Als Tanja Privenau an diesem grauen Novembermorgen in dem Berliner Café erscheint, bleibt sie zunächst kurz an der Tür stehen und schaut durch das noch fast leere Lokal. Dann steuert sie auf einen Tisch an der hinteren Wand des Raums zu und setzt sich mit dem Gesicht zur Tür. "Ich habe so meine Regeln", sagt sie später im Gespräch. "Nie in der Mitte eines Cafés sitzen, Marktplätze nur an den Rändern überqueren, immer einen freien Blick in den Raum. Das läuft bei mir inzwischen schon ganz automatisch ab."
"Gewalt ist ein großes Thema"
Tanja Privenau, die längst nicht mehr so heißt und heute an einem geheim gehaltenen Ort irgendwo in Europa lebt, ist auf der Flucht. Immer noch.
47 Jahre alt ist sie heute. Eine energische, resolute Frau mit fester Stimme und einem fröhlichen Lachen. Einnehmend, sympathisch, offen. Sollte diese Frau Angst haben, merkt man ihr das zumindest nicht an. "Ich musste mit fünf Kindern durch die Hölle gehen, da lernt man es, keine Angst zu zeigen", sagt sie. Zweimal war sie verheiratet, von beiden Männern hat sie Kinder. Vier Söhne sind es, der älteste ist heute 29, der jüngste 14 Jahre alt. Das fünfte Kind hat sie verloren. Es starb 2010, mit gerade einmal 20 Jahren. "Mein Kind ist an der Angst zerbrochen, denn es hat unsere körperliche Bedrohung durch meinen Ex-Mann in der Zeit, als wir noch zusammenlebten, nie mehr aus dem Kopf bekommen", sagt die Mutter leise. "Es war schrecklich, für uns alle."
Brauner Alltag von Jugend an
Tanja Privenau stammt aus Niedersachsen. Dort, in der Nähe von Hannover, ist sie auch aufgewachsen. Mit 13 schon rutscht sie in die rechte Szene. Sie wird eine überzeugte Nationalsozialistin und verschafft sich Respekt unter ihren meist männlichen Kameraden. Sie trinkt mit, grölt mit, schlägt mit zu. Und steigt auf in der Szene: Sie tritt der
In dieser Szene lernt Tanja Privenau ihren ersten Mann kennen. Sie ziehen zusammen auf seinen Bauernhof. Sie ist noch keine 20 Jahre alt, da hat sie schon zwei Kinder. An den Wochenabläufen ändert das wenig: "Demonstrationen, Parteitreffen, Kameradschaftsabende und am Wochenende Hetendorf – das war neben dem Alltag auf dem Hof unser Leben."
Ende der 1990er Jahre lernt sie Markus Privenau kennen und verliebt sich. Auch Privenau ist – bis heute – ein überzeugter Neonazi mit engen Beziehungen zur NPD. Vor allem in Bremen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern hat er viele Freunde und Unterstützer unter den gewaltbereiten Rechtsextremen. Tanja lässt sich scheiden, heiratet den neuen Mann und zieht mit ihm auf einen Bauernhof in der Nähe von Bremen. Sie bringt ihre beiden Kinder mit in die Ehe, bekommt mit Privenau drei weitere Söhne. Im Familienleben ändert sich zunächst nicht viel. "Wir haben uns, auch schon in meiner ersten Beziehung, immer als nationale, als völkische Familien verstanden", erzählt sie. "Wir wollten einen Gegenentwurf zum staatlichen Familienbild leben." Konkret heißt das, dass die Kinder so weit wie möglich ihr Leben innerhalb der Szene leben müssen. Gerade mal der Besuch einer staatlichen Schule wird geduldet, wenn auch zähneknirschend. "Es gab ja mal die Idee, in Hetendorf eine private Schule für die Kinder völkischer Familien aufzubauen, aber das scheiterte letztlich am Geld", sagt sie. Gleich nach dem Unterricht müssen die Kinder nach Hause kommen. Freunde aus der Schule dürfen sie nicht treffen. Dafür arbeiten sie auf dem Hof mit. Von klein auf sei es um Pflichten und Disziplin gegangen, um Gemeinschaft und Unterordnung, erzählt Tanja Privenau. Vor allem ihr zweiter Mann – "der Privenau", wie sie ihn nennt – habe auch mal zugeschlagen, wenn sich die Kinder nicht an die Regeln hielten.
