Jahrelang galt Stefan Rochow als der wohl "wichtigste Nachwuchsfunktionär der NPD". So jedenfalls nannte ihn die "Die Welt". Er war Mitglied des NPD-Parteivorstandes, Bundesvorsitzender der Jungen Nationaldemokraten, stellvertretender Leiter des Parlamentarischen Beratungsstabes der NPD-Landtagsfraktion in Sachsen und zuletzt Pressesprecher der NPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Rochow wurde 1976 im vorpommerschen Greifswald geboren, er hat einen langen Weg innerhalb rechtsextremer Organisationen zurückgelegt. 2008 aber verließ Rochow die NPD, aus dem rechten Aufsteiger wurde ein Aussteiger. Er wandte sich dem Katholizismus zu, inzwischen arbeitet der studierte Betriebswirt als Journalist und Berater und außerdem für das Aussteigerprogramm "Exit-Nord".
Herr Rochow, Sie waren von 2002 bis 2007 Bundesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten, aber schon vorher lange in der rechtsextremen Szene aktiv: bei Burschenschaften, als Anmelder und Redner bei rechten Demonstrationen – ein rechter Kader. Warum der Ausstieg?
Stefan Rochow: Für mich war das ein ganz, ganz langer Prozess. Vor dem Ausstieg stand im Landtag von Sachsen 2005 eine menschliche Enttäuschung. Ich habe gedacht, "dieses System" muss bekämpft werden, WIR seien anders als andere Parteien. Merkte aber dann, dass wir gar nicht anders sind, dass all das, was ich anderen Parteien vorgeworfen hatte, auch bei uns geschah: dass man sich auch bei uns zuerst ums Geld kümmerte, dass man Karrieresachen in den Vordergrund rückte.
Dazu kam dann – denn das hätte ja nicht ausgereicht, eine Ideologie infrage zu stellen – dass ich durch den Tod von (Papst) Johannes Paul II. wieder mit dem Christentum in Berührung gekommen bin, mich wieder mit dem Christentum auseinandergesetzt habe. Ich komme zwar aus einem christlichen Elternhaus, hatte aber längst damit abgeschlossen. Für mich bekam die Aussage des Christentums, dass ein Mensch etwas wert ist, eben weil er ein Mensch ist, von Geburt an, dass er auch Würde und Rechte hat, wieder eine Bedeutung. All das hatte ich aber bei der NPD überhaupt nicht vertreten. Denn bei der NPD waren Würde und Rechte eines Menschen abhängig davon, welcher Rasse, welchem Volk er angehört. Und das war für mich der Punkt, umzudenken. Das hat gedauert: Ich bin ja erst 2008 ausgestiegen.
Trotzdem ist es nicht so, dass man eines Morgens aufwacht, und weiß: Du musst da raus! Wie war das bei Ihnen? Wie viele Schritte haben Sie davor gemacht?
Rochow: Der Tod von Johannes Paul, die Berührung mit dem Christentum, war das Schlüsselerlebnis. Davor lag ein Ortswechsel, von Sachsen und den menschlichen Enttäuschungen dort nach Mecklenburg-Vorpommern, samt der Hoffnung: Vielleicht ändert sich ja bei der dortigen NPD etwas. Aber ich habe dann gemerkt: Wenn ich an Info-Ständen der Partei war, konnte ich hinter vielen Aussagen einfach nicht mehr stehen. Ich war so unglücklich und habe gemerkt, dass ich einen Bruch vollziehen musste, sonst wäre ich nicht mehr froh geworden.
Nun ist das eine Ideologie. Die wird man ja nicht so leicht los. Wer hat Ihnen dabei geholfen?
Rochow: Ich bin über kein Ausstiegsprogramm gegangen, bei mir war es wirklich meine Beschäftigung mit dem Christentum. Ich bin damals noch in meiner Zeit als NPD-Mitglied in Schwerin heimlich in die Messe gegangen, habe mit meinem Pfarrer gesprochen und er hat mich im Rahmen seiner Möglichkeiten begleitet. Wir haben über viele Dinge geredet, und das führte dazu, dass ich die Sicherheit bekam, dass mein Weg richtig ist.
Nun ist der Rechtsextremismus ein geschlossenes Weltbild mit teilweise sektenartigen Strukturen. Wie wird man vom NPD-Funktionär zum Demokraten?
Rochow: Indem man sich immer selbst reflektiert. Ich bin sehr in mich gegangen. Bei mir hat das Christentum eine ganz große, entscheidende Rolle gespielt, das kann ich natürlich nur individuell sagen, das gilt nicht für alle. Gerade der Begriff von Menschenwürde, von Nächstenliebe. Die ich ja für mich irgendwann akzeptiert habe. Das waren Begriffe, die diametral zu dem standen, was ich bisher gedacht habe. Indem ich begonnen habe, diese Begriffe zu akzeptieren, habe ich den Pfad, den ich für mich gefunden habe, akzeptiert. Da habe ich gelernt, dass die Würde des Menschen eben tatsächlich an erster Stelle steht, so wie es im Grundgesetz steht.
