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Hitlers "Mein Kampf" – ein unterschätztes Buch | Rechtsextremismus | bpb.de

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Hitlers "Mein Kampf" – ein unterschätztes Buch

Barbara Zehnpfennig

/ 14 Minuten zu lesen

Mit bemerkenswerter Offenheit hat Hitler sowohl seinen Antisemitismus als auch seine Weltherrschaftspläne in "Mein Kampf" ausgebreitet. Das allerdings habe kaum jemand richtig ernst genommen, erklärt Barbara Zehnpfennig in ihrer Analyse von Hitlers Buch.

Beliebte Lektüre unter Nationalsozialisten: Mitglieder des sogenannten Memelländischen Ordnungsdiensts lesen "Mein Kampf" (1939) (© picture-alliance)

Als Hitler nach seinem gescheiterten Putschversuch 1924 den ersten Teil seines Buches "Mein Kampf" verfasste, konnte er nicht ahnen, dass er schon neun Jahre später Reichskanzler sein würde. Ansonsten hätte er sich wohl nicht so freimütig über seine Weltanschauung, seine politischen Ziele und seine politischen Strategien geäußert. Leider blieb seine Offenherzigkeit folgenlos: Es gab zwar einige Warner, die darauf verwiesen, welche Gefahren durch Hitlers radikalen Antisemitismus und seine Eroberungspläne drohten. Ernst genommen wurde das Buch aber kaum, wohl weil man, ebenso wie bei der Person Hitlers, auch bei seinem Buch davon ausging, dass den Worten nicht unbedingt Taten folgen würden. Heute weiß man, welch furchtbarer Irrtum das war. Umso unbegreiflicher ist es, dass es noch immer ein weitverbreitetes Urteil ist, es lohne sich nicht, sich mit Hitlers Buch zu befassen.

Zugegebenermaßen gibt es Gründe, die Lektüre zu meiden: Der Stil ist schlecht, Hitlers Hasstiraden stoßen ab, das Buch ist mit fast 800 Seiten eine echte Prüfung für den Leser. Das immer wieder geäußerte Vorurteil, "Mein Kampf" sei wirr, voller Wiederholungen und inhaltlich banal, trifft aber schlicht nicht zu. Hitlers Gedanken sind vielmehr von großer Folgerichtigkeit, und dem unvoreingenommenen Leser eröffnet sich ein faszinierender Einblick in das Innenleben eines fanatisch glaubenden Menschen. Durch "Mein Kampf" versteht man den Zusammenhang zwischen Hitlers Weltanschauung und seiner politischen Praxis. Und man erkennt, dass diese Praxis ganz im Dienst der Weltanschauung stand, dass Hitler einer Mission zu folgen glaubte, als er sein Vernichtungswerk in Gang setzte.

Hitlers "Mein Kampf" – ein unterschätztes Buch

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Hitlers "Mein Kampf" – ein unterschätztes Buch

Mit bemerkenswerter Offenheit hat Hitler sowohl seinen Antisemitismus als auch seine Weltherrschaftspläne in "Mein Kampf" ausgebreitet. Das allerdings habe kaum jemand richtig ernst genommen, glaubt Barbara Zehnpfennig.

Entstehung und Wirkung

Den ersten Band seines Buches schrieb Hitler bekanntlich 1924 in der Landsberger Festungshaft; der zweite Band entstand nach seiner Freilassung in den Jahren 1925/26. Beide Bände wurden im Eher-Verlag zunächst getrennt publiziert, der erste 1925, der zweite 1926. Da der erste mit der Schilderung von Hitlers Werdegang sich deutlich besser verkaufte als der zweite, der primär die Entwicklung der NSDAP nachzeichnete, erlebte der erste Band mehr Auflagen als der zweite, bis 1930 beide Bände vereint in einer "Volksausgabe" erschienen. Einzel- und Gesamtausgabe wurden nun parallel auf den Markt gebracht; insgesamt wurden von "Mein Kampf" bis zur Machtübernahme 1933 ca. 240.000 Stück verkauft. Danach stieg die Zahl der Ausgabenvarianten (Leder, Dünndruck, Jubiläums-, Hochzeits-, Sonderausgaben etc.), die jeweils unterschiedliche Auflagenhöhen erreichten. Bis 1944, als die Produktion schließlich versiegte, sind rund 12,5 Millionen Exemplare von "Mein Kampf" gedruckt worden.