Wie die anderen völkischen Familien sind auch die Privenaus bemüht, so viel Einfluss wie möglich auf ihre Kinder auszuüben und sie von der "bösen Außenwelt" abzuschotten. "Wir trafen uns ja regelmäßig mit den anderen Familien, und aus den Gesprächen ergab sich, dass es überall gleich ablief", erzählt sie. "Wie in einer Sekte."“ Es gibt keine Fernseher, Computer und Handys im Haus, die Kinder dürfen keine Jeans oder bedruckte T-Shirts tragen. Stattdessen ziehen die Zöpfe tragenden Mädchen selbstgenähte Kleider und Röcke und die Jungen Stoffhosen und Hemden an. Gemeinsam singt man deutsches Liedgut, vor jedem Essen wird ein Tischspruch aufgesagt, die Kinderbücher erzählen von der heilen völkischen Welt. In den Gesprächen daheim nennen die Eltern den Staat und die Parteien "Feinde", sie schimpfen auf den "bösen Ami" oder höhnen über den "Judenfraß" der Schnellrestaurants. An den Wochenenden trifft man sich mit den anderen Familien bei Riegers
Langsam kommen die Zweifel
"Am Anfang meiner Ehe mit dem Privenau war ich noch eine überzeugte Nationalsozialistin", sagt sie heute. "Aber nach den ersten beiden Kindern mit ihm beschlichen mich Zweifel." Neben dem Bauernhof führt Tanja Privenau zusammen mit ihrer Mutter zwei Einzelhandelsgeschäfte mit mehreren Angestellten. Außerdem beginnt sie in dieser Zeit eine Ausbildung als Heilpraktikerin. "So abgeschottet war meine Welt also nicht, ich war keine dieser für völkische Familien so typische Hausfrau und Mutter. Aber das öffnete mir auch die Augen."
Ihr Mann kommt mit der selbstbewusster werdenden Ehefrau nicht klar. Er will, dass sie sich um "Scholle und Kinder" kümmert, er wettert gegen die verhasste, weil staatliche Kita der kleinen Kinder. Doch er muss klein beigeben, denn seine Frau ist die einzige Verdienerin in der Familie, seit er mit einem rechtsextremen Versandhandel gescheitert ist. Immer wieder kommt es zu Reibereien, weil Arbeit auf dem Hof oder im Haushalt liegenbleibt. Herr Privenau geht lieber seinen politischen Ideen nach. "Er wurde immer unbeherrschter, brüllte die Kleinen an, wenn sie was kaputt gemacht hatten oder am Tisch dazwischen quatschten, er fing an, meinen ältesten Sohn zu schlagen", erzählt sie.
Der älteste Sohn von Tanja Privenau ist behindert. Ihr Ehemann kann damit nicht umgehen,
Es ist das Jahr 2003. Sie will ihren Mann Markus überzeugen, mit ihr zusammen auszusteigen. Wieder gibt es endlose Debatten, schließlich scheint er nachzugeben. Als er meint, sie solle sich mal erkundigen, wie das ablaufen könnte, meldet sich Tanja in Köln beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Sie stellt Forderungen: Ausstieg der kompletten Familie, neue Identität und Wohnung im Ausland, Zeugenschutz. Die Verfassungsschützer sind skeptisch und ratlos. Die Privenaus gelten als große Nummer in der Szene, ihr Ausstieg wäre eine Sensation. Aber eine ganze Familie aus der Szene herauszuholen, das gab es noch nie. Das Bundesamt mietet für Tanja und ihre Kinder ein Feriencamp in den Niederlanden an. Die Saison ist vorbei, es ist leer dort. Drei Wochen harrt sie in der Bungalowsiedlung aus, immer wieder führt sie Gespräche mit anreisenden Verfassungsschützern. Weil diese ihr aber keine Zusagen machen können, reist sie wieder ab, nach Hause.
