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Nationalismus und Autoritarismus auf Türkisch

Emre Arslan

/ 14 Minuten zu lesen

Die türkische Politik ist seit Jahrzehnten von nationalistischen und autoritären Konzepten geprägt – für die repressive Erdoğan-Regierung gilt dies mehr denn je. Dies hat Folgen auch für die Einstellungen eines erheblichen Teils der türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Durch eine andere Integrationspolitik, meint der Soziologe Emre Arslan, könnten demokratische Einstellungen in der deutsch-türkischen Community gestärkt werden.

Auf einer Demonstration gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK am 10. Januar 2007 in Frankfurt am Main küsst ein Teilnehmer das aus drei Halbmonden bestehendes Symbol der rechtsextremen türkischen Bewegung "Graue Wölfe". (© picture-alliance/dpa)

Zwar fehlen gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über nationalistische, autoritäre und andere rechte Einstellungen unter Menschen mit türkischem Migrationshintergrund – doch eine Reihe von Indizien deuten darauf hin, dass sie in nicht geringem Umfang verbreitet sind: Beispielsweise kam eine Untersuchung von Heitmeyer et al. aus dem Jahr 1997 zu dem Ergebnis, dass sich mehr als ein Fünftel der türkei-stämmigen Jugendlichen mit den rechtsextremen Interner Link: Grauen Wölfen identifizierten. Argun (2003) bezeichnete in seiner Studie über Deutsch-Türken die "Ultranationalisten" als eine der vier "Haupt-Communitys" dieser Bevölkerungsgruppe. Mansel/Spaiser (2013) wiesen darauf hin, dass unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund (nicht nur den türkei-stämmigen) in Deutschland die Abwertung anderer Ethnien "hohe Werte erreicht".

Auch bei einer begrenzten, aktuellen Erhebung unter deutsch-türkischen Jugendlichen im nordrhein-westfälischen Siegen zeigte sich eine hohe Zustimmung unter anderem in den Bereichen Nationalismus und Autoritarismus. Und nicht zuletzt ergeben türkische Wahlen und Abstimmungen, an denen auch in Deutschland lebende Türken teilnehmen dürfen, regelmäßig eine erhebliche Zustimmung für rechtsextreme Parteien oder autoritäre Politik, etwa beim Verfassungsreferendum 2017.

Jedenfalls kann die Existenz von Nationalismus, autoritären Politikvorstellungen und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unter türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland nicht bestritten werden. Spätestens seit der scharf geführten Kampagne von Präsident Tayyip Erdoğan und seinen Anhängern für Änderungen der türkischen Verfassung im April 2017, die auch in Deutschland zu teils gewalttätigen Konfrontationen führte, wird das Problem in der deutschen Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen.

Die türkische Gesellschaft erlebt unter Erdoğan eine drastische Verstärkung nationalistischer und autoritärer Tendenzen: Oppositionelle Parteien und Bewegungen, Justiz, Akademiker und Medien Interner Link: sehen sich großer Repression ausgesetzt, mehrere oppositionelle Abgeordnete und Parteivorsitzende sind inhaftiert. Sowohl in der Türkei als auch in Syrien und dem Irak führt die Regierung aktuell Interner Link: Militäreinsätze gegen Kurden und Araber. Mit einer neo-osmanischen Ideologie und einem aggressiven antieuropäischen Diskurs versucht Erdoğan, seine Anhänger zu mobilisieren. Eine Politik, die auf Nationalismus und Autoritarismus setzt und die Andersdenkende nicht nur abwertet, sondern explizit zu Feinden oder gar Terroristen erklärt, hat auch Einfluss auf das Denken und Handeln vieler türkei-stämmiger Menschen in Deutschland.