Vermutlich ist es aber relativ ungewöhnlich, dass in einer katholischen Gemeinde ein NPD-Funktionär auftaucht. Wie hat man dort auf Sie reagiert?
Rochow: Sehr unterschiedlich. Viele haben es erst hinterher mitbekommen, es war ja eine große Gemeinde. Ich komme aus einem evangelischen Elternhaus, wollte dort einen (katholischen) Glaubenskurs belegen, musste also erstmal Kontakt zur Gemeinde aufnehmen. Ich habe eine E-Mail an die Gemeinde geschrieben, bin also sehr offen damit umgegangen. Der Pfarrer hat sich mit mir getroffen. Viele in der Gemeinde haben das erstmal gar nicht so mitbekommen, weil das ja schon Teil meines Ablöseprozesses war.
Wie haben denn ihre Freunde aus der rechtsextremen Szene reagiert: Galten Sie bei Ihren NPD-Kollegen nicht als Verräter?
Rochow: Am Anfang habe ich mich für einen stillen Ausstieg entschieden. Ich wusste, so wollte ich nicht mehr leben, aber wie ich anders leben wollte, das wusste ich auch nicht. Ich war absolut ziellos, hatte auch Angst, dachte, wenn ich das jetzt öffentlich mache, dann würden sich Medien an mich wenden, dann wäre ich ständig in der Verlegenheit, Stellung beziehen zu müssen. Das konnte ich zu dem Zeitpunkt aber nicht. Also hab ich die Kontakte nach und nach abgebrochen, man sah sich nicht mehr oft auf Veranstaltungen. Es war wie "aus dem Auge, aus dem Sinn". Mich hat das auch gewundert. Aber es war so. Wenn man den Kontakt nicht miteinander pflegt, dann bricht das auseinander. Wenn man überlegt, wie lange ich vorher in der Partei aktiv gewesen bin! Und von heute auf morgen war ich bei der Partei abgeschrieben. Das hat sich schlagartig geändert, als ich 2011 öffentlich anfing, über meinen Ausstieg zu reden. Da bekam ich auch Drohungen, E-Mails, wurde auch beschimpft, da war ich dann tatsächlich der "Verräter".
Wenn man aussteigt, gewinnt man ja nicht nur was, dann verliert man erstmal etwas. Haben Sie diesen Verlust gespürt?
Rochow: Ja, mein ganzes Leben hatte ich mich in dieser Szene bewegt, das waren ja nicht nur "Geschäftspartner", sondern Menschen, mit denen man in den Urlaub gefahren ist, Freunde, mit denen man sein Leben verbracht hat. Das habe ich als Verlust empfunden, weil auch Freundschaften kaputtgegangen sind. Und – auch das darf man nicht verschweigen – für jemanden wie mich, mit so einem Hintergrund, war es auch verdammt schwierig, wieder Fuß in der Gesellschaft zu fassen. Ich hatte die Tür nach hinten selber zugeschlagen, dahin wollte ich nicht mehr zurück. Aber in die andere Tür wurde ich nicht hineingelassen. Ich stand also zwischen allen Türen. Das war ein ganz schwieriges Gefühl für mich.
Man hat Ihnen also anfangs nicht geglaubt, dass Sie ausgestiegen sind?
Rochow: Man hat es mir nicht geglaubt. Es ging ja auch um Dinge wie berufliche Perspektiven. Ich war damals 32 Jahre alt. Für mich konnte meine Karriere ja nicht heißen, Dauer-Hartz-IV-Empfänger zu werden. Diese Aussicht macht es unglaublich schwierig für Menschen, so eine Entscheidung zu treffen.
Wie haben Sie denn eine Möglichkeit gefunden, einen neuen, einen langfristigen Beruf zu erlernen und auszuüben?
Rochow: Das war ein Zufall. Schreiben konnte ich schon immer relativ gut, das hat mir auch Spaß gemacht. Ich habe begonnen, mein Buch zu schreiben. Das war für mich der Anfang. Ich wollte ein ganz klares Zeichen in die Szene hinein setzen. Gerade 2011, als das NSU-Trio aufgeflogen war. Ich selber kannte sie nicht, konnte mir aber – offen gesagt – nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist, zumindest mit den Leuten, die ich kannte, ob das nun Ralf Wohlleben gewesen ist oder der Kapke, die sich in dem Umfeld bewegten. Da hab ich mir gesagt: Jetzt darfst du nicht mehr schweigen, da musst du Position beziehen. Das habe ich getan und bin durch Vorträge und Buchlesungen in diesen Beruf "hineingeschlittert".
Das heißt, sie haben auch durch das Öffentlichmachen Ihres eigenen Weges sich selbst geholfen, da wirklich rauszukommen und nicht rückfällig zu werden?
