Russlands militante Rechtsextremisten machen seit vielen Jahren durch Gewalttaten auf sich aufmerksam. Mehrere hundert Menschen verloren in den vergangenen zehn Jahren infolge des rechten Terrors ihr Leben, Tausende wurden angegriffen und trugen nicht selten erhebliche Verletzungen davon.
Dass der (Neo)Nationalsozialismus ausgerechnet in Russland eine starke Anziehungskraft entwickelte, mag angesichts des Vernichtungskrieges des NS-Regimes gegen die Sowjetunion paradox erscheinen. Doch insbesondere unter Jugendlichen galt in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg faschistische Ästhetik als schick, und es sind zahlreiche Fälle geheimer Schülergruppen bekannt, die sich in spielerischer Form mit NS-Symbolik schmückten.
Nationalistische Bewegungen in den 1980er- und 1990er-Jahren
Mit dem Erstarken nationalistischer Bewegungen während der Perestroika Ende der 1980er-Jahre, als Anhänger rechter Weltanschauungen ihre politischen Präferenzen offen zum Ausdruck bringen konnten, erhielt auch neonazistisches Gedankengut an Auftrieb. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die NS-Ideologie in der sowjetischen Gesellschaft zum Zeitpunkt des Umbruchs die wohl bekannteste Form des Nationalismus darstellte.
Der "Slawische Bund", der nie offiziell registriert und später verboten wurde und der die Kürzel "SS" (für Slavyansky Soyuz) trug, fügte dem radikalen russischen Nationalismus weitere ideologische Komponenten hinzu, darunter den "Willen zur Schaffung eines Übermenschen" und die offene Sympathie für den im Kampf gegen die "Bolschewiki" unterlegenen NS-Staat. Inspiriert von Hitlers "Mein Kampf" organisierte Rumjantsew, einer der Gründer des "Slawischen Bundes", 2004 die "Nationalsozialistische Gesellschaft" (NSO). Mitglieder der NSO-Nord wurden Jahre später wegen Mordes in 27 Fällen und zahlreichen weiteren Übergriffen zu hohen, bis hin zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Grundsätzlich baute Rumjantsews Weltbild auf NS-Gedankengut auf. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, einer Fremdideologie anzuhängen, die zum Angriff auf die Sowjetunion geführt hat, und um sich in den Augen russischer Nationalisten Legitimität zu verschaffen, verwies er gleichzeitig auf eine enge historische Verbundenheit Russlands zu Deutschland und auf Schriften der Dekabristen.
Netzwerke statt Organisation in Parteien
Politische Ambitionen konnten Neonaziorganisationen im postsowjetischen Russland bis heute nur eingeschränkt realisieren, jedenfalls nicht über Wahlen oder eigene Parteiabgeordnete im Parlament. Gleichzeitig waren sie gut vernetzt und fanden in einzelnen Duma-Abgeordneten Fürsprecher und Gesinnungsgenossen.
Treffpunkte der gewaltbereiten Szene befanden sich an sichtbaren und wohlbekannten Orten. Für die an intellektueller Auseinandersetzung interessierten Neonazis boten Kultureinrichtungen wie der russische Schriftstellerverband Raum, militante Angreifer zeigten auf öffentlichen Plätzen Präsenz oder trainierten Kampfsport in sogenannten patriotischen Militärsporteinrichtungen. Zu diesen zählt der von Nikolaj Koroljow gegründete Club SPAS. Koroljow, der wegen eines Bombenanschlags im Jahr 2006 auf den seinerzeit größten Moskauer Markt mit 14 Toten zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde, bekannte sich später auch zu dem 2004 verübten Mord an der Richterin Natalja Urlina. Unter Neonazis genießt er einen Ikonen-Status. Inspiriert hat er unter anderem die "Bande Ryno", benannt nach deren Anführer, dem Ikonenmalereischüler Artur Ryno, der mit Pawel Skatschewskij und weiteren Mitgliedern wegen Mordes in 20 Fällen und 12 weiteren rassistischen Übergriffen zur Höchststrafe von zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Zum Tatzeitpunkt hatten alle Verurteilten die Volljährigkeit noch nicht erreicht – Minderjährige machen ohnehin einen nicht unwesentlichen Teil der militanten Neonaziszene aus. Im Netz gab es zuhauf Tötungsanleitungen, die auch nicht mit der Szene vernetzte Gruppen oder Einzelpersonen erreichten und insbesondere Jugendliche zu Gewalttaten animierten. Im Sommer 2007 sorgte ein grausames Video für Aufsehen, auf dem die Hinrichtung zweier Männer aus Tadschikistan und Dagestan zu sehen ist. Zu dem Zeitpunkt rühmten sich Gewalttäter aus der Neonaziszene häufig ihrer Taten im Internet und unterlegten diese zum Beweis mit Videoaufnahmen. Das Video war jedoch ein neuer, widerlicher Höhepunkt von demonstrativ praktiziertem Hass gegen Menschen insbesondere aus Zentralasien und dem Kaukasus. Es fanden sich immer mehr Nachahmer, und so stieg auch mit jedem Jahr die Zahl der Todesopfer an: Im Jahr 2008 fielen mit 116 Toten
Öffentliche Inszenierung der Gewalt
Diese maßlose Gewalteskalation fand vor dem Hintergrund eines gegen Migranten gerichteten gesellschaftlichen Diskurses mit zeitweise fast schon hysterischen Zügen statt, dem sich praktisch niemand in der Öffentlichkeit entgegenstellte. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Täter aus der Neonaziszene durften dieses Signal als Ermunterung aufgefasst haben. Neue rechtspopulistische Zusammenhänge, die im Regelfall unabhängig von der Selbstbezeichnung als Partei, Bewegung oder Organisation über keinerlei Rechtsstatus verfügten, heizten die ohnehin angespannte Stimmung weiter an. Dazu gehört auch die 2002 entstandene "Bewegung gegen illegale Immigration" (DPNI). Die DPNI wusste das Potenzial medialer Berichterstattung für ihre Zwecke effektiv zu nutzen; sie schaffte es, sich als eine Art Volksbewegung zu positionieren. Gerne bezeichneten sich ihre Anhänger als "russische Menschenrechtler“" und lieferten damit ein Modell, das Neonazis später ebenfalls erfolgreich umsetzten. Mit Zutun der DPNI eskalierte im Herbst 2006 im karelischen Kondopoga ein Kneipenkonflikt zu einem mehrere Tage andauernden Pogrom gegen Menschen nichtrussischer Herkunft. Betroffen waren vor allem Tschetschenen, Aserbaidschaner und Migranten aus Zentralasien. Polizei und Behörden ließen die DPNI zunächst unbehelligt agieren.
In der Präsidialadministration, also dort, wo die Fäden des russischen Machtapparates zusammenlaufen, war zu diesem Zeitpunkt längst das Bewusstsein gereift, dass sich eine mögliche "faschistische Gefahr" hervorragend als Instrument zur Machtsicherung eignet. Dass sich der russische Präsident Wladimir Putin auf die Inszenierung und Verwaltung von Ausnahmezuständen versteht, stellte er bereits bei seinem Machtantritt unter Beweis, der mit dem Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs 1999 zusammenfiel. In dessen Folge rief Putin zum sogenannten Antiterrorkampf gegen tschetschenische Terroristen auf. Dieses Feindbild ließ sich auf Dauer nicht aufrechterhalten – da drängten sich militante Rechtsextremisten und die Angst vor einem faschistischen Putsch als Alternative auf. Die musste schon allein deswegen gefunden werden, weil der Machtwechsel in Kiew zur Jahreswende 2004/2005 – "orangene Revolution" getauft – in der russischen Führung Befürchtungen hervorrief, ein ähnliches Szenario könne sich in Russland wiederholen. Denn soziale Reformen, die Teile der Bevölkerung um diverse Vergünstigungen brachte, hatten zu dem Zeitpunkt russlandweit unerwartet heftige Proteste hervorgerufen.
Die Reaktion des Staates: Diskrepanz zwischen Praxis und Verfassung?
Damit nahm das Projekt des "gelenkten Nationalismus" seinen Anfang, analog zum Herrschaftsmodell der "gelenkten Demokratie".
