Warum und wie steigen Aussteiger_innen aus? Der Versuch, die im Titel aufgeworfene Frage zu beantworten, stößt gleich zu Anfang auf eine Reihe von Schwierigkeiten: Zu ihnen gehören die folgenden:
Wer ist überhaupt ein/e Aussteiger_in? Eine/r, der/die ausgestiegen ist, eine/r, der/die ausstiegswillig ist oder eine/r, der/die gerade dabei ist, auszusteigen?
Ist "aussteigen" eigentlich ein adäquater Begriff für den Prozess der Abkehr, der damit umschrieben wird? Handelt es sich nicht – anders als etwa wie bei einem Ausstieg aus einem Zug – eher um eine ausgedehnte Zeitspanne, innerhalb deren man/frau u.U. zugleich "drinnen" wie auch "draußen" sein kann?
Macht es nicht einen Unterschied, woraus Aussteiger_innen aussteigen: Aus rechtsextremen Kaderfunktionen, aus Mitläuferrollen in lockeren Szeneverbünden, aus Gewaltfaszination, aus einschlägiger Straffälligkeit, aus ideologischen Denkgebäuden, aus Sympathisantentum und Einstiegsprozessen oder aus noch anderen Bezügen?
Und wenn Aussteiger_innen "aussteigen", auf welchem Terrain befinden sie sich dann? Im Niemandsland doch wohl nicht, oder? Sind sie aber dann nicht eher Umsteiger als Aussteiger?
Im Folgenden wird eine "aussteigende" Person als ein Mensch begriffen, der die Entscheidung getroffen hat, sich aus rechtsextremen Szene- und Haltungszusammenhängen heraus begeben zu wollen, sich in Folge dessen in einem Abwendungsprozess befindet oder diesen Prozess bereits durchlaufen hat. Besser denn als Ausstieg ist diese Bewegung allerdings als Distanzierung zu bezeichnen, also als ein Prozess der Distanzgewinnung zu vormaligen Aktivitäten und Orientierungen. Dieser kann von ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen her in Gang kommen: Er kann erfolgen
schon in einer Phase der ersten Annäherung an rechtsextreme Positionen und Cliquen (Affinisierungsphase),
in einer Phase der allmählichen Verfestigung rechtsextremer Haltungen (Konsolidierungsphase) oder
in einem Zeitraum, in dem man schon Mitglied einer rechtsextremen Partei geworden ist, fest zur "rechten Szene" gerechnet wird und durch Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen und ggf. auch durch Gewalt bzw. Straftaten auffällig geworden ist (Fundamentalisierungsphase).
Die Distanzierungsprozesse unterscheiden sich auch danach, ob jemand Führungsfunktionen in Szene oder Parteienlandschaft innegehabt hat, dort Mitglied war, bloß als Mitläufer_in gegolten oder nur Sympathie für rechtsextreme Positionen, Zusammenschlüsse und/oder subkulturelle Angebote gezeigt hat.
Ergänzt man die Frage nach dem "Woraus (aussteigen)" durch die Frage des "Wohin", so wird deutlich, dass das, was mit "Ausstieg" gemeint ist, auch mit dem Begriff der Distanzierung noch nicht vollständig eingefangen werden kann. Denn die Abstandnahme vom alten Umfeld und alten Weltbildern muss notwendigerweise verbunden werden mit einem neuen Lebensentwurf. Wer sich aus der Szene löst, rechtsextreme Straftaten unterlässt und seine Haltungen verändert, braucht alternative Orientierungen und Praktiken. Und auch diese Umstiegsoptionen sind wichtige Motivationen für einen sogenannten "Ausstieg".
Motive der Distanzierung
Gegenwärtig liefert die Forschung weder für die jeweilige Phase des Eingebundenseins in rechtsextreme Zusammenhänge noch szenenbezogen oder für den jeweiligen Bindungsgrad belastbare Befunde dafür, warum die Menschen sich für eine Distanzierung entscheiden. Allgemein vollziehen sich Prozesse der Abstandnahme von rechtsextremen Haltungen aber im Spannungsfeld eines Wirkungsdreiecks zwischen
grundlegenden Lebensgestaltungsinteressen, mindestens aber unmittelbaren Bewältigungsanforderungen lebensphasenspezifischer Entwicklungsaufgaben wie etwa Schulabschluss, Eingehen einer festen Partnerschaft, Jobsuche o.ä. (1),
den Erfahrungen im Binnenraum der Szene (2)
und Aspekten der szeneexternen Lebenspraxis (3).
