Ihre Organisation hat den etwas sperrigen Namen: Fachstelle Extremismusdistanzierung. Erklären Sie uns, was "Extremismusdistanzierung" in Ihrer Arbeit bedeutet.
Mathieu Coquelin: Für uns ist die zentrale Frage: Wie kann man dem begegnen, dass manche Jugendliche sich für radikale Ideologien öffnen? Das heißt für uns, dass wir nach den Faktoren suchen, die dazu führen, dass Jugendliche ihr Heilsversprechen bei Extremisten suchen. Wir entwickeln dann Angebote für Fachkräfte der pädagogischen Jugendarbeit, die Jugendliche etwa für folgende Fragen sensibilisieren: Gibt es diese homogene Gruppe, über die ich mich identifiziere, überhaupt? Und gibt es diese homogenen Gruppen, gegen die ich mich wende? Können Individuen in ihrer Vielfältigkeit vielleicht gar nicht in allen Belangen einer Gruppe zugeordnet werden? Diese Fragen kann man aufgreifen, um die Ängste und Sorgen, die Jugendliche haben, in einem Gespräch anzugehen.
Mit Jugendlichen selbst arbeiten Sie nicht, sondern nur mit Fachkräften der Jugendsozialarbeit. Warum?
Wir glauben, dass es genug Angebote für Schüler und Schülerinnen gibt, beispielsweise von der Landeszentrale für politische Bildung. Wir wollen daher schauen, was wir in der Jugendsozialarbeit tun können. Wie muss eine Beratung laufen? Wie können sie die Unzufriedenheit angehen, die Jugendliche mitbringen, die extremistisch orientiert sind? Wir nutzen dafür Ansätze aus der Radikalisierungsforschung. Dabei wird bei den Jugendlichen an gefühlter oder an tatsächlich erlebter Benachteiligung angeknüpft, die beispielsweise von salafistischer Propaganda genutzt wird oder von der Identitären Bewegung. Letztere macht das, indem sie konstruierte Bedrohungsszenarien wie die Überislamisierung Deutschlands instrumentiert. Es geht also darum, ihre Teilhabe zu stärken und gleichzeitig das Gefühl der Abgeschiedenheit aufzufangen, ohne dass sich die Jugendlichen von der Gesellschaft abwenden.
Sie beschreiben, dass sich Menschen radikalisieren, weil sie Diskriminierung erleben. Ist das der einzige Faktor?
Nein, aber es ist einer der Faktoren, die sich mit sozialarbeiterischen Mitteln angehen lässt. Grob lässt sich sagen: Es gibt zwei Kategorien von Faktoren für Radikalisierung. Zum einen Pull-Faktoren wie beispielsweise romantisch verklärte Narrative etwa vom Kriegerleben und von Männlichkeitsbildern. Da geht die Attraktivität von der Szene aus, weil sie ein besseres Leben verspricht. Dann gibt es Push-Faktoren: Alles, was die Jugendlichen aus der Gesellschaft herausdrängt, weil ihnen nur mangelnde Teilhabe gewährt wird. Die Jugendlichen, die etwa Benachteiligung und Diskriminierung erleben, identifizieren sich dann über eine vermeintliche Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen.
Können Sie Beispiele geben?
Wir hatten vor einiger Zeit eine Anfrage einer Schulsozialarbeitsstelle bezüglich einer junge Dame, die auffällig wurde, weil sie auf ihrem Facebook-Profil NS-verherrlichende Sachen postete. Sowohl die Lehrerinnen und Lehrer als auch der Sozialarbeiter fühlten sich handlungsunfähig. Ich habe dann mit dem Sozialarbeiter eine Herangehensweise überlegt. Die Schülerin sollte über die strafrechtliche Relevanz mancher ihrer Posts informiert werden, aber gleichzeitig sollte ein Rahmen geschaffen werden, um herauszufinden, was sie daran bewegt und fasziniert. Der Kollege hat später rückgemeldet, dass sie Beratung gut funktioniert hat. Die Schülerin hatte sich zwar nicht gleich gänzlich von den Inhalten abgewendet, aber der Sozialarbeiter konnte zusammen mit ihr kritische Aspekte aufzeigen und viel quellenkritisch mit ihr arbeiten, also Medienkompetenz betreiben.
Ein anderes Beispiel wäre die Arbeit mit einer Mädchen-Gruppe. Einige der Mädchen dort haben erzählt, dass sie Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen von Geflüchteten hatten. Sie selbst haben gesagt, sie wollen nicht in diese Angsthaltung hineingeraten, immer wieder in eine solche Situation geraten zu können. Ihnen kann man mit Mitteln der pädagogischen Gruppenarbeit den Raum geben, zu reflektieren, was passiert ist. So lernen sie, diese Erfahrungen nicht allgemein als Grundlage für den Kontakt mit Geflüchteten zu sehen.
Was ist die größte Schwierigkeit für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Umgang mit extremistischen Jugendlichen?
Wir sehen immer wieder, dass sich viele Fachkräfte klare Kausalitäten wünschen. Beispielsweise: Man sieht, dass der Jugendliche diese Haarfrisur hat oder dieses T-Shirt trägt und deswegen tendiert er dort oder dorthin. Aber der Punkt bei Extremismusdistanzierung ist vielmehr: Wir kann ich auf individueller Ebene an die Ursache des Problems kommen, das zu der Radikalisierung führt? Das geben wir in unseren Workshops daher immer weiter: Es ist nicht so einfach: Ihr macht das und dann ist das Problem erledigt. Sondern Ihr müsst die Verwundbarkeit der Jugendlichen thematisieren und ihr müsst darauf achten, ihre Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit zu stärken.
Wie vermitteln Sie Ihre pädagogischen Ansätze, das heißt: Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Wir haben auf der einen Seite klassische Workshops und Vorträge, die aus einem Mix an Sensibilisierung für das Thema, Übungen und Raum für Austausch bestehen. Auf der anderen Seite haben wir Angebote in einem Modul-Format, das step-by-step eingesetzt werden kann, beispielsweise auch von Streetworkern, die keinen festen Rahmen haben, in dem sie Jugendliche antreffen. Diese Module beinhalten Methoden, um miteinander ins Gespräch zu kommen, beispielsweise über "gut und böse" oder über das tagesaktuelle Geschehen. Sie beinhalten aktivierende Fragen, die eine Reflexionsfläche anbieten und Ambiguität – also Mehrdeutigkeit – fördern. Welche Rolle spielt Hintergrundwissen über tagesaktuelles Geschehen, welches Rüstzeug fordern die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter?
Was wir häufig hören ist, dass sie sagen: Wir kriegen so viele Themenfelder mit, sei es der Konflikt mit der Türkei, Konflikte zwischen Muslimen und Rechten oder Antisemitismus. Wir haben das Gefühl, wir müssen überall Experten sein. Aber wir sagen dann: Das sind Stellvertreterkonflikte. Sie müssen sich nicht zwingend überall auskennen. Sie müssen kein Experte für NS-Ideologie sein oder den Koran auswendig können. Wir freuen uns dann immer, wenn die Leute in unserem Workshop sehen: Eigentlich können wir im Sinne des Empowerment schon vieles, was wir für unsere Arbeit brauchen.