Nationalismus und Autoritarismus in der türkischen Staatspolitik seit Atatürk

Nationalismus und Autoritarismus haben in der modernen Türkei eine lange Tradition. Beide sind seit der Gründungzeit der Republik in den 1920er Jahren wichtige Säulen der Staatspolitik. Nationalismus ("milliyetçilik") war eines von sechs Grundprinzipien, die damals vom autoritären kemalistischen Regime propagiert wurden – nicht zuletzt deshalb ist der Begriff in der türkischen Öffentlichkeit bis heute eher positiv besetzt. Der Interner Link: Kemalismus orientierte sich stark an einer Modernisierung im Sinne einer Europäisierung und Aufklärung. Der Kemalismus hob den Laizismus und die Einheit der türkischen Nation hervor, sein Autoritarismus und Nationalismus richteten sich daher in erster Linie gegen die islamische, osmanische, multinationale Vergangenheit. Das Osmanische Reich hatte auf einer multinationalen islamischen Rechtsordnung namens "Millet-System" basiert, in dem zwar verschiedene religiöse und ethnische Gemeinschaften ("Millets") wie Griechen, Armenier oder Juden gewisse Autonomie und eigenständige Rechte besaßen, dafür jedoch die Position der osmanischen Herrscher als Vertreter des Sunna-Islam akzeptieren mussten. Da die osmanische Wirtschaft stark auf den Steuereinnahmen der Millets aufbaute, waren die Osmanen auf eine militärische Präsenz in den beherrschten Gebieten und eine imperiale Kriegspolitik angewiesen. Der Völkermord an der christlichen Minderheit der Armenier forderte kurz vor Ende des Osmanischen Reiches hunderttausende Menschenleben.

Im Unterschied zur imperialen Kriegspolitik der Osmanen pflegte ab den 1920er Jahren die republikanische Türkei zunächst eine zurückhaltende Außenpolitik. Ermüdet durch die langjährigen Kriege zwischen 1912 und 1923 (erst der Balkan-Krieg, dann der Erste Weltkrieg, schließlich der Befreiungskrieg in Anatolien) fokussierte sich das kemalistische Regime unter der CHP auf den Aufbau einer eigenen Wirtschaft und einer laizistischen Gesellschaft nach westeuropäischem Vorbild. Um radikale gesellschaftliche Reformen wie die Abschaffung des Kalifat-Systems, die Errichtung einer Republik statt einer Monarchie, den Aufbau eines laizistischen Bildungs- und Rechtssystems und das Wahlrecht für Frauen durchzusetzen, verfolgte Kemal Atatürk einen autoritären Politikstil basierend auf einem Einparteiensystem. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich in der Türkei ein Mehrparteiensystem, das von politischer Instabilität und mehrfachen Militärputschen gekennzeichnet war und in dem wechselnd republikanische und konservative Parteien die Regierungen bildeten. Diese Parteien und das kemalistisch geprägte Militär als wichtiger Akteur der Innenpolitik benutzten nationalistische Ideologien auch gegen sozialistische Bewegungen und Minderheiten. Ende der 1960er Jahre entstand die faschistische Interner Link: Graue-Wölfe-Bewegung, die die bestehende Ordnung als Straßenkraft gegen sozialistische und kommunistische Gruppen unterstützte.

Das nach einem dritten Militärputsch von 1980 bis 1983 herrschende Militärregime verstärkte die Repressionen gegen Sozialisten weiter – und versuchte zugleich mit der Pflege einer Interner Link: Ideologie der türkisch-islamischen Synthese den Einfluss konservativer und rechter Strömungen im Bildungssystem und in anderen staatlichen Institutionen langfristig zu zementieren. Als Folge dieser Strategie und später des Zusammenbruchs der Sowjetunion waren und sind linke Bewegungen in der türkischen Politik weitgehend marginalisiert. In den 1990er Jahren waren so nicht mehr Sozialisten, sondern erstarkende islamistische und kurdische Bewegungen die Haupt-Feindbilder des türkischen Autoritarismus.