Dabei sind freilich weniger "objektive" Lebenslagen, Erfordernisse, Vorgänge und Interaktionen relevant. Vielmehr beeinflussen Ressourcen und Prozesse der persönlichen Erfahrungsstrukturierung die subjektive Wahrnehmung, Deutung und Bewertung der so markierten Erfahrungssphäre. Diese Strukturierung erfolgt mittels mentaler Repräsentationen wie z.B. ideologisch geprägter Einstellungssegmente, affektiv verankerter Ressentiments, Assoziationen und Metaphern sowie mit Hilfe persönlicher Selbst- und Sozialkompetenzen wie Empathie, Impulskontrolle, Reflexivität und anderem mehr.
Phasen der Distanzierung: Irritationsphase
In der Regel vollziehen sich Distanzierungsprozesse in mindestens drei Stufen: An eine Phase der Irritation schließt sich ein Phase der Loslösung an, die weiter in eine Phase der Manifestierung von Distanz mündet. Loslösung und Distanz betreffen sowohl die innere Einstellung als auch die lebenspraktische Ebene der Alltagsgestaltung. Irritation meint die Verunsicherung und das Infragestellen lange als kohärent erlebter Überzeugungen und Vorstellungsbilder. Auslösend dafür sind oft wiederholte Enttäuschungen durch das szeneinterne Nichteingelöstwerden von Werten, Normen und Maximen, die nach außen hin propagiert werden: Kameradschaft, unbedingter Zusammenhalt und ähnliches mehr. Zum Teil wird auch die Erfahrung gemacht, dass man in schwierigen Situationen und Krisen ausgerechnet von solchen Personen Hilfe und Unterstützung erfährt, die – ginge es nach der ideologischen Correctness – eigentlich zu den Gegnergruppierungen gerechnet werden müssten. In manchen Fällen ist – vor allem in der Phase der ersten Annäherung an die rechtsextreme Szene – auch schlicht eine Umfeldveränderung distanzierungsförderlich: der Beginn einer beruflichen Ausbildung, ein Schulwechsel oder ein Umzug. Insbesondere auch auf Langfristigkeit hin angelegte Beziehungsarbeit durch Soziale Arbeit ist in dieser Phase der Annäherung an extrem rechte Zusammenhänge aussichtsreich.
Während in diesem Zeitraum gegebenenfalls auch noch institutionelle Sanktionierung wirkt – z.B. polizeiliche Verfolgung oder gerichtliche Auflagen –, hat sie später oft den gegenteiligen Effekt: Sie verfestigt die Szenemitgliedschaft, weil sie als Ausweis der Wichtigkeit der eigenen Person und ihrer Rolle in der Szene verstanden werden kann. Gerade (aber nicht nur) für langfristig und "tief" Involvierte gilt: Erst wenn Sanktionierungen wie z.B. eine Inhaftierung mit wirkungsvollen (Resozialisierungs-)Hilfen wie Ausstiegsberatungen verknüpft wird, wird eine Loslösung möglich. Bevor diese in den Blick gerät, können die wie auch immer entstandenen Irritationen eine Zeit lang vielfach ignoriert, bagatellisiert, als Ausnahme von der Regel an den Rand gedrängt und so als Widerspruch, mit dem man vermeintlich einfach leben muss, minimiert werden. Dementsprechende Verdrängungs-, Verleugnungs- und Beschwichtigungsstrategien geraten erst dann an ihre Grenzen, wenn Erschütterungen der eigenen Annahmen und Vorstellungen die eigene Identität angreifen – kurzum: wenn man sich bei einem Verbleiben in rechtsextremen Kontexten als Person nicht mehr wiedererkennt, den Eindruck gewinnt, jemand anders sein zu müssen als man zu sein glaubt und/oder erhebliche Nachteile für eigene Zukunftsperspektiven erkennt.
