"Die grundsätzlichen ‘Regeln des Krieges‘ haben sich geändert. Die Bedeutung der Rolle nicht-militärischer Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele hat zugenommen und in vielen Fällen haben sie die Wirkung der Durchschlagskraft der Waffen überschritten. [...] Der Schwerpunkt der angewandten Methoden in einem Konflikt hat sich verlagert in Richtung einer breiten Anwendung politischer, wirtschaftlicher, informeller, humanitärer und anderer nichtmilitärischer Maßnahmen – abgestimmt auf das Protestpotenzial in der Bevölkerung." So lautet eine Kernthese der russischen Militärdoktrin, wie sie der Generalstabschef der russischen Streitkräfte im Februar 2013 vorab formulierte. Präsident Putin übernahm sie im Wesentlichen in der am 25. Dezember 2014 unterzeichneten, endgültigen Fassung. Die nach ihrem Autor benannte Gerassimow-Doktrin macht deutlich, welche Bedeutung "politischen, ideologischen, nichtmilitärischen Maßnahmen" in der russischen Sicherheitspolitik zukommt.
Eine solche Facette einer "ideologischen Maßnahme" stellt auch das von Putin proklamierte Eurasien-Konzept dar, das gleichzeitig dazu dient, die autoritäre Herrschaft des Systems Putin zu legitimieren. Der Eurasismus versteht Russland als eigene eurasische Macht, die ganz anderen Werten als Europa oder Asien folgt.
Die Zukunft Russlands hänge davon ab, "Führer und Kraftzentrum ganz Eurasiens zu werden", so der russische Präsident in der Rede zu seiner neuen Amtseinführung am 7. Mai 2012. Der Machttechnokrat Putin greift bei Bedarf diese eurasische Idee auf als ein ideologisches Versatzstück für seine autokratische Herrschaft. Er erweckt damit ein latentes russisches, imperiales Selbstverständnis neu und legitimiert so auch russische Expansionsbemühungen, wie sie sich schon im russisch-georgischen Krieg im August 2008 manifestierten und später in der Annexion der Krim 2014. Auch der anhaltende Krieg in der Ostukraine und die Gründung einer Eurasischen Wirtschaftsunion 2015 sind in diesem Zusammenhang zu nennen.
Im Folgenden soll die ursprüngliche, wesentliche Idee der Eurasier kurz vorgestellt werden. Außerdem soll ihre Verfremdung skizziert werden durch die beiden heute für weite Teile der russischen akademischen und politischen Elite maßgeblichen "Neo-Eurasier" Lew Gumiljow und Alexander Dugin – und deren ideellen Anleihen und personalen Verbindungen zur deutschen alten und "Neuen Rechten".
I. Die Eurasier
Ausgangspunkt für die heutige Renaissance des Eurasismus (russ.: Jewrasijstwo) ist die Eurasierbewegung, die sich in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit zusammenfand. Im Jahr 1921 gaben vier junge russische Emigranten, der Geograph Pjotr Sawizkij, der Musikologe Pjotr Suwtschinskij, der Slavist Nikolai Trubezkojy und der Theologe Georgij Florowskij in Sofia den Sammelband "Ischod k Wostoku" (dt.: Exodus nach Osten) heraus, dessen Einleitung bereits den programmatischen Kern enthält: "Die russischen Menschen und die Menschen der Völker der 'Russländischen Welt' sind weder Europäer noch Asiaten. Da wir mit den verwandten und uns umgebenden Kultur und Lebenselementen verschmolzen sind, schämen wir uns nicht, uns als Eurasier zu bezeichnen." Dieser ursprünglichen Gruppe schloss sich in den 1920er Jahren eine Vielzahl bekannter, aber auch obskurer Intellektueller in den russischen Emigrantenzirkeln in europäischen Hauptstädten an: Dazu gehörte zum einen eine Gruppe geflohener monarchistischer Offiziere der Weißen Armee nach dem verlorenen Bürgerkrieg, wie der wohlhabende Bohemien Baron Meller-Zakomelski, der später der Führer russischer emigrierter Nazis wurde. Auch Pjotr Arapow, bald in Diensten des sowjetischen Geheimdienstes, und sein Dienstkollege Jurij Artamow schlossen sich der Bewegung an. Dabei war ebenso Pjotr Malewski-Malewitsch, ehemaliger Oberst der Wrangelarmee, der auf Grund seiner Beziehung zur Londoner "High Society" den wichtigen Kontakt zum britischen Mäzen und Philantropen Henry Norman Spalding herstellte, der fortan zahlreiche Konferenzen, Seminare und Publikationen eurasischer Zirkel finanzierte, wie die Zeitung "Eurasia" seit 1928 im Pariser Vorort Clamart oder die seit 1926 erscheinende Literaturzeitschrift "Wersti". Wissenschaftler der Geografie, Geschichte, Kultur und Literatur und anderer Fachrichtungen stießen dazu. Die Eurasierbewegung besaß von Beginn an den Anspruch, über den intellektuellen und wissenschaftlichen Austausch einzelner Emigrantengruppen hinaus zu einer politischen Bewegung zu werden. Darin scheiterte sie. Zu vielfältig und zu unterschiedlich waren die verschiedenen Facetten ihrer jeweiligen Eurasien Konzepte.