Autoritarismus und neo-osmanischer Nationalismus unter Tayyip Erdoğan

Seit 2001 wird die Türkei von der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) regiert, von 2003 bis 2014 mit dem Parteivorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan als Ministerpräsident. Sie ist aus verschiedenen islamistischen Vorgänger-Parteien hervorgegangen und profilierte sich zunächst als Bewegung konservativer, aber gemäßigter und demokratischer Muslime. Auch viele liberale Intellektuelle in der Türkei und Europa sahen die AKP lange Zeit hoffnungsvoll als Widerstandskraft gegen den autoritären und nationalistischen türkischen Staat. Doch je länger Erdoğan regierte, desto deutlicher wurden sein eigener Autoritarismus und Nationalismus. Seit dem (für ihn) enttäuschenden Abschneiden bei der Parlamentswahl im Juni 2015 und endgültig seit dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 nimmt das politische System des Landes unter Erdoğan, der es seit 2014 als Präsident führt, zunehmend autoritäre Züge an.

Während der kemalistische Nationalismus und Autoritarismus eine Modernisierung und West-Orientierung durchzusetzen versuchte, wird unter Erdoğan die osmanische Vergangenheit der Türkei idealisiert und eine imperiale und islamistische Außenpolitik verfolgt. Und anders als von Kemalisten erwartet, agiert die Interner Link: rechtsextreme MHP nicht als säkulare, nationalistische Alternative gegen den Islamismus, sondern unterstützt Erdoğans neo-osmanischen Kurs.

Vor direkter Kritik an Atatürk und dessen Prinzipien wie Laizismus und Republikanismus sowie einer offenen Abkehr vom Kemalismus schreckt Erdoğan wegen Atatürks anhaltend hohen Ansehens in der türkischen Gesellschaft zurück – aber in vielen Schritten vollzieht er eine Abwendung von den Idealen der kemalistischen Politik: So wird die osmanischen Vergangenheit stärker betont und unkritisch betrachtet, etwa im Bildungssystem. Militärische Erfolge des Osmanischen Reiches werden staatlich gefeiert, etwa die Eroberung Istanbuls/Konstantinopels. Straßen, Plätze und Brücken werden nach osmanischen Sultanen benannt, pompöse Bauten sollen an die osmanische Zeit erinnern. Religiosität wird im öffentlichen Raum wieder sichtbarer, so wurde 2010 das Kopftuch-Verbot an türkischen Universitäten aufgehoben, es folgte 2013 die Aufhebung für einen Großteil der Staatsbediensteten, 2014 die Aufhebung an Schulen ab Klasse 5, seit 2016 dürfen Polizistinnen und seit 2017 auch Frauen in der Armee Kopftuch tragen

Der Unterschied zwischen kemalistischem und neo-osmanischen Autoritarismus wird beim Blick auf die Haltung zur Rechtsstaatlichkeit deutlich. Die Kemalisten waren mit dem Erbe der Osmanischen Monarchie konfrontiert und wandten autoritäre Methoden an: Sie setzten von oben nach unten Reformen durch, um eine laizistische Gesellschaft nach weitgehend westeuropäischem Vorbild aufzubauen – mit Ausnahme des starken Militärs, das auch politisch eingreifen konnte. Zum Beispiel gab die kemalistische Partei CHP 1950 nach einer Wahlniederlage die Macht an die rechtsliberale DP (Demokratische Partei) ab. Die Entwicklung unter der aktuellen AKP-Regierung verläuft genau entgegengesetzt. Bevor Erdoğan 2001 an die Macht kam, verfügte die Türkei – trotz aller demokratischen Mängel – über eine pluralistischere Medienlandschaft und eine deutlich autonomere Justiz als heute.

Ultranationalistische und islamistische Organisationen von und für Deutsch-Türken

Seit Beginn der türkischen Einwanderung nach Deutschland versuchen zahlreiche nationalistische, rechtsextreme und islamistische Gruppierungen, ihre Ideologie unter Migrantinnen und Migranten zu verbreiten. Seit den 1970er Jahren gründeten sie hierzulande zahlreiche Moscheen oder Kulturvereine, die für die Einwanderer ein soziales Gefüge in ihrer Muttersprache boten, das sie in Deutschland schmerzlich vermissten. Dies gilt etwa für den islamistischen Prediger Cemalettin Kaplan (den Gründer der Organisation Kalifatstaat/ICCB), aber auch für rechtsextreme Gruppen wie die Interner Link: Grauen Wölfe (mit dem Dachverband ADÜTDF). Über die lokalen Vereine und ihre Dachverbände wurden – von deutschen Behörden oft unbehindert – über die Jahre an sicherlich Hunderttausende von Mitgliedern ultrakonservative, rassistische, autoritäre und nationalistische Ideologien verbreitet.