Loslösungsphase
In der dann einsetzenden Phase der inneren und lebenspraktischen Loslösung wandeln sich zum einen Standards, mit denen neue Erfahrungen verarbeitet werden: Ideologische Grundsätze und rechtsextreme Repräsentationen in Gestalt von Symbolen, Metaphern, Assoziationen, Erzählungen und ähnlichem mehr werden nun nach und nach immer mehr als unpassend für die neuen Erfahrungen empfunden, so dass eine Suche nach Deutungsmustern einsetzt, die den Interessen an Persönlichkeitsentfaltung und Lebensgestaltung besser entsprechen. Dieser Prozess geht meist Hand in Hand mit der Erfahrung, dass Selbst- und Sozialkompetenzen, die vorher keine Rolle spielten oder vernachlässigt wurden, etwa Impulskontrolle, Perspektivenübernahme, Reflexivität und verbale Konfliktregelung, aktiviert und ausgebaut werden müssen. Zum anderen werden Kontakte zu einzelnen Szenemitgliedern und die Beteiligung an gemeinsamen Aktivitäten – meist nach und nach – eingeschränkt, so dass ein "schleichender Ausstieg" erfolgen kann. Angesichts des Druck und der drohenden Gewalt der Szene wird ein schleichender Ausstieg zumeist als ungefährlicher eingeschätzt als eine gegenüber den Szenemitgliedern offengelegte Abstandnahme oder gar ein öffentlich bekundeter und ggf. sogar medial begleiteter Ausstieg.
Der Übergang in diese Phase wird oft durch vergleichsweise intensive Kontakte zu szeneexternen Personen, zu professionellen Distanzierungsarbeiter_innen oder – noch häufiger – auch durch neue freundschaftliche bzw. partnerschaftliche Bindungen oder das Wiederaufleben alter Kontakte, etwa aus der Schulzeit, erleichtert. Über sie wird die hermetische Geschlossenheit der Szenezusammenhänge durchbrochen und gleichsam "eine andere Welt" erschlossen: andere Freizeitbetätigungen, andere Anforderungen an Sozialkompetenzen, andere Kommunikationsweisen, andere Formen sozialer Kontakte, andere Bindungsqualitäten, andere Relevanzen generell und letztlich auch veränderte Vorstellungsbilder.
Oftmals parallel dazu und in gleicher Richtung wirken Erfahrungen in Schule und Arbeit, die den Aufbau neuer bedeutsamer Sinnbezüge ermöglichen. Sachlich-inhaltliche Tätigkeitsinteressen und (meist damit verbundene) "normale" Zukunftsgestaltungsinteressen verdrängen die ideologisch normierten vormaligen Orientierungen der rechtsextremen Gruppe und Szene. In der Szene zu verbleiben, wird dann als Bedrohung für die Umsetzung der neuen Selbstentwürfe erkannt. Und wenn sich die Person stärker auf die persönliche Entwicklung und das berufliche Vorankommen konzentriert, verblasst auch die Orientierung auf vorgeblich 'rassische', ethnisch-kulturelle und nationale Interessen zunehmend.
In einigen Fällen verändern auch die Geburt eines eigenen Kindes und die Sorge für sein Aufwachsen die konkrete Lebensführung und die Zukunftsvorstellungen. Vor allem Frauen betrachten dann die Szenemitgliedschaft und insbesondere das unmittelbare Involviertsein in Szeneaktivitäten als kontraproduktiv. Teilweise durchaus akzeptiert durch Szeneangehörige ziehen sie sich folglich in ihre Mutterrolle zurück. Der Rückzug ins Private passt zum konventionellen Weiblichkeitsbild, das szeneweit verbreitet ist. Da Vergleichbares für die Konzentration auf das Vater-Werden und -Sein nicht gilt, ist es wenig erstaunlich, wenn dieser Umstand als Rückzugs-Motiv im Allgemeinen nicht hingenommen wird. Dessen ungeachtet verstärkt die Geburt eines Kindes häufig die Kontakte zu den eigenen Eltern, zumal diese auch bei der Betreuung des Enkelkinds entlasten und Tipps geben können. Auch bei der Wohnungs- oder Stellensuche sind sie dann vielfach behilflich. Durch die so konkretisierte Unterstützungs- und Vorbildrolle der eigenen Eltern gewinnt oftmals eine konventionelle Familienorientierung die Oberhand und lässt die Betroffenen in tradierte Geschlechterrollen hineingleiten. Deren Ambivalenz zeigt sich freilich darin, dass sie einerseits aus den politischen Konflikten eines rechtsextremen Aktivismus hinausführen, andererseits aber große Überschneidungsflächen mit einem traditionalistischen und geschlechtshierarchischen Familienbild aufweisen, das (auch) in der extremen Rechten verbreitet ist.
