Der Abend der sächsischen Landtagswahl am 19. September 2004, das Wahlstudio des ZDF in Dresden, kurz nach 19 Uhr: Wie es Tradition ist, haben sich für die Nachrichtensendung heute um einen Stehtisch die Spitzenkandidaten jener Parteien versammelt, die den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben. Das Besondere des Abends: Neben CDU, PDS, SPD, FDP und Grünen ist dies – erstmals seit 1969 – auch der NPD gelungen. Nach den anderen Parteivertretern richtet die Moderatorin Bettina Schausten schließlich eine Frage an den NPD-Vertreter, und sie ist ziemlich konfrontativ: "Wann sagen Sie den Wählern, die Sie hier gewählt haben, dass Sie eigentlich Neonazis sind?" Holger Apfel antwortet nicht darauf, sondern versucht, ein offenbar vorbereitetes Statement loszuwerden: "Heute ist ein großartiger Tag für alle Deutschen, die noch Deutsche sein wollen. Es ist die verdiente Quittung für eine immer asozialere Sozialpolitik, für eine asoziale Wirtschaftspolitik und …" In dem Moment verlassen die Politiker der demokratischen Parteien das Studio. Die Moderatorin bricht daraufhin das Interview ab, zieht dem NPD-Mann das Mikrofon weg. Apfel aber redet weiter, für die Zuschauer sind noch Wortfetzen zu verstehen. Schausten herrscht ihn an: "Bitte seien Sie still, bitte seien Sie still" - dann wird das Bild ausgeblendet.
Mehr als ein Jahrzehnt ist seit diesem Abend vergangen, aber kaum eine Szene bringt die Schwierigkeiten bei Gesprächen mit Rechtsextremen so klar auf den Punkt. Soll man mit Rechtsextremen reden? Und wenn ja, wie? Oder falls nein, warum nicht? An jenem Wahlabend im Jahr 2004 entschieden sich die Politiker für die Kommunikationsverweigerung und verließen demonstrativ den Stehtisch. Die Journalistin hingegen versuchte ein Gespräch, das ihr aber schnell entglitt. Alle sahen schlecht aus – außer Holger Apfel, der herüberkam als jemand, der unfair und unfreundlich behandelt wird.
Immer wieder stehen Demokraten vor der Frage, ob sie mit Rechtsextremen reden sollen: Journalistinnen und Politiker ebenso wie Lehrerinnen und Sozialarbeiter – oder auch jeder Durchschnittsbürger, wenn er oder sie sich in einem Internetforum oder beim Gespräch am Gartenzaun plötzlich rechtsextremen Positionen gegenübersieht. In unregelmäßigen Abständen wird die Frage auch in der breiten Öffentlichkeit debattiert, etwa 2014/15 parallel zum Anwachsen der Pegida-Demonstrationen: Während die meisten Politiker Gespräche mit deren Teilnehmern ablehnten, signalisierte beispielsweise der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) Dialogbereitschaft, der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel nahm gar an einer Diskussion mit Pegida-Vertretern teil – beide wurden dafür scharf kritisiert.
Bei der Entscheidung für oder gegen Gespräche stehen Demokraten vor einem grundsätzlichen Dilemma: Zu den Prinzipien eines demokratischen Umgangs gehört, dass man miteinander redet und etwaige Konflikte verbal austrägt. Daher wirkt es auf den ersten Blick durchaus legitim, wenn Rechtsextreme fordern, dass auch mit ihnen geredet wird – sei es in Radio- oder Fernsehsendungen, bei Bürgerversammlungen, bei Podiumsdiskussionen im Vorfeld von Kommunalwahlen und so weiter. Wird Rechtsextremen die Teilnahme verweigert, stellen sie sich häufig als Märtyrer dar und behaupten kurzschlüssig: Wer nicht mit uns redet, ist kein Demokrat.