Erst in den 1980er Jahren unternahm der türkische Staat durch die Gründung der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) einen Versuch, die Einflussräume solcher Gruppen in Deutschland zurückzudrängen oder zumindest zu kontrollieren. Dennoch erfuhren verschiedene nationalistische und/oder islamistische Gruppen hierzulande teilweise sogar deutlich mehr Zulauf als in der Türkei. Das gilt beispielweise für den 1984 gegründeten ICCB/Kalifatstaat – diese noch radikalere Abspaltung der islamistischen Milli Görüş ("Nationale Sicht") erlangte im Heimatland nie eine so große Bedeutung wie unter türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland.

Nach ihrer Machtübernahme in der Türkei gründete die Erdoğan-Partei AKP im Jahr 2004 eine eigene Lobbyorganisation in Deutschland: die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Diese Organisation ist eine überaus loyale Botschafterin der Ideologie und Politik der AKP und versucht, auf oft polemische und zugespitzte Weise die nationalistischen und autoritären Ziele Erdoğans unter Deutsch-Türken zu verbreiten und in der deutschen Öffentlichkeit zu legitimieren. Kritiker und Gegner Erdogans werden angegriffen, teils direkt bedroht. Besonders wirksam ist die UETD, weil sie sich dabei offensichtlich auch mit den verschiedenen staatlichen türkischen Institutionen in Deutschland koordinieren kann, etwa den Konsulaten und dem Moschee-Dachverband DITIB. Deren Einrichtungen werden seit dem Regierungsantritt der AKP und insbesondere seit dem Jahr 2013 intensiver eingebunden. Obwohl die DITIB sich nach außen als politikfrei darstellt, finden in ihren Räumlichkeiten beispielsweise politische Veranstaltungen der UETD statt, etwa mit dem AKP-Abgeordneten Metin Külünk. Imame ließen sich für das Ausspionieren von Erdoğan-Gegnern instrumentalisieren.

Auch wenn DITIB-Moscheen heute in Deutschland dominieren, verfügen weiterhin fast alle rechtsextremen Gruppen der Türkei über eigene Moscheen in Deutschland – und diese konnten teils enorme finanzielle und personale Ressourcen zurück in die Türkei exportierten. Es stützen also türkische Migrantinnen und Migranten in Westeuropa, die in der Regel in gut funktionierenden Rechtsstaaten und Demokratien leben, autoritäre und antidemokratische Ideologien und Organisationen in ihrem Herkunftsland. Diese wiederum beeinflussen auf negative Weise das demokratische Leben und die Integration von Migranten und Migrantinnen in Europa.

Die besondere Lage der türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland

Auf den stärkeren Nationalismus und Autoritarismus in der türkischen Politik reagieren die türkei-stämmigen Menschen in Deutschland nicht einheitlich: Ein deutlicher Teil kritisiert die AKP-Regierung und sieht den Abbau demokratischer und rechtstaatlicher Standards mit großer Sorge. Zugleich aber wird Erdoğan auch von vielen Deutsch-Türken unterstützt, ja teilweise geradezu verehrt. Für erhebliche Irritation in der deutschen Öffentlichkeit sorgte zum Beispiel das Ergebnis des Verfassungsreferendums im April 2017: Mit 63 Prozent der abgegebenen Stimmen zeigte sich unter den hier lebenden türkischen Staatsbürgern erheblich größere Zustimmung als in der Türkei selbst (51 Prozent).