Vor allem ihre Vertreter aus der intellektuellen und kulturellen Elite des einstigen Zarenreichs sahen in den zunächst erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Nationen des Vielvölkerimperiums – Ukraine, Krim, baltische Staaten, Kaukasus u.a. – nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 und der damit verbundenen, drohenden territorialen Aufsplitterung des einstigen Zarenreichs eine Schmach. In Anknüpfung an nationalistische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, so wie sie beispielsweise Nikolai Danilewskij, Konstantin Leontjews oder gar Fjedor Dostojewskijs hegten, beabsichtigten sie den Prozess eines drohenden Zerfalls des russischen Reichs nach 1917 aufzuhalten bzw. umzukehren und es zu alter, großrussischer Einheit zurückzuführen.
Eine Kategorie, die alle noch so unterschiedlichen Vorstellungen und Ideen der Eurasier verbindet, ist die eines eigenen gemeinsamen eurasischen Raums, der unterschiedliche eurasische Ethnien verbinde. Dieser gemeinsame eurasische Raum wird je nach Blickwinkel geopolitisch, geokulturell oder geohistorisch erklärt: Die besondere geografische Nachbarschaft von flacher, weiter Steppe und Weideland habe mit ihren vielfältigen Reise-, Handels- und Kommunikationsmöglichkeiten zu einer historischen und zivilisatorischen gemeinsamen Prägung ihrer Bewohner unterschiedlicher Ethnien geführt. Diese gemeinsame geografische Struktur des einen eurasischen Raumes führe zu einer multinationalen "Gemeinsamkeit des historischen Schicksals", einer "symphonischen Personalität" und einer "Einheit in Verschiedenheit" der verschiedenen eurasischen Völker, so Nikolai Trubezkoj, die nach einer überwölbenden Form von Staatlichkeit suche. Dieser eurasische Raum sei ein eigener Raum, der sich vom europäischen Raum deutlich unterscheide. Der gemeinsame Kampf gegen die feindlichen Eindringlinge Europas – ob deutscher Ritterorden im Mittelalter oder Napoleon später – in die geographisch ungeschützte, weite Offenheit des eurasischen Raums wird zur gemeinsamen historischen Prägung. Auch der Überfall der mongolischen Horde zu Beginn des 13. Jahrhunderts mit seiner Zerstörung der Kiewer Rus und der 250-jährigen Beherrschung der russischen Fürstentümer im Mittelalter wird von den Eurasiern umgedeutet: Während die traditionelle historische russische Geschichtsschreibung darin ein historisches Trauma sieht, so sehen die Eurasier das "Erbe von Tschingis Khan" als Beginn einer Langzeitaufgabe mit dem geopolitischen Ziel, die zersplitterten russischen Fürstentümer unter einer politischen Herrschaft zusammenzuführen. Eine Vorstellung, die die spätere russländische Geschichte mit ihren konstanten Expansionen bis nach Zentralasien im 19. Jahrhundert begründet und auch weiterhin zur Expansion verpflichtet. Die territorialen Grenzen Eurasiens blieben fließend. Auf diese Weise wurde das Eurasienkonzept historisch begründet, enthielt aber gleichzeitig auch eine Bestimmung für die Zukunft, "alle Ethnien Eurasiens" zusammenzuführen.