Ja ... Das Spektrum der Antworten von Demokraten auf die Gesprächsforderungen von Rechtsextremen ist sehr breit. Am einen Ende steht die Position (oft vertreten von Sozialarbeitern oder auch Theologen), selbst der schlimmste Neonazi sei immer noch Mensch – und man müsse als Demokrat und Humanist mit allen Menschen reden. "Wo immer die Hoffnung besteht, mit vertretbarem Aufwand Menschen für die demokratische Gesellschaft zurückzugewinnen, muss dieser Versuch unternommen werden", schrieb beispielsweise vor einigen Jahren der SPD-Politiker Matthias Brodkorb.
oder ... Kritiker halten dieser Position entgegen, dass durch – vor allem öffentliche – Gespräche die Rechtsextremen und ihre Positionen aufgewertet würden, dass sie eine Bühne bekämen. Dass allein durch den Beginn eines Gesprächs ihren Aussagen ein gewisses Verständnis und eine gewisse Legitimität entgegengebracht werde. Nicht zuletzt bestehe die Gefahr, dass schon das Zulassen von Rechtsextremen zu Gesprächen eine Reihe anderer Menschen von genau diesen Gesprächen ausschlösse – weil die sich durch die Präsenz Rechtsextremer bedroht fühlten. Schließe man Neonazis nicht von Veranstaltungen aus,
nein ... Am anderen Ende des Meinungsspektrums steht die strikte Ablehnung von Gesprächen mit Neonazis. Ein Ausschluss von Rechtsextremen sei nicht undemokratisch, betont beispielsweise die Berliner Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) in einer Handreichung.
Auf die Spitze getrieben wurde die Gesprächsverweigerung vom Satiriker Wiglaf Droste. "Muss man an jeder Mülltonne schnuppern?", polemisierte er vor mehr als zwanzig Jahren in einem Artikel. Was Neonazis denken oder wie es ihnen gehe, interessiere ihn nicht im Geringsten. "Ob sie hungern, frieren, bettnässen, schlecht träumen usw. geht mich nichts an. Was mich an ihnen interessiert, ist nur eins: daß man sie hindert, das zu tun, was sie eben tun, wenn man sie nicht hindert – die bedrohen und nach Möglichkeit umbringen, die nicht in ihre Zigarettenschachtelwelt passen."
Doch auch die Gesprächsverweigerer müssen sich mit dem Paradox auseinandersetzen, dass bereits die Ablehnung von Gesprächen dem Abgelehnten Aufmerksamkeit verschaffen kann. Dies geschah beispielsweise im Frühjahr 2016 im Vorfeld der Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, als über die Teilnahme von Vertretern der rechtspopulistischen AfD an Fernsehdiskussionen gestritten wurde.
Ja, aber ... Die meisten Antworten auf die eingangs gestellte Frage nehmen Positionen zwischen einem eindeutigen Ja oder Nein ein – so auch die Beiträge in dieser Debatte. Sie differenzieren (
Für die Entscheidung Pro oder Contra ist zudem wichtig, in welcher Situation man sich befindet: Private und persönliche Gespräche werden anders beurteilt als eine Kommunikation vor Publikum, etwa in einer Bürgerversammlung oder in einer Talkshow. In Internetforen (siehe speziell hierzu den
Ein paar Worte zur "Wortergreifungsstrategie" der NPD Rechtsextreme selbst jedenfalls beantworten die Frage klar: Sie wollen, dass mit ihnen geredet wird. So fordert die NPD ihre Mitglieder und Anhänger explizit dazu auf, Demokraten zu Gesprächen zu nötigen, beispielsweise offensiv auf öffentlichen Veranstaltungen anderer Parteien aufzutreten. "Drängen wir ihnen unsere Gedanken auf, ja, zwingen wir sie dazu, sich mit uns, unseren Forderungen und Zielsetzungen zu beschäftigen", erklärte der damalige NPD-Vorsitzende Udo Voigt 2004 in einer Parteitagsrede den Zweck der sogenannten "Wortergreifungsstrategie".
Das Kalkül dabei ist klar: Wenn man sie zu Gesprächen zulässt, können Rechtsextreme ihre Positionen in die Debatten einspeisen – und sie wirken schnell als legitimer Teil des demokratischen Meinungsspektrums. Dabei sind Demokraten in öffentlichen Diskussionsveranstaltungen strukturell im Nachteil,
Die NPD-Nachwuchsorganisation Junge Nationaldemokraten ließ 2006 in einem Grundsatzbeschluss ein weiteres Ziel der "Wortergreifung" aufschimmern: "In der direkten Konfrontation mit dem Gegner soll dieser nicht mehr in der Lage sein über Nationalisten, sondern nur noch mit ihnen zu diskutieren."