Bei diesem Ergebnis wie allgemein der Verbreitung autoritärer und nationalistischer Einstellung unter Deutsch-Türken sind jedoch mehrere Faktoren zu berücksichtigen, zum Beispiel deren spezifische Herkunft. Die Arbeitsmigranten, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen, stammten überwiegend aus Ost-Anatolien und aus häufig konservativen Wählermilieus. Im Unterschied dazu stellten linke oder kurdische politische Flüchtlinge einen Großteil der türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten in England oder Schweden. Dies könnte auch ein Grund sein für die deutlichen Unterschiede im Abstimmungsverhalten in den verschiedenen Ländern: Der Zustimmung zu den Verfassungsänderungen in Deutschland steht eine Ablehnung in Großbritannien und in Schweden gegenüber (80 Prozent bzw. 53 Prozent Nein-Stimmen).

Als zweiter wichtiger Einflussfaktor für nationalistische und autoritäre Einstellungen wird in der Forschungsliteratur die Migrationserfahrung genannt: Auf Schwierigkeiten im Zielland reagieren Migrantinnen und Migranten häufig mit einer umso stärkere Identifikation mit dem (häufig idealisierten) Herkunftsland. In den 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahre bildeten Türkei-Stämmige ohne Familien und mit beschränkter aufenthalts- und arbeitsrechtlicher Perspektive den größten Teil der Ankommenden. Sie interessierten sich für arbeitsrechtliche, politische Kämpfe und waren dementsprechend oft auch gewerkschaftlich aktiv. Mit dem Anwerbestopp und der Familienzusammenführung ab den 1970er Jahren verschob sich der Fokus auf soziale und kulturelle Bedürfnisse, etwa die Bildungssituation der Kinder, kulturelle Aktivitäten, traditionelle Hochzeiten oder Beerdigungen. In dieser Phase orientierten sich Migrantinnen und Migranten in Richtung jener Strukturen, die das größte soziale Netzwerk anboten – und dies waren in Deutschland, wie erwähnt, sehr häufig ultrakonservative, rechtsextreme und islamistische Gruppierungen.

Ein dritter relevanter Faktor ist die Haltung der staatlichen Institutionen. Die beschriebenen Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten wurden lange Zeit weder von deutscher noch von türkischer Seite beachtet, es gab nur wenige soziale und kulturelle Angebote. Der türkische Staat interessierte sich mehr für die Geldüberweisungen der Deutsch-Türken in die alte Heimat als für ihre aktuellen Probleme in der Fremde. Der deutsche Staat wiederum hielt bis Ende der 1990er Jahre die Fiktion aufrecht, die Einwanderer würden schon wieder zurückgehen, weshalb man sich wenig um ihre politischen Einstellungen kümmerte. Inzwischen bekennt sich Deutschland zwar dazu, Einwanderungsland zu sein – aber es herrscht weiterhin vielerorts ein Integrationsverständnis vor, das in der Praxis die demokratischen Einstellungen unter Migrantinnen und Migranten zu wenig fördert.

Möglichkeitsräume für Demokratie auf Türkisch in Deutschland

Aus dem Geschilderten folgt, dass Staat und Gesellschaft in Deutschland dazu beitragen können, nationalistische, autoritäre und anderweitig menschenfeindliche und antidemokratische Ideologien unter türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten zurückzudrängen. Zuallererst sollten sie diese Einstellungen stärker als bisher in den Blick nehmen und sensibler für das Problem werden. Außerdem sollten demokratische türkische Kräfte in Deutschland unterstützt und gesellschaftliche und öffentliche Räume für sie geschaffen werden.

Bisher dominiert in der deutschen Öffentlichkeit vor allem eine einzige Reaktion, wenn nationalistische oder undemokratische Einstellungen unter Migrantinnen und Migranten zum Thema werden: Es wird von ihnen verlangt, dass sie sich stärker an die deutsche Kultur und Politik anpassen sollen – dies (und nur dies) gilt als gelungene Integration. Auf den Mangel an demokratischer, türkischer Identität wird also durch die Forderung reagiert, die türkische Identität komplett abzulegen.