Das Eurasienkonzept der Zwischenkriegsjahre kann damit auch als eine Form der Geopolitik gesehen werden, die schon 1904 der britische Geograph Halford John Mackinder mit seiner "Heartland"-Theorie entwickelt hatte. Während Europa, Asien und Afrika aufgrund neuer Transport- und Kommunikationstechnologien allmählich zur "Weltinsel" (engl. World-Island) würden, sei die Herrschaft über das "Heartland", unter dem er die zusammenhängende Landmasse von Europa und Asien ("Euro-Asia") verstand, entscheidend für die Weltherrschaft. Denn: "Who rules East Europe commands the Heartland; who rules the Heartland commands the World-Island; who rules the World-Island, commands the world". Im Übrigen ging Mackinder von einem Gegensatz zwischen Land- und Seemacht aus, wobei nach ihm im Gegensatz zum amerikanischen Marineoffizier Alfred T. Mahan die Landmacht der Seemacht überlegen sei und die Weltherrschaft erringen werde.
Der Eurasier Sawizkij war offensichtlich mit diesen Thesen Mackinders vertraut. Denn Sawizkij vertrat die Auffassung, dass die "geografische Welt" Russland-Eurasien eine abgeschlossene, autarke Wirtschaftseinheit aus unterschiedlichen Wirtschaftsregionen bilden müsse, um ihren Standortnachteil als Landmasse mit hohen Transportkosten in einem ozeanisch geprägten Weltmarkt auszugleichen. Eurasische Geopolitik in den 1920er Jahren setzte also zunächst wirtschaftlich an und dachte damit gewissermaßen die Eurasische Wirtschaftsunion von 2015 bereits vor.
II. Der Neo-Eurasismus
Die tiefe Verunsicherung der sowjetischen Gesellschaft in der Transformationskrise, die mit der Perestroika eingesetzt hat und durch den Zusammenbruch der Sowjetunion noch beschleunigt wurde, führte zu einer Wiederentdeckung des klassischen Eurasismus in den 1990er Jahren. Formal angestoßen durch den 100. Geburtstag von Trubezkoj 1990 setzte eine Welle von Reprints klassischer Texte der Eurasier ein, mit entsprechenden Erklärungen und Interpretationen ihrer neuen Aktualität. In dieser tiefen Krise schien vielen das Eurasien-Konzept, das einst als Antwort auf eine ebenso tiefe Krise – durch den Zusammenbruch des Zarenreichs und die Oktoberrevolution von 1917 – entwickelt worden war, als neues Sinnstiftungsangebot in die ideologische Lücke zu passen, die der Marxismus-Leninismus hinterlassen hatte.
Vor allem eröffnete es für die russische Intelligenzija der 1990er Jahre zwei verführerische intellektuelle Angebote. Es legitimierte den von vielen erwünschten Fortbestand eines einzigen Reichs auf dem Gebiet des alten sowjetischen Vielvölkerreichs, das dabei war zu zerfallen. Außerdem bot die eurasische Ideologie eine Alternative zum kollabierenden sowjetischen Wirtschafts- und Herrschaftssystem, die nicht in der bloßen Übernahme des westlichen Modells bestand, sondern für eine Überwindung der bolschewistischen Herrschaft ohne Verwestlichung Russlands durch etwas eigenes Drittes stand.
Wie die "klassische" Eurasier-Bewegung der Zwischenkriegszeit enthielt auch die neo-eurasische Bewegung der 1990er-Jahre viele verschiedene Strömungen und sich widersprechende Ideen. Viele davon wurden in der Monatszeitschrift "Nasch Sovremennik", der Wochenzeitung "Den" und den unregelmäßig erscheinenden "Elementy" Alexander Dugins veröffentlicht und somit für einen weiteren Kreis zugänglich. An dieser Stelle sollen die zwei gegenwärtig wohl einflussreichsten Neo-Eurasier kurz vorgestellt werden. Ihre Ideen unterscheiden sich jedoch grundlegend.
