Der Mord an zehn Menschen zwischen 2000 und 2007 wird der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund, NSU, zur Last gelegt. Zwei der Täter begingen Selbstmord, gegen ein drittes NSU-Mitglied begann 2013 in München der Prozess. Die bundesweite Initiative NSU-Watch dokumentiert seither alles, was vor Gericht gesprochen wird – und kritisiert, dass über manches nicht gesprochen wird. Ein Porträt in drei Fragen.
Was macht NSU-Watch?
NSU-Watch protokolliert den Strafprozess gegen Beate Zschäpe und weitere mutmaßliche Unterstützer des NSU. Die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gelten als schlimmste rechtsextreme Terrorserie seit 1945. Zehn Morde, mehrere Brandanschläge mit Verletzten und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle werden ihm angelastet. Die beiden Haupttäter, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begingen 2011 Selbstmord. Beate Zschäpe, die dritte Aktive des NSU, steht neben weiteren Unterstützern des rechtsextremen Trios seit 2013 in München vor Gericht. Sie ist unter anderem wegen Mittäterschaft an den zehn Morden sowie wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt.
Es ist einer der größten Strafprozesse der Bundesrepublik. Mehr als 380 Sitzungstage wurden bereits eröffnet, 540 Zeuginnen und Zeugen befragt. Ein einzelner Mitarbeiter von NSU-Watch sitzt bei jedem Verhandlungstag im Gerichtssaal, protokolliert das Geschehen und stellt seine Aufzeichnungen auf die Webseite von NSU-Watch. Jeder, der interessiert ist, kann damit den NSU-Prozess akribisch verfolgen, ohne dabei sein zu müssen. Die Protokolle werden auf Deutsch und Türkisch veröffentlicht, da die meisten Ermordeten eine türkische Migrationsgeschichte hatten. Wer dennoch selbst vor Gericht dabei sein will: NSU-Watch bietet Prozessbegleitung an. Wer bei einem Verhandlungstermin auf den Besucherbänken Platz nehmen möchte, nimmt NSU-Watch nach vorheriger Anmeldung mit ins Gericht und liefert Hintergrundinfos zum Prozessgeschehen noch dazu.
Macht NSU-Watch noch mehr?
Ja. Der Strafprozess in München ist nur ein Teil der Aufarbeitung der NSU-Mordserie. Zahlreiche Untersuchungsausschüsse auf politischer Ebene wurden ins Leben gerufen, um mögliche Fehler aufzudecken und die Rolle von Politik und Behörden im NSU-Komplex zu analysieren. Auch sieben Landtage befassten sich – und befassen sich zum Teil noch immer – mit den Ermittlungen von Polizei und Verfassungsschutz. Bei jeder öffentlichen Sitzung ist NSU-Watch dabei und schreibt mit. Seit 2012.
Damals wurde der erste NSU-Untersuchungsausschuss einberufen, also noch vor dem Strafprozess. Er fand im Bundestag statt und war gleichzeitig Startschuss des Projekts NSU-Watch. "Als der NSU aufflog, war vielen Leuten schnell klar, welche Dimensionen die Verbrechen haben und dass man den ganzen Komplex aufarbeiten muss", erzählt einer der Macher, Ulli Jentsch. "Deswegen haben wir angefangen, den Untersuchungsausschuss im Bundestag zu dokumentieren." Damals taten sich bundesweit Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, die größtenteils schon langjährige Erfahrung in der Beobachtung rechtsextremer Netzwerke hatten und für die Böhnhardt und Mundlos als untergetauchte Rechtsextremisten keine Unbekannte waren.
Doch die Initiative sagt, dass sie mehr als dokumentieren will. Sie will auch verändern. Mit öffentlichen Diskussionen, Info-Veranstaltungen und Workshops an Schulen geht sie an die Öffentlichkeit, klärt über den gesamten NSU-Komplex, über die rechtsextreme Szene in Deutschland und über institutionalisierten Rassismus auf. Das will sie auch dann noch tun, wenn – vermutlich im Frühjahr 2018 – der NSU-Strafprozess beendet sein wird. "Der NSU-Komplex ist kein abgeschlossenes Kapitel“, sagt Ulli Jentsch. "Die Strukturen, aus denen er kam, halten an ihrer Ideologie fest. Die terroristische Gewalt gehört zu ihrem Repertoire an politischem Handeln. Der gesamtgesellschaftliche Rassismus, der die Mordserie mit ermöglicht hat, ist nicht aus der Welt." An diesen Strukturen wolle NSU-Watch dranbleiben.
Wie beurteilt NSU-Watch die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen?
Mit dem Strafprozess gegen Zschäpe und weitere Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds geht NSU-Watch kritisch ins Gericht. "Schon als wir die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft im Jahr 2013 gehört haben, ahnten wir, dass der Prozess eine Enttäuschung wird", sagt Ulli Jentsch. "Und so kam es auch." Jentsch kritisiert, dass den Angehörigen der Opfer und den Betroffenen der Bombenanschläge zu wenig Raum im Münchner Verhandlungssaal gegeben wurde. "Sie wurden teilweise zum Verstummen gebracht." Dabei ist er der Meinung, dass auch die psychologischen Auswirkungen, der Umgang der Behörden und die gesellschaftliche Reaktion zu den Dimensionen eines Verbrechens gehören. Sie müssten im Gerichtssaal genauso zur Sprache kommen wie die faktischen Details.
Auch die Konzentration auf den NSU als abgeschottetes Tätertrio – wie es die Bundesanwaltschaft in ihrem Schlussplädoyer darstellte – halten Jentsch und NSU-Watch für eine Fehleinschätzung. Für ihn ist der NSU ein großes Netzwerk aus aktiven Rechtsextremisten, direkten Unterstützern und V-Männern.
NSU-Watch ist unter anderem Preisträger des Alternativen Medienpreises 2014 und des Sonderpreises Journalist des Jahres 2013 des Medium Magazins.