Selbst demokratisch gesinnte Deutsch-Türken gelten häufig als schlecht integriert oder gar "nicht integrierbar", wenn sie eine türkische Identität behalten und leben wollen. Stattdessen bräuchte es ein Integrationsverständnis, das auf Teilhabe setzt, die kulturellen und sprachlichen Werte der Migrantinnen und Migranten (wenn sie mit den in Europa gültigen Werten konform gehen) stärker wertschätzt – und zugleich offensiv gegen nationalistische und autoritäre Einstellungen auftritt, etwa mit deutlich mehr sozialen und politischen Projekten gegen Interner Link: rassistische und abwertende Einstellungen speziell unter Einwanderern. Ein Nebeneffekt wäre, dass künftig weniger Rechtsextremismus und mehr Demokratie durch die türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten en aus Deutschland zurück in die Türkei exportiert würden.

Literatur:

Argun, Betigül Ercan (2003) Turkey in Germany: The Transnational Sphere of Deutschkei. New York/London. Routledge

Arslan, Emre (2009): Mythos der Nation im transnationalen Raum. Graue Wölfe in Deutschland. Wiesbaden. VS Verlag

Bozay, Kemal (2005): „…ich bin stolz, Türke zu sein!“: Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung. Schwalbach. Wochenschau Verlag

Bulut, Faik (1999), “Örgütün ekonomik kaynakları”, içinde Batı ve İrtica, , İstanbul: Kaynak Yayınları. S. 361-385

Datlı, Yaşar/Gellermann, Jan F.C. (2012) Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln. Ergebnisdokumentation zu einem Jugendprojekt der Alevitischen Gemeinde und Kulturzentrum Siegen e.V.

Doğan, Ali Ekber (2006) Siyasal Yansımalarıyla İslamcı Sermayenin

Gelişme Dinamikleri ve 28 Şubat Süreci mülkiye Cilt: XXX Sayý:252 S. 47-68.

Gold, Steven J. (2013) Routledge international handbook of migration studies London [u.a.]: Routledge.

Heitmeyer, Wilhelm; Müller, Joachim und Schröder, Helmut (1997): Verlockender Fundamentalismus. Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag

Lemken, Thomas (2002): Islamische Vereine und Verbände in Deutschland. Berlin. Friederich-Ebert-Stiftung

Mansel, Jürgen/Spaiser, Viktoria (2013): Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche Fremdgruppen abwerten. Weinheim/Basel. Beltz Juventa Verlag

Nohl Arnd-Michael (2001) Migration und Differenzerfahrung : junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich Opladen: Leske + Budrich.

Pusch, Barbara (2013) Transnationale Migration am Beispiel Deutschland und Türkei Wiesbaden: Springer VS.

Richter, Michael (2003) Gekommen und geblieben: deutsch-türkische Lebensgeschichten 2. Aufl. - Hamburg: Ed. Körber-Stiftung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zumindest sind dem Autor keine aktuellen, repräsentativen, quantitativen Erhebungen unter den in Deutschland lebenden Menschen mit türkischem Migrationshintergrund bekannt. Sollte es solche geben, ist er für Hinweise dankbar. Qualitative Studien legen eine erhebliche Sympathie mit rechten oder gar extrem rechten Organisationen und Haltungen nahe, siehe z.B. Arslan (2009) oder Bozay (2005)

  2. Heitmeyer et al. 1997, S. 137

  3. In Bezug auf deutsch-stämmige Jugendliche jedoch sei diese Abwertung “eher gering”; vgl. Mansel/Spaiser (2013), S. 52-56

  4. Die Erhebung war Teil eines Projekts der Alevitischen Gemeinde und Kulturzentrum Siegen e.V., das vom Bundesprogramm "Toleranz fördern – Kompetenz stärken" gefördert wurde und in dessen Rahmen sich Jugendliche mit Migrationshintergrund gezielt mit extrem rechten Einstellungen und demokratischen Werten beschäftigten.