1. Lew Gumiljow
Der Historiker, Geograf und Ethnologe Lew Gumiljow (1912-1992), Sohn der berühmten russischen Dichterin Anna Achmatowa (1889-1966) und von Nikolai Gumiljow (1886-1921), erlangte schon zu Perestroika-Zeiten sowjetweite Bekanntheit: Er entwickelte die allgemeine Vision der Eurasier von der multinationalen Zivilisation eines gemeinsamen russisch-eurasischen Raums weiter. Historisch wäre Russland-Eurasien nicht durch Unterwerfung und Eroberung zur kontinentalen Großmacht geworden, sondern durch Kooperation mit allen seinen konstituierenden russischen genauso wie nicht-russischen Völkern. Russland wäre kein hegemoniales Imperium nach westlichem Muster gewesen, sondern zu allen Zeiten gekennzeichnet durch eine harmonische Verbindung zwischen seinen vielen Nationalitäten. Dabei unterstrich Gumiljow in seinen zahlreichen Schriften immer wieder, wie wichtig der Beitrag der nicht-russischen Völker zum Aufbau des russischen Imperiums und der russisch-eurasischen Zivilisation war. Er ging sogar so weit, die positive Bewertung der mongolischen Eroberung russischer Fürstentümer im Mittelalter durch die klassischen Eurasier neu zu interpretieren. Denn er leugnete schlicht, dass die Mongolen Russland je erobert hätten, sondern sprach von einer sino-russischen Brüderschaft und behauptete beide Völker seien tatsächlich enge Verbündete im Kampf gegen den gemeinsamen Feind im Westen gewesen. Das moderne russische "Ethnos", so schloss er, entstamme einer interaktiven Symbiose beider Völker.
In einer fragwürdigen Kombination von Geisteswissenschaften mit angeblichen Erkenntnissen der Naturwissenschaften, vor allem aus der Biologie, beschreibt Gumiljow die Entwicklung der Menschheit als einen organischen Kreislauf von Geburt, Aufstieg, Niedergang und Verschwinden ethnischer Gruppen. "Ethnoi", als abgesonderte biologische Einheiten, bildeten dann höhere Zusammenschlüsse, "Super-Ethnoi". "Ethnoi" entstehen nicht durch innere kulturelle Verfassungen oder Genetik, sondern durch äußere Faktoren wie ihr spezifisches Verhältnis zu ihrer natürlich-geografischen "Landschaft" und ökologischen Umwelt. Dabei spielten laut Gumiljow auch kosmische Energien oder solare Emissionen eine Rolle. Sie würden zu Mikromutationen im Menschen führen. Kosmische Energien und daraus resultierende Mikromutation könnten bei einzelnen Individuen zu einem zielstrebigen Handeln führen, das über den bloßen Selbsterhaltungstrieb hinausreicht. Diese erhöhte Aktivität einzelner bezeichnete Gumiljow als "Passionarität" (russ.: passionarnost), die betroffenen Individuen als "Passionäre" (russ.: passionarii). Die "Ethnoi" unterliegen der ständigen Gefahr von fremden, parasitären Gruppen unterwandert zu werden, zu "Schimären" zu degenerieren und schließlich zerstört zu werden. Wer zu den fremden, parasitären Gruppen konkret gehört, entscheidet der durch eine besondere "Passionarität" ausgezeichnete Führer. In welch erschreckendem Ausmaß diese Philosophie von Gumiljow Elemente einer rassistischen Führerideologie enthält, ist offenkundig.
Dennoch ging dieses für Außenstehende kaum nachvollziehbare, geschweige denn überprüfbare Gedankengebäude mit der Erfindung neuer Begriffe einher, die in intellektuellen Diskursen und öffentlichen Debatten bis heute auftauchen und diese beeinflussen. Es entstanden neue sozialwissenschaftliche Subdisziplinen wie Kulturologie, die seit 1992/93 an allen höheren Lehranstalten, Universitäten und technischen Hochschulen Pflichtfach ist und laut Jutta Scherrer häufig von ehemaligen Lehrstuhlinhabern für "wissenschaftlichen Kommunismus" unterrichtet wird. Die kulturalistische Umorientierung geht davon aus, dass Russland ein eigenständiger "Organismus" mit einer eigenen Entwicklungsgesetzmäßigkeit sei, ein besonderer Zivilisationstyp mit einer eigenen kulturhistorischen und sittlich-moralischen Tradition. "Kulturologie bedient alle diejenigen russischen Politiker, die die kulturellen Unterschiede Russlands zu Europa und zum Rest der Welt zu politisieren suchen. Nicht zuletzt hat Huntingtons ‚Clash of Civilizations’ die Absage