Dafür trat am 4. November 2009 die Neonaziband "Kolowrat" vor den Toren des Kremls auf. Ermöglicht hatten dies enge politische Kontakte der legalen rechtsextremistischen Vereinigung Russkij Obraz ("Russische Gestalt"). Deren Gründer Ilja Gorjatschew war für kremlnahe Strukturen tätig, darunter auch für die Präsidialadministration, insbesondere für die Abteilung für Jugendbewegungen. Außerdem diente Russkij Obraz auch dazu, Kader aus der DPNI abzuziehen, die sich zunehmend mit staatlichen Sanktionsmaßnahmen konfrontiert sahen.
Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit wird der Finanzierung halblegaler und illegaler Strukturen der Neonaziszene geschenkt. Dubiose Geschäfte, Postüberfälle und nicht zuletzt die Bereicherung durch billige migrantische Arbeitskräfte im lukrativen Baugewerbe
Konsequentere Strafverfolgung ab 2008
Mit einer konsequenteren Strafverfolgung, wie sie ab dem Jahr 2008 zu beobachten war, veränderte sich das taktische Vorgehen militanter Neonazis. Die Mitgliedschaft in legalen – und damit auch für den Staat leicht überschaubaren – Organisationen wurde zunehmend unpopulär. Um ein konspirativen Regeln entsprechendes Vorgehen zu ermöglichen, blieb nur der Rückzug in den Untergrund. Zeitweilig ändern sich die erklärten Zielsetzungen rechtsextremistischer Gewalttäter, die jeweils aktuelle gesellschaftspolitische Themen im Blick behalten und darauf reagieren. Das betrifft insbesondere die Jagd auf vermeintlich Pädophile, was meist als Synonym für Homosexuelle steht, oder Drogenhändler. Die Zahl der Morde mit rechtsextremem Hintergrund nahm 2013 und 2014 wieder zu und lag 2014 bei 36
Der Ukraine-Konflikt hat bei radikalen Nationalisten heftige Kontroversen ausgelöst. Allein die Frage, ob Ukrainer und Russen als ein Volk zu gelten haben oder unterschiedlichen Ethnien angehören, ist unter ihnen umstritten. Nur wenige Gruppierungen hegen für den Maidan Sympathien, die mit einer ablehnenden Haltung gegenüber jedweder Unterstützung für die sogenannten "Volksrepubliken" im Donbass einhergehen. Dazu gehören die Vereinigung "Russen", die aus der DPNI und dem Slawischen Bund hervorgegangen ist, und eine Reihe weniger bekannter Neonaziorganisationen. Das führte zum Bruch mit vormaligen ideologisch nahestehenden Kooperationspartnern, die sich sowohl für die Annexion der Krim aussprechen als auch die Idee eines "Neurusslands" im Donbass unterstützen. Letztere stehen dabei allerdings nicht unbedingt hinter Präsident Wladimir Putin und seiner Politik. Für manche genießt der Kampf für die "Russen im Donbass" Priorität, andere interessieren sich mehr für den Versuch ukrainischer Nationalisten, einen Nationalstaat zu gründen, wie sie ihn sich selbst für Russland wünschen. Aber auch über die Frage, wie ein solcher Nationalstaat auszusehen habe in einem riesigen Land, in dem Russen zwar die überwiegende Mehrheit darstellen, aber noch viele andere Nationalitäten vertreten sind, herrscht keine Einigkeit.
Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine jedenfalls hat in rechtsextremen Kreisen für neue Fronten gesorgt. Weil allerdings rechtsextreme Äußerungen in der Öffentlichkeit – auch in den sozialen Netzwerken – zunehmend strafrechtlich verfolgt werden, üben sich radikale Nationalisten hinsichtlich ihrer Bewertung des Ukraine-Konflikts immer häufiger in Zurückhaltung. Stimmen sie aber der Kreml-Politik zu, so können sie damit wohl kaum punkten bei Gesinnungsgenossen, da sich diese Positionen selbst im Staatsfernsehen wiederfinden, es also keiner gesonderten politischen Kraft bedarf, die Pro-Kreml-Meinung zu artikulieren. Der militante Teil der rechtsextremen Szene konzentriert sich wieder auf rassistische Hetze und die Kampfausbildung ihrer Kader in militärpatriotischen Clubs. Politisch betrachtet geht die extreme Rechte demnach bislang geschwächt aus dem Ukraine-Konflikt hervor. An ihrem Gewaltpotenzial ändert dies allerdings wenig.