Viele Neonazis mögen Urgeschichte. Diese Liebe hat tiefe ideologische und psychologische Wurzeln, sie ermöglicht überdies fintenreiche Werbefeldzüge in die Mitte der Gesellschaft. Denn wer weiß schon, was am Germanenspaß rechts sein soll. Dabei ist das Thema für viele extreme Rechte in hohem Maß sinnstiftend. Ganze Lebenskonzepte können durch den Germanenbezug wesentlich und existenziell geprägt sein. Bundesweit bekannt wurde etwa der Fall der vierjährigen Sighild, die 2009 an ihrer Diabeteserkrankung starb, da ihre Eltern Insulininjektionen mit Verweis auf die Neue Germanische Medizin verweigerten. Auch manche Rechtsextreme lassen sich im Sippenverband zwischen Jahrtausende alten Grabhügeln bestatten
Die Beschäftigung mit der germanischen Vorzeit gilt in der Öffentlichkeit pauschal als unpolitisch. Für viele Menschen, etwa in der Metal-Szene, bleibt diese Beschäftigung auch unpolitisch. Doch der Germanenkult nützt auch extrem rechten Agitatoren, völkische Erzählungen versteckt einem breiten Publikum nahezubringen. Während sich auf zeithistorischen geschichtspolitischen Feldern schnell massive Widerstände bei extrem rechten Vereinnahmungsversuchen einstellen, öffnen sich beim Thema Vorgeschichte große, strategisch wertvolle Freiräume.
Weit gedehnter Germanenbegriff
Wertvoll ist auch die hohe Elastizität des Germanenbegriffs in der extremen Rechten: Er spannt sich dort chronologisch von der Jungsteinzeit bis ins Mittelalter. Wissenschaftlich relevant ist der Begriff dagegen nur in römischer Zeit. Auch die konventionell den Germanen zugesprochenen geografischen Räume sind weit dehnbar, so finden sich Beiträge in der rechtslastigen Publizistik zu Wikingern in Südamerika
Nationalismus
Für eine klassisch extrem rechte Definition von Volk und Nation ist der Rückgriff auf die Germanenerzählung als quasi naturgesetzliche Herleitung unverzichtbar. Ohne sie kommt insbesondere ein rassisch unterlegter Nationalbegriff nicht aus.Selbst bei den eher kleinen nationalkonservativen Gruppen, die sich auf die neue Reichsgründung von 1871 oder auf vergleichbare Daten aus der jüngeren Geschichte als Ursprungsdatum der deutschen Nation beziehen, sind assoziative Germanenbezüge als überzeitliche Wurzel der Identität die Regel
Autoritarismus
Charismatisch legitimierte Führerschaft ist ein Zentralmotiv extrem rechter Germanenerzählungen. Große Führer sind dabei in der Regel große Einer der unterschiedlichen germanischen Stämme. Dies setzt naturgegebenes Charisma voraus, das so von den Geführten auch akzeptiert wird. Der germanische Führer bewährt sich in der Regel im Kampf, andere Führungsqualitäten spielen eine weit untergeordnete Rolle. Mit seiner durchsetzungsstarken Derbheit ist er der Held im Revier. Wie autoritär es im eisenzeitlichen Nordwestdeutschland zuging, lässt sich in tatsächlich allerdings kaum festmachen.
Ethnopluralismus
Archäologie wurde immer wieder zur Abgrenzung von "Völkern" und zur Legitimation von Gebietsansprüchen benutzt
Überlegenheit
Germanische Überlegenheit gegenüber den Nachbarkulturen archäologisch nachzuweisen, ist nicht gerade leicht. Aus den großen Überlieferungslücken der Archäologie wurden große Projektionsräume der Ideologie. Beim Ausmalen solcher Projektionsräume entstand ein Milieu, das sich wissenschaftlich gab. Da der unmittelbar greifbare archäologische Nachweis germanischer Kulturhöhe nicht gelingen wollte, suchte man Botschaften, die ihre wahre Größe erst nach intensiver Beschau preiszugeben versprachen. Ein hervorragendes Feld für solche Operationen ist die Archäoastronomie
Sexualpolitik
Analysiert man die Kontaktangebote auf extrem rechten Datingplattformen, sind "blond", "naturverbunden" und "hochgewachsen" die Hauptkriterien der Partnerwahl. Das galt schon für die Heiratsgesuche in der extrem rechten Publizistik der 1960er-Jahre und für Anzeigen zu käuflichem Sex in dieser Szene. Komplementär dazu ist die Bildproduktion zum Thema Germanen bei der extremen Rechten in einem bemerkenswert hohen Maß sexuell aufgeladen. Hier wird eine erotische Fixierung auf ein rassisches Ideal eingepaukt. Nach allem, was wir von den zehntausenden Skeletten aus dieser Zeit wissen, waren die meisten dieser Menschen weder blond, fit noch groß gewachsen. Produziert wird hier eine Vorstellung von wahrer/gültiger Sexualität, die sämtliche andere Projektionen von Sexualität exkludiert.
Die sozialpsychologische, historische und soziologische Analyse der extrem rechten Germanenerzählung liegt noch in ihren Anfängen. Dies führt dazu, dass staatliche und nichtstaatliche Präventionsorgane dem Phänomen häufig hilflos gegenüberstehen. Man ist argumentativ gut aufgestellt, wenn es um die Fragen extrem rechter Gewalttaten, um die NS-Geschichte oder um Vernetzungen aktueller rechtsextremer Organisationen geht. Was kann man aber dagegen sagen, wenn die NPD zweideutig, aber scheinbar sachkundig den Verlauf der Varusschlacht erklärt oder wenn eine Living-History-Gruppe auf dem Mittelaltermarkt vermeintlich historische Hakenkreuze im Großformat präsentiert? Ein auflagenstarker Aufmacher zu germanischer Kulturhöhe kann – mit dem nötigen politischen Subtext versehen – mehr bewirken als ein kompletter NPD-Landtagswahlkampf.
Ausblick
Diese Anschlussfähigkeit an den medialen Mainstream zur Archäologie nimmt seit ungefähr einem Jahrzehnt zu. Noch bis in die 1990er-Jahre stand fast ausschließlich das reiche, aber etwas in die Jahre gekommene Repertoire der NS-Archäologie auf der extrem rechten Vorgeschichtsagenda. So konnte man aber mit den sich überschlagenden Erkenntnisfortschritten in der Archäologie nicht mithalten. Eine Distanzierung fiel allen Beteiligten leicht. Dies veränderte sich, als TV und Illustrierte das Potenzial archäologischer Themen ab den 1990ern stärker nutzten. Es gelangten im Zuge dessen auch versteckt und meist unbeabsichtigt extrem rechte Inhalte an eine breite Öffentlichkeit. Frühgeschichte wird heute selbst in Mainstream-Medien wesentliche Impulse wie Kampf, Volk oder vorzeitliche Größe transportiert. Es wundert deshalb kaum, wenn Living-History-Gruppen aus dem einschlägigen Milieu, wie dem Runenhof Echsheim, immer wieder der Eingang in massenhaft verbreitete Medienproduktionen zur Frühgeschichte gelingt .
Es fehlen Analysen, die auch feinere Kontinuitätslinien der Germanen-Erlebnisräume seit der NS-Zeit herausstellen, politische Kernerzählungen in den Geschichten freilegen und sie in einen Kontext zu anderen Geschichtsmanipulationen stellen. Nur so können für die Auseinandersetzungen mit der extremen Rechten Argumente geliefert werden, die von der breiten Öffentlichkeit auch verstanden werden.