn sie gewisse Kleidung trage. "Diese so genannten Berliner No-Go-Areas sind nur ein Teil der Realität", findet Demirel. Er könne nicht ausschließen, dass jüdische Menschen in Kreuzberg oder Neukölln angegriffen oder angepöbelt werden, auch hier gebe es Antisemiten. Doch die Lage sei komplexer, sagt er, denn gerade Neukölln sei sehr multikulturell, gerade hier lebten auch viele Israelis, es zeige nicht das ganze Bild, wenn dieser Stadtbezirk immer wieder als No-Go-Area herhalten müsse. Sein Problemviertel ist ein anderes. "Ich gehe nur ungern in den Osten der Stadt, aus Sicherheitsgründen", so Demirel. Man müsse dort Angst haben, weil in vielen Gegenden mittlerweile eine rechtsextreme Jugendkultur das Sagen habe, die für jeden gefährlich sei – übrigens auch für Juden.
Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen unter muslimisch sozialisierten Jugendlichen sei jedoch höher als unter nichtmuslimischen, heißt es im Bericht der Expertenkommission, während sich ältere Muslime und Nichtmuslime kaum unterschieden. Die Deutsch-Israelische Schulbuchkommission fordert daher, Unterrichtsmaterialien so zu überarbeiten, dass sie Schülern in Deutschland und Israel ein differenziertes und vertieftes Bild der Geschichte und Gesellschaft des jeweils anderen Landes vermitteln.