Rochow: Ich glaube, das war der einzige Weg. Bis 2011 hätte mir die Chance noch immer offen gestanden, zurückzugehen. Weil ich mich öffentlich nicht geäußert hatte. Ich hatte zwar in meiner Austrittserklärung (aus der NPD) geschrieben, dass ich deren Ansichten nicht mehr vertreten kann. Das hatte auch damit zu tun, dass da Leute wie Jürgen Rieger, den ich für einen eindeutigen Rassisten gehalten habe, auftauchten und höhere Positionen bekamen. Das hatte ich angesprochen. Für mich hätte damals der Weg zurück noch offen gestanden. Aber erst mit meiner Positionierung war es wirklich der endgültige Bruch.
Sie sprechen von Jürgen Rieger als Rassisten. Waren Sie nicht selber ein Rassist als Mitglied der NPD und der Jungen Nationaldemokraten? Das ist doch eine Grundvoraussetzung?
Rochow: Ich glaube, im Nachhinein betrachtet, sage ich schon auch "
… aber bitteschön da, wo es lebt und nicht hier ...
Rochow: Genau, das wollte ich grad hinzusetzen. Das ist – im Nachhinein betrachtet – Rassismus gewesen. Das will ich auch nicht leugnen, kann ich auch nicht. Der "Ethnopluralismus" kam vielleicht etwas akademischer daher, war aber trotzdem rassistisch. Aber jemand wie Jürgen Rieger, der schreckte mich natürlich ab, weil er die Rassen tatsächlich, wie in der NS-Ideologie, als minder- oder hochwertig einstufte, das war damals mein Begriff von Rassismus für mich. Das kann es nicht sein, für mich. Heute sehe ich auch den "Ethnopluralismus" als Teil des Rassismus. Ohne Zweifel.
Wann war denn der Punkt, an dem Sie wussten oder annahmen, dass Sie tatsächlich raus sind aus dem Rechtsextremismus?
Rochow: Mit dem Ausstieg, 2009, war erstmal eine ganz große Unsicherheit da. Das änderte sich mit der Entscheidung, mein Buch zu schreiben, mit dem Wunsch: Jetzt erklärst du dich auch, du möchtest damit definitv nichts mehr zu tun haben! Die Chance hätte ja bestanden, nicht innerhalb der NPD weiterzumachen, man hätte ja auch bei "gemäßigten" Rechten andocken können. Mit der Entscheidung, mein Buch zu schreiben, lag all das zu hundert Prozent hinter mir.
Also auch keine "gemäßigten" Gruppierungen mehr: Wo sehen Sie sich denn heute, politisch?
Rochow: Das werde ich immer wieder gefragt. Das ist wahrscheinlich sehr schwer, weil ich mich weigere, in Schubladen eingeordnet zu werden. Aber wenn ich mich einordnen sollte, dann würde ich mich für einen Liberalen halten. Alles, was mit Freiheitsrechten zu tun hat, mit Bürgerrechten. Ich bin kein Linker geworden, aber wenn ich mich schon in eine Schublade einordnen sollte, dann tatsächlich beim "Liberalismus".
Sind Sie an dem Punkt, dass Sie auch anderen helfen, sich vom Rechtsextremismus abzuwenden, beim Ausstieg zu helfen?
Rochow: Ja, an dem bin ich ganz konkret, weil ich auch Leiter des Ausstiegsprogramms "Exit Nord" bin. Weil ich dort Menschen unterstütze und helfe. Das gehört ja inzwischen zu meiner beruflichen Identität.
Nun ist Ihr Weg ein ganz spezieller, indem Sie sich dem Christentum zugewandt haben. Andere müssen andere Wege finden. Was raten Sie denen, die Zweifel am Rechtsextremismus haben und da weg wollen?
Rochow: Auszusteigen! Ganz einfach: Es hinter sich zu lassen. Ich denke einfach: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich hab das ja schon mehrmals gesagt. Das ist mir wirklich wichtig. Rechtsextreme, aber auch rechtspopulistische Bewegungen, die die Würde des Menschen infrage stellen, die darüber diskutieren, ob wir Menschen in Not aufnehmen ... da muss sich jeder, der ausstiegswillig ist, fragen, ob er das noch vertreten kann. Wenn er das nicht mehr vertreten kann, dann muss er den nächsten Schritt machen – und aussteigen aus dem Rechtsextremismus.
Könnten AfD oder Pegida für Sie eine politische Heimat sein?
Rochow: Für mich wären AfD und Pegida überhaupt keine Heimat, weil diese Gruppierungen an einem Weltbild hängen, das eher die Bundesrepublik der 1950er, 1960er Jahre ist. Wir haben uns weiterentwickelt, wir sind eine Einwanderungsgesellschaft, wir können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Solche Retro-Parteien können nicht meine politische Heimat sein.
Stefan Rochow hat über seinen Weg aus der rechtsextremen Szene ein Buch geschrieben, das 2013 unter dem Titel „Gesucht – Geirrt – Gefunden“ erschienen ist.