  5. Die von Präsident Tayyip Erdoğan propagierten Änderungen der türkischen Verfassung zum Beispiel, die weithin als Verlust an Rechtstaatlichkeit und Demokratie gewertet wurden, fanden beim Referendum im April 2017 eine Mehrheit von 63 Prozent der in Deutschland abgegebenen Stimmen – zur Einordnung dieses Ergebnisses siehe den weiteren Textverlauf. Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 kam die Erdoğans AKP hierzulande auf rund 60 Prozent, die rechtsextreme MHP auf 7,5 Prozent – siehe hierzu z.B.: http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerken-in-deutschland-waehlten-Erdoğan-partei-akp-a-1060661.html

  6. Die Organisation Reporter ohne Grenzen beispielsweise schreibt in ihrem Länderbericht: "Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden weit über 100 Journalisten verhaftet, rund 150 Medien geschlossen und mehr als 700 Presseausweise annulliert." https://www.reporter-ohne-grenzen.de/t%C3%BCrkei/

  7. Dies gelang jedoch nur begrenzt. Neben dem "staatlich verwalteten Islam" (Ditib) blieben laut Lemken (2002) der politisierte Islam (Milli Görüş und Kalifatstaat), der mythische Islam (Gülen- und Süleymanci-Sekten) sowie der nationalistische Islam (Graue Wölfe) als Hauptkategorien islamischer Vereine und Verbände in Deutschland. Der Kalifatstaat (ICCB) immerhin verlor nach dem Verbot im Dezember 2001 und der Abschiebung seines Anführers Metin Kaplan (dem Sohn des Gründers und selbsternannten "Kalifen von Köln") seine Bedeutung in Deutschland.

  8. vgl. z.B. http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.die-uetd-im-suedwesten-das-netz.89dd4ced-bd1d-4d1a-adf2-b99323665e52.html

  9. vgl. z.B. https://correctiv.org/blog/ruhr/artikel/2017/01/05/die-uetd-erdogans-integrationsblocker/; http://www.ksta.de/nrw/-man-sollte-euch-alle-verbrennen--wie-erdogan-kritiker-in-nrw-bedroht-werden-24688896?view=fragmentPreview

  10. vgl. z.B. http://www.tagesspiegel.de/themen/agenda/einfluss-der-tuerkei-erdogans-lobby-in-deutschland/13695612.html

  11. vgl. z.B. https://www.welt.de/politik/deutschland/article154689954/So-naehren-Erdogans-Prediger-Islamismus-in-Deutschland.html

  12. vgl. z.B. http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/spitzel-vorwuerfe-gegen-ditib-beweise-bei-tuerkischen-imamen-gefunden/19393822.html

  13. Bei der Erklärung des Aufstiegs islamistischer und nationalistischer Kräfte in der Türkei wird häufig genau diese durch die Migranten in Westeuropa importierten Ressourcen als einer der wesentlichen Gründe genannt – vgl. hierzu z.B. Bulut 1999; Dogan, 2006.

  14. Allerdings relativiert sich diese Zahl bei genauer Betrachtung: Erstens nahm die Mehrheit der in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken an der Wahl nicht teil, während in der Türkei die Wahlbeteiligung bei 85 Prozent lag, erreichte sie hierzulande lediglich 46 Prozent. Zweitens kann lag das Ergebnis niedriger als der Stimmenanteil für die AKP und rechtsextreme Parteien, die bei der Parlamentswahl 2015 noch auf 68 Prozent der in Deutschland abgegebenen Stimmen gekommen waren.

  15. Die Zustimmung fiel übrigens in Österreich und Belgien mit 73 und 75 Prozent noch höher aus.

  16. vgl. hierzu z.B. Nohl 2001; Richter 2003; Gold 2013; Pusch 2013

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Emre Arslan lehrt Soziologie an der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration, Rechtsextremismus, Bildung und soziale Ungleichheit. Er ist der Autor des Buches "Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum: Türkische Graue Wölfe in Deutschland" (2009) und einer der Herausgeber des Buches "Symbolische Ordnung und Bildungsungleichheit in der Einwanderungsgesellschaft" (2016).