an den Überlegenheitsanspruch des westlichen Universalismus, die die marxistisch-leninistisch ausgebildeten Kulturologen postulierten, noch bekräftigt." Neo-eurasische Begriffe fanden Eingang in die offizielle politische Sprache. So bekannte sich schon 1991 der international angesehene – später auch von Putin geschätzte – Regisseur Nikita Michalkow zeitweilig zum Eurasismus. "Die ‚Menschen der russländischen Welt’ seien weder Europäer noch Asiaten, sie hätten einen eigenen, den ‚eurasischen Weg’. Er sei überzeugt, dass es nun an der Zeit sei, die einst in der Emigration entwickelten ‚heilsamen Ideen des Eurasismus’ auf russischem Boden in die Tat umzusetzen. [...] Russland sei ‚kein nationales, sondern ein staatliches Gebilde’, das die ‚Werte der nationalen und ethnischen Kulturen aller es bewohnenden Völker in sich aufgenommen’ habe, und damit zu einem ‚West-Ost (Eurasien)’ geworden sei." Wie anerkannt Gumiljows krude Ideologie in der russischen Gesellschaft und dem politischen Establishment heute ist, dafür spricht die häufige Verwendung seiner anti-westlichen, fremdenfeindlichen, teilweise auch anti-semitischen Texte und Artikel an Universitäten und Oberschulen. Auch die Tatsache, dass eines seiner wichtigsten Bücher – "Ot Rusi k Rossii" (dt.: Von der Rus zu Russland) – vom russischen Bildungsministerium als ein Text für den Oberstufen-Lehrplan empfohlen wurde, zeigt, wie einflussreich das Werk Gumiljows im heutigen Russland noch ist. 2004 erklärt Putin in Astana: "Die Ideen Gumiljows begeistern heute die Masse." Auch genießt Gumiljow wegen seiner Betonung des Beitrags nicht-russischer Völker für eine russisch-eurasische Großmacht in den postsowjetischen Republiken Zentralasiens besondere Wertschätzung.
2. Alexander Dugin
Alexander Dugin ist heute der bekannteste Vertreter einer russischen Neuen Rechten, der mit Hilfe seiner ausländischen Kontakte Versatzstücke der Ideologien der französischen "Nouvelle Droite" und italienischer Intellektueller der Neuen Rechten aufsog. Dazu gehören z.B. de Benoist, Evola und Guenon, deren Werke Dugin übersetzte. In sein ideologisch wirres Potpourri integrierte er so verschiedene Quellen wie Karl Haushofers Geopolitik, Ustrialovs Nationalbolschewismus, Freudo-Marxismus, Theorien von Carl Gustav Jung und Mircea Eliade und den Poststrukturalismus. Ebenso gibt es darin recht wahllose Anleihen bei Martin Heidegger und Carl Schmitt, später auch einzelne Gedanken von Trubezkoj und Sawizkijs klassischen "Eurasismus".
Dugin entstammt gedanklich der russischen Neuen Rechten aus dem esoterischen Untergrund der Sowjetunion der Breschnew-Zeit und war Schüler des mystischen Philosophen Evgenij Golowin, der eine okkulte Gesellschaft namens "Schwarzer Orden der SS" gegründet hatte. Sein Vater war KGB-Offizier. Dugin hatte Zugang zu den nach dem Zweiten Weltkrieg nach Moskau verbrachten Archiven des NS-Ahnenerbe-Instituts und zur gesamten europäischen rechtsextremen Literatur. Die gesellschaftliche Öffnung unter der Perestroika ermöglichte es ihm aus dem esoterischen Dissidenten-Untergrund herauszutreten und öffentlich für seine Ideen zu werben. Ende der 1980er-Jahre trat er der populär-patriotischen Front "Pamjat" (dt.: Gedächtnis) bei, einem kurzlebigen Sammelbecken der russischen radikal-nationalistischen Bewegung. Er beriet radikale Nationalisten wie Barkaschow, genauso wie die pro-sowjetische Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KDRF). Seine eigentliche politische Bekanntheit erlangte er als Chefideologe der später verbotenen Nationalbolschewistischen Partei (NBP), deren Vorsitzender er von 1994 bis zu seinem Ausscheiden 1998 war. Er lehrte an der Strategischen Militärakademie des Generalstabs der Russischen Föderation, kandidierte 2003 erfolglos für die Duma für seine 2002 gegründete Partei "Eurasia" und erklärte seit 2000 regelmäßig seine Loyalität zu Putin. Claus Leggewie vermutet, dass er diesen wiederholten Loyalitätsbekundungen wahrscheinlich seine Soziologieprofessur über Geopolitik an der Moskauer Lomonossow Universität von 2010 bis 2014 zu verdanken habe.