Wie viele von diesen Büchern allerdings auch gelesen wurden, ist umstritten. Dass all jene, die während der Herrschaft Hitlers anlässlich der Eheschließung oder anderer wichtiger Ereignisse mit einer Ausgabe von "Mein Kampf" beglückt wurden, sich mit dem Buch anschließend auch auseinandergesetzt hätten, lässt sich definitiv ausschließen. Immerhin galt es schon damals wegen der genannten Schwächen als unlesbar. So wenig, wie man Hitler vor 1933 als Person ernst nahm, so wenig ernst nahm man im Allgemeinen auch, was er an Programmatischem in "Mein Kampf" verkündete.

Zwar gab es durchaus Reaktionen auf "Mein Kampf" – seitens politischer Gegner, seitens christlicher Publizistik, seitens anderer gesellschaftlicher Gruppen wie der Gewerkschaften. Doch meist beschränkte sich die Rezeption auf einzelne Aspekte oder gar nur auf die biographischen Teile des Buches. Die 1932 veröffentlichte Schrift "Hitlers Weg" des Reichstagsabgeordneten Theodor Heuss setzte sich schon intensiver und auch durchaus kritisch mit dem Buch auseinander, verkannte aber die revolutionäre Dynamik, die ihm zugrunde lag. Heuss glaubte wie viele andere Bürgerliche, Hitler werde sich durch das parlamentarische Verfahren bändigen lassen.

Realistischere Einschätzungen fanden sich vor allem im Ausland. So gab es in den 1930er Jahren beispielsweise warnende Stimmen aus Österreich, der Schweiz und England, die auf das menschenrechtsverachtende Potential von Hitlers Rassismus und die erschreckende Systematik seines politischen Programms hinwiesen. Möglicherweise erlaubte der Blick von außen eine klarere Einschätzung dessen, was "Mein Kampf" ist und welche Bedeutung es für Hitlers politisches Vorgehen hat, als die deutsche Binnenperspektive. Auf jeden Fall haben diese frühen Warner in Hitlers Buch etwas gesehen, das in direktem Bezug zu Hitlers Vorgehen stand und von daher als Quelle für das Verstehen der Hitlerschen Politik von hohem Wert ist.

Diese Sicht wurde von der NS-Forschung nach dem Krieg in den meisten Fällen nicht geteilt. Zum einen hielt man es für eine Überschätzung der Bedeutung von Personen in der Geschichte, wenn man Hitler ins Zentrum des Geschehens rückte und sich von der Erforschung seiner Intentionen ein tieferes Verständnis des Nationalsozialismus versprach. Zum anderen fand man "Mein Kampf" im Allgemeinen so banal und wirr, dass eine intensivere Befassung nicht lohnte. Das ist auch heute noch ein verbreitetes Urteil, nicht selten von denen vertreten, die sich der Mühe einer eingehenden Lektüre gar nicht ausgesetzt haben. Bei einem Teil der Forscher zeichnet sich in den letzten Jahren aber doch ein gewisses Umdenken ab; so schöpft beispielsweise die Hitler-Biographie von Ian Kershaw intensiv aus Hitlers Bekenntnisschrift.

Dass die Befassung mit "Mein Kampf" überaus fruchtbar sein kann, wenn man verstehen will, was der Nationalsozialismus war, soll der folgende kurze Überblick über die Kerngedanken Hitlers zeigen. Wenn Hitler in seinem Buch seine eigene Entwicklung und die seiner Partei, der NSDAP, schildert, stilisiert er seine Biographie natürlich, und natürlich beschönigt er auch den Weg seiner Partei. Insofern darf man seinen Tatsachenbehauptungen nicht einfach vertrauen. Authentisch sind aber seine Gedanken, seine Urteile, seine Pläne. All das liefert reichlich Material, den Nationalsozialismus noch einmal unter veränderter Perspektive zu betrachten: unter der Perspektive derer, denen sich durch die Lektüre von "Mein Kampf" ein ganz neuer Zusammenhang des Ganzen erschließt.

Die Weltanschauung

Hitler verbindet in seiner Darstellung biographische und weltanschauliche Elemente. Das ist höchst aufschlussreich, weil man so mitverfolgen kann, wie eine Verschwörungstheorie entsteht. Hier soll jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit die Weltanschauung für sich vorgestellt werden. Hitlers Erfahrungshintergrund ist ein zerfallendes multikulturelles Reich: das der Habsburger-Monarchie. Die Nationalitätenkämpfe in Österreich-Ungarn drohen das Reich zu zersprengen, und in Hitlers Wahrnehmung richtet sich die Hauptaggression gegen die Kultur, die das Reich bisher trug, nämlich die deutsche. Zu dieser äußeren Bedrohung gesellt sich noch eine innere: Die soziale Frage spaltet die Gesellschaft und schwächt sie von innen. Es gibt allerdings eine Kraft, die sich die Situation zunutze macht. Das ist die marxistisch orientierte Sozialdemokratie, die in den Augen Hitlers die sozial Deklassierten gegen die Besitzenden aufhetzt und gegen die eigene Nation agitiert.