Manifestierungs- und Neuperspektivierungsphase
Ein endgültiger Bruch mit dem rechtsextremen Szene- und Haltungszusammenhang wird erst durch die Manifestation innerer und lebenspraktischer Distanz markiert. Sie zeigt sich daran, rechtsextreme Denkweisen, daraus abgeleitete Aktivitäten und Szenekontakte vollständig aufzugeben. An deren Stelle tritt eine verstärkte Hinwendung zu Lebenspraxen und -modellen, die als sozial akzeptiert gelten: Über ernsthafte Bildungsanstrengungen, längerfristig ausgerichtete Bemühungen zur Arbeitsmarktintegration, dadurch betriebenen Selbstwertaufbau, unauffällige private Lebensformen, vielfältigere und deutlicher durch wechselseitige Kommunikation als durch "action" geprägte Freundschafts- und Bekanntschaftsnetze, teilweise auch durch Vereinseinbindungen werden zugleich szeneferne wie sozial akzeptierte Erfahrungen von Zugehörigkeit, Anerkennung, Teilhabe und Identifikation stabilisiert. Längst nicht immer stellt sich diese Transformation der Aussteigerbiografie allerdings als politische Metamorphose zu "lupenreiner Demokratiebefürwortung" dar. Nicht nur in Ausnahmefällen bleiben – nunmehr verdeckter und eher in der Defensive – bestimmte Vorlieben bestehen (z.B. Rechtsrock, maskulinistische Dominanzgelüste oder nostalgische Reminiszenzen an die "geile Zeit in der Szene"); wohl aber sind die Restbestände an (extrem) rechten Denkweisen, die unter Umständen übrig geblieben sind, nicht mehr haltungsbestimmend und handlungsleitend, weil ihnen gewichtigere neue Orientierungen und Aktivitäten gegenüberstehen.
Alles in allem laufen die Befunde der (insgesamt noch dürftigen) Distanzierungsforschung auf die zentrale Erkenntnis hinaus: Die Anziehungskraft des Rechtsextremseins schmilzt rapide ab, wenn ein Szenemitglied den Eindruck gewinnt, solange es sich in rechtsextremen Orientierungs- und Szenenzusammenhängen bewegt,
das eigene Leben nicht gut in den Griff zu bekommen,
Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung im Szenezusammenhang nicht (mehr) verspüren zu können,
im Eintreten für eine rechtsextreme Haltung und in dieser selbst keinen Sinn mehr zu sehen,
Bedürfnisse nach positivem und genussvollem Erleben immer wieder zurückstellen zu müssen
und zugleich Zugang zu anderen gewaltfernen und demokratiekompatiblen Möglichkeiten für die derart vermissten Erfahrungen zu haben.
Mit den neuen persönlichen Lebensgestaltungsmöglichkeiten verlieren dann auch die ehedem Orientierung gebenden Deutungen ihre politisch-soziale Wirkmächtigkeit und wird die Relevanz jener Selbst- und Sozialkompetenzen spürbar, die ebenso persönlicher Entwicklung wie gesellschaftlicher Anerkennung zuträglich sind. Professionelle Ausstiegshilfen sind deshalb dann Erfolg versprechend, wenn sie eine solche lebensgestaltungsorientierte Strategie verfolgen.