Martialisch präsentierte sich Dugin anlässlich des gewaltsamen Zusammenstoßes zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten am 2. Mai 2014 in Odessa: Mit einer Panzerfaust in der Hand sprach er in die Kameras: "Ich glaube, man muss töten, töten und töten. Ich sage das als Professor." Er ist heute Berater des Duma-Vorsitzenden Naryschkin und gilt in Russland als "Kultfigur". Mit Gleichgesinnten gibt er zahllose Zeitschriften und Almanache heraus: "Elementy", "Evrazijskoje vtorzhenie" (dt.: Eurasische Invasion), "Pravoje soprotivlenije" (dt.: Rechter Widerstand), "Milyi Angel" (dt.: Weißer Engel) u.v.a. mehr.
Dugin "verwurstet" – man kann es nicht anders bezeichnen – die klassischen Eurasier und all die genannten Theoretiker, um zu begründen, dass Russland geopolitisch eine eurasische Landmacht sei, die den USA als westlicher Seemacht genauso überlegen sei wie als Zivilisation auch den anderen eurasischen und westeuropäischen Völkern. Dabei definiert er – in Anlehnung an Gumiljows "Ethnologie" – den Begriff Zivilisation ethnisch.
Dugins konkreter Einfluss auf die Politik Putins mag begrenzt sein. Dafür spricht die vermutlich auf Anweisung von oben erfolgte Beendigung seines Vertrages mit der Lomonossow-Universität 2014. Dennoch scheint sein widersprüchliches Ideengebäude Anklang in der russischen Gesellschaft zu finden. So schrieb Klaus-Helge Donath am 14.04.2014 in der taz: "Er ist als Vordenker der ‚eurasischen‘ Ideologie einer der bekanntesten Intellektuellen in Russland und im staatlichen Fernsehen ständig präsent. Von einer faschistoid obskuranten Randfigur zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion stieg er in den nuller Jahren zum Stichwortgeber der jüngeren postsowjetischen Eliten auf."
Und auch einer Geopolitik, die Russland und Eurasien als eigenen anti-westlichen Machtkörper versteht, eine kulturideologische und zivilisationstheoretische Grundlage, bietet Dugin den ideologischen Rahmen. So vermutete Klaus-Helge Donath weiter: "Nicht zufällig ist Sergei Glasjew, Putins Beauftragter für die Entwicklung Eurasiens und der Zollunion, auch ein Anhänger dieser Ideologie."
III. Dugin und die deutsche Neue Rechte
Alexander Dugin ist bei Zusammenkünften der deutschen und europäischen Neuen Rechten ein Stargast; sein krudes Werk findet dort deutlichen Widerhall. Die deutsche Neue Rechte richtet sich zunehmend an Alexander Dugin aus. Die Zeitung "Junge Freiheit" bejubelt ihn als "rechts-intellektuelle(n), Carl-Schmitt-gestählte(n) politische(n) Denker", dessen "geopolitische Theorien maßgeblichen Einfluss auf die Politik Wladimir Putins" hätten. Ein Jahr zuvor war Dugin Ehrengast einer Diskussion über "Deutsche Geopolitik" bei der Bielefelder Burschenschaft Normannia-Nibelungen, wie die rechtsnationale "Blaue Narzisse" berichtet. Zudem war er Anfang März 2015 Stargast im thüringischen Zeulenroda beim einmal im Jahr stattfindenden Lesertreffen der rechtsextremen Monatszeitschrift "Zuerst!".