Der Ausstiegsversuch ist gescheitert, aber in der Ehe scheint es wieder besser zu laufen. Aus der politischen Arbeit zieht sie sich immer mehr zurück, obwohl sie mit dem Ausstiegsgedanken schon abgeschlossen hatte. Doch dann verschärft sich die Lage daheim wieder. Immer wieder kommt es zu Streitereien, ihr Mann – so erzählt es Tanja Privenau – schlägt sie und die Kinder. In einem späteren Sorgerechtsverfahren wird Markus Privenau das bestreiten. 2005 eskalieren die Auseinandersetzungen. "Er warf mir Verrat vor, weil ich aussteigen wollte, und drohte, mich umzubringen." Um ihn loszuwerden, zeigt sie ihren Mann schließlich bei der Polizei an wegen seiner angeblich illegalen Versandgeschäfte mit Neonazi-Klamotten und Rechtsrock-CDs. Und sie schmeißt ihn vom gemeinsamen Hof. "Die nächsten Monate waren die Hölle", erzählt sie. "Zwar ließ sich der Privenau nicht blicken, aber immer wieder tauchten seine Freunde vor unserem Hof auf, solche Schläger-Typen, sie filmten uns oder standen einfach nur rum, um uns Angst einzujagen." Ihre fünf Kinder trauen sich nicht mehr raus, ein halbes Jahr lang schlafen sie nachts alle in einem Zimmer des Hauses. "Wir hatten Äxte und Beile im Raum, um uns zu verteidigen." Sie schickt nun auch die Kleinen nicht mehr in die Kita, weil sie Angst hat, der Vater könnte sie entführen. Zwar fährt die Polizei häufiger Streife am Hof vorbei, aber so lange nichts passiert, können die Beamten auch nichts tun.
Der Ausstieg gelingt mit Exit
2005 schließlich rettet die Aussteigerinitiative Exit sie und die Kinder vor Markus Privenau und seinen rechtsextremen Kameraden. Endlich sind auch die Sicherheitsbehörden bereit, ihr zu helfen, statten sie, ihre Kinder und ihre Mutter mit einer neuen Identität aus und geben ihnen eine Wohnung in Sachsen. Tanja gibt dafür ihr Wissen über die Szene preis und unterstützt mit ihren Aussagen die Verbotsverfahren gegen den
Privenau und ihre Kinder müssen in den folgenden Jahren noch zweimal ihre Identität wechseln und umziehen, weil es den Rechten immer wieder gelang, sie zu finden. Wie? "Die rechte Szene ist ein Netzwerk, das seine Leute überall sitzen hat", sagt sie. "Ich weiß das. Ich habe ja lange genug selbst mitgearbeitet daran, Listen mit politischen Gegnern, Abgeordneten und Staatsanwälten zu erstellen." Und wenn, wie in ihrem Fall, zwar eine neue Identität vergeben, die alte Rentenversicherungsnummer aber beibehalten wird, dann kommt man ihr eben auf die Spur.
Inzwischen haben die Behörden daraus gelernt. Tanja und ihre Kinder haben nun eine Identität, die relativ sicher ist, und wohnen an einem geheim gehaltenen Ort. Hinter ihr liegt auch ein langer juristischer, letztlich aber erfolgreicher Kampf mit ihrem Ex-Mann um das Sorgerecht für die drei gemeinsamen Söhne. Markus Privenau darf die Kinder nicht mehr sehen und keinen Umgang mit ihnen haben. "Ich kann nun sagen, dass in diesem Jahr mein Ausstieg aus der Szene endlich abgeschlossen ist", sagt sie und fügt sarkastisch hinzu: "Zehn Jahre Ausstieg – das ist doch gar nicht mal schlecht, oder?" Ob sie sich nun endlich sicher fühle? Tanja Privenau zuckt mit den Achseln. Die Szene verfolge sie zwar nicht mehr mit solcher Intensität wie in den ersten Jahren. "Aber die Rachegelüste sind noch da. Man will mich bestrafen, auch als Abschreckung für die Szene."
Größere Sorgen als um sich selbst mache sie sich aber um ihre Kinder. Die drei Söhne waren nach der Flucht lange in psychotherapeutischer Behandlung. "Diese Behandlung hat ihnen sehr geholfen, mit ihrer zerrissenen Identität klarzukommen, mit dem, was sie von ihren großen Geschwistern gehört hatten über die Drohungen damals und die Gewalt in unserer Familie", sagt sie. Inzwischen führten sie das ganz normale Leben von Heranwachsenden und seien nun in einem Alter, wo sie die Möglichkeit haben, zu reflektieren. "Natürlich wird ihr Nazi-Vater für sie ein Thema bleiben, das soll auch gar nicht ausgebrannt werden", sagt sie. Aber sie können ihn nun mit ganz anderen Augen sehen. "Wir müssen eben klarkommen mit unserer Vergangenheit", sagt Tanja Privenau. "Und damit weiterleben."