Jürgen Elsässer, der nun in rechtsextremen und rechtspopulistischen Kreisen aktive ehemalige Linke und Chefredakteur des Monatsmagazins "Compact" und Manuel Ochsenreiter von "Zuerst!" sind regelmäßige Interview- und Ansprechpartner für Deutschland betreffende Fragen im russischen Propagandasender "Russia Today". Beide Publikationen bieten Dugin eine Plattform für seine Meinungen in Deutschland. Dugin sieht die AfD "an die Macht kommen" und in der kommenden Bundesregierung. Die Beziehungen der AfD zum Netzwerk der Neuen russischen Rechten mit ihrem Star Dugin scheinen eng zu sein: So traf AfD-Vize Gauland Dugin Ende 2015 in St. Petersburg. Gauland äußerte zudem Verständnis für Putins völkerrechtswidrige Annexion der Krim und war unter anderem auch im Herbst 2015 Gast auf einer Podiumsdiskussion, die der russische Oligarch Konstantin Malofejew – nach seiner Eigenbezeichnung ein "orthodoxer Monarchist" – mit seiner Stiftung Saint Basil the Great Charitable Foundation ausrichtete. Malofejew veranstaltete auch schon im Jahr zuvor das erwähnte Wiener Treffen der russischen und europäischen Neuen Rechten.
1. Dugin und die "Konservative Revolution"
Dugins Ideologie bezieht sich bewusst auf das Denken der deutschen "Konservativen Revolution", einer radikalkonservativen Geistesströmungen der Weimarer Republik, die Armin Mohler mit seinem umstrittenen gleichnamigen Buch umriss und ihr einen Namen gab. Mohler zählte dazu Autoren wie Heidegger, Niekisch und Carl Schmitt und versuchte zunächst, diese Autoren als vermeintlich "moderne" radikale Rechte der Weimarer Republik abzugrenzen vom Nationalsozialismus. Mit der Bezeichnung "Jungkonservative" versuchte er dann, eine Trennlinie zwischen der radikalen Rechten als Bewegung der Weimarer Republik und dem organisierten Nationalsozialismus zu ziehen. Armin Mohlers antiegalitäre und antidemokratische "Konservative Revolution" wurde im Laufe der Zeit– ausgehend von der französischen "Nouvelle Droit" von Alain de Benoist u.a. – zu einem Kultbuch auch der russischen Neuen Rechten. Dugin selbst veröffentlichte 1994 eine Schrift mit dem Titel "Konservative Revolution". Die gemeinsame Rückbesinnung und Neuinterpretation wesentlicher politischer Ideen der Weimarer "Konservativen Revolution" bildet eine geistige, politisch-ideelle „Wahlverwandtschaft“ der russischen und der deutschen "Neuen Rechten". Dugin verehrt Heidegger und Carl Schmitt.
Er predigt eine die Grenzen nationaler Staatlichkeit sprengende "Zivilisation", die mit Carl Schmitts "Großraum" verknüpft werden müsse. Als Carl Schmitt-Anhänger übernimmt er dessen "Großraum"-Denken genauso wie dessen Geschichtsverständnis als Kampf zwischen Land- und Seemächten, den Dugin wie schon die klassischen Eurasier als Kampf zwischen eurasischer "Tellurokratie" (Landmacht) gegen angloamerikanische "Thalassokratien" (Seemächte) versteht. Will man diese Ideologie interpretieren im Hinblick auf jüngere Entwicklungen und Debatten, so könnte Dugins "Großraumordnung" ein völkerrechtliches "Interventionsverbot fremder Mächte" implizieren. Damit wäre die Idee einer Großraumordnung eine Legitimation für Putins Annexion der Krim und eine Politik, die die Einmischung fremder Mächte in postsowjetische Angelegenheiten ablehnt. Der Großraum wäre ein Gebilde, in dem fremde Mächte keinen Einfluss auszuüben haben. In der Nacht zum 23. Februar 2014 sagte Putin wörtlich: "Wir müssen beginnen, die Krim zurück zu Russland zu holen."
2. Deutsch-Russische Allianz der Neuen Rechten
Das Schmitt’sche Großraumdenken ähnelt dem geopolitischen Denken der klassischen Eurasier in der Zwischenkriegszeit. Beide stehen damit in der Tradition eines Halford Mackinder. Während es keinen geistigen Austausch klassischer Eurasier mit Carl Schmitt und anderen Vertretern der "Konservativen Revolution" gab, ist das Schmitt’sche Denken heute als ideologische Gemeinsamkeit der russischen und der deutschen Neuen Rechten auszumachen: beide sind gegen eine amerikanische Vorherrschaft über Europa, gegen Dekadenz durch Verwestlichung, gegen die westeuropäische Form der Demokratie und für eine Befreiung Deutschlands von US-amerikanischer Dominanz. Oder wie Dugin sagt: "Deutschland ist heute ein großer, politisch-intellektueller Gulag oder eine Art Konzentrationslager. Aber diesmal sind die Amerikaner die Lageraufseher. Die deutsche politische Klasse spielt die Rolle der Kapos, der privilegierten Lagerpolizei [...] Ein freies und unabhängiges Deutschland ist eine große Chance für ganz Europa. Denn auch Europa kann sich nur von den Amerikanern befreien und emanzipieren, wenn sein Motor – Deutschland! – frei und unabhängig von Washington ist."
Politisch pragmatisch schränkt Dugin eine eurasische geopolitische Ausdehnung über den gesamten Eurasischen Kontinent zu Gunsten Deutschlands ein, das er zu einer deutsch-russischen Doppelherrschaft über den eurasischen Kontinent befähigt sieht: "Wenn die Deutschen sich über ihr eigenes Dasein bewusst werden und sich aus dem transatlantischen Albtraum verabschieden, rückt ,Eurasien‘ bedeutend näher. Denn ohne die Deutschen kann das westlich-liberale Projekt EU nicht existieren." Auf die Frage, ob man das neue Bündnis dann zusammen in Berlin oder Moskau feiere, antwortete Dugin für die deutsche Neue Rechte lockend: "Warum nicht in Königsberg?"
Alexander Dugin und das Netzwerk der russischen Neuen Rechten dienen Putin als Verbündete gegen Europa im gemeinsamen Kampf für ein "Eurasien". Mit ideellen Mitteln, Propagandatechniken und der modernen Informationstechnologie baut Russland politische Verbindungen zur europäischen extremen Rechten aus, von der Jobbik-Partei in Ungarn über Straches FPÖ bis zu Marine Le Pens Front National und der italienischen Lega Nord. Deren Vorsitzender Matteo war alleine im Jahr 2015 vier Mal "zu Konsultationen" in Moskau. In dem strategischen Bemühen um eine Destabilisierung Europas kommt Putins ideologischem Kampf um Berlin besondere Bedeutung zu.
Insgesamt zielt der Kreml nicht nur auf internationale Netzwerke des rechten Rands, sondern auch auf weitere destruktive Kräfte im "Westen". Doch im Sinne der eingangs erwähnten russischen Gerassimow-Doktrin gehört das Protest- und politische Spaltungspotenzial, das diese deutsche Neue Rechte mit der Unterstützung der russischen Neuen Rechten in die deutsche Gesellschaft hineinträgt, auch zur "breiten Anwendung politischer, wirtschaftlicher, informeller, humanitärer und anderer nichtmilitärischer Maßnahmen – abgestimmt auf das Protestpotenzial in der Bevölkerung", von der die russische Militärdoktrin spricht. Ziel ist es, den Westen zu destabilisieren. Parteien wie die AfD haben gute Kontakte nach Moskau. Warum auch für Europas Rechtspopulisten eine Zusammenarbeit lohnt, beschreibt Benjamin Bidder treffend:
Welche sicherheitspolitischen Implikationen aus der neuen rechten Allianz erwachsen, ist nicht abzusehen. Der Sputnik-Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz und des Arbeitskreises "Psychologische Operationen" des Bundesnachrichtendiensts, der Hinweise auf eine gezielte russische Desinformationskampagne, ausgelöst durch den Fall "Lisa", untersucht hatte, konnte keine "smoking gun" finden. Dennoch konstatiert er einen seit 2014 "konfrontativeren Kurs" Russlands gegenüber Deutschland und nennt die Berichterstattung russischer Medien und deren deutschen Ableger wie etwa RT Deutsch oder Sputnik News regelrecht "feindselig". Die Verantwortung für solche Beeinflussungsversuche sehen die deutschen Geheimdienste direkt in der Präsidialadministration des Kreml. "Mit dieser Desinformationskampagne sollten die deutsche Bevölkerung gespalten, das Vertrauen in die Berichterstattung deutscher Medien und die Integrität der deutschen Behörden untergraben sowie die Flüchtlingsdebatte angeheizt werden", so stellt der Verfassungsschutzbericht 2016 des Bundesministerium des Innern vom 4. Juli 2017 fest. "Daneben" – wie es dort weiter heißt – "sollen russland-freundliche Parteien und Gruppierungen in Deutschland gestärkt werden, um den aktuellen politischen Diskurs im Sinne Russlands zu beeinflussen."