Das ist Hitler als glühendem Nationalisten ein Dorn im Auge. Zugleich erkennt er den Zusammenhang zwischen sozialer Frage und nationaler Orientierung: Die Nation kann die ihr Angehörenden nur an sich binden, wenn sie sich in sozialer Hinsicht auch um sie kümmert. Hitlers Nationalsozialismus zieht daraus die Konsequenz: Eine entschiedene Sozialpolitik ist die Voraussetzung für jene Nationalisierung der Massen, die Hitler für seine weiteren Pläne braucht. Mit entschiedener Sozialpolitik kann man, wie er glaubt, auch den Marxisten ihre Anhänger abspenstig machen. Und darum muss es gehen, denn im Marxismus sieht Hitler eine Ideologie, die dem Menschen den Untergang bringt, sollte sie sich wie geplant weltweit durchsetzen.

Der Marxismus ist für Hitler eine Lehre aus Lüge und Hass, weil er ein Reich der Freiheit und Gleichheit verspricht, das es nie geben wird, und weil er alle Werte, nicht zuletzt den der Nation, in den Schmutz zieht, da diese Werte angeblich nur die Herrschaftsverhältnisse stabilisieren. Der Marxismus leugne den Wert der Persönlichkeit, töte durch seinen Materialismus allen Idealismus ab und vernichte durch seine Gleichmacherei alle kulturellen Unterschiede. Sollte es tatsächlich zur geplanten Weltrevolution kommen, dann, so prophezeit Hitler, werden zunächst nach bolschewistischem Vorbild überall die geistigen Eliten umgebracht. Weil das kommunistische Regime aber keine Schöpferkräfte habe, werde es in der Folge das Übernommene nur aufzehren, ohne selbst etwas hervorzubringen, und am Ende alles dem Untergang weihen.

Im Marxismus sieht Hitler also das Anti-Nationale, ja, das Anti-Menschliche schlechthin. Wer aber, fragt er sich, denkt sich so etwas wie den Marxismus aus? Wer hat ein Interesse daran, die Nationen zu zerstören und die Menschen gleich und damit klein zu machen? Hitler glaubt, zur Ursache des Übels durchgestoßen zu sein, als er "entdeckt", dass die Führer der marxistischen Sozialdemokratie Juden sind. Nimmt man die jüdischen Theoretiker des Sozialismus sowie die jüdischen Aktivisten der Münchener Räterepublik und der bolschewistischen Regierung noch dazu, lässt sich daraus, wenn man so Ressentiment-geladen ist wie Hitler, eine umfassende Verschwörungstheorie konstruieren.

Dieser Theorie zufolge gibt es eine vollständige Übereinstimmung zwischen den jüdischen Interessen und der marxistischen Ideologie. Die Juden – hierin folgt Hitler den zu seiner Zeit verbreiteten Stereotypen – seien ein Volk mit zähem Überlebenswillen. Daran hätten auch zweitausend Jahre des Lebens in der Diaspora nichts ändern können. Sie würden sich als Religionsgemeinschaft tarnen, seien aber tatsächlich eine völkische Gemeinschaft. Ihre Religion kenne keine Transzendenz und sei nur auf irdischen Besitz ausgerichtet. Da die Juden zu materialistisch und zu egoistisch seien, um sich einen eigenen Staat zu erkämpfen, schlichen sie sich in andere Völker ein, um diese auszubeuten und von innen her zu zersetzen. Für Hitler sind die Juden untereinander einig, spalten aber ihre Gastvölker. Sie wollten herrschen, aber nicht dafür kämpfen. Deshalb bleibe ihnen nur, die, die stark sind, zu schwächen. Dazu bedienten sie sich zweier erprobter Mittel: Geist und Geld.

Hier erreicht Hitlers Verschwörungstheorie nun ihren Höhepunkt: Mit ihrer Geldmacht brächten die Juden die entscheidenden Kräfte einer Gesellschaft in ihre Abhängigkeit. Außerdem beförderten sie z. B. mit dem Kapitalismus die Lust am Wohlleben, weil sie wüssten, dass sie ihre Gegner damit kampfes- und wehruntauglich machen. Ihre noch gefährlichere Waffe sei aber ihre zersetzende Intellektualität. So erfänden sie Ideologien, die den Kampf als etwas moralisch zu Ächtendes darstellen: den Liberalismus, der an die Stelle des Kampfes den wirtschaftlichen Wettbewerb setzt, den Internationalismus, der die Völkerverständigung predigt, den Pazifismus, der den Krieg ganz aus der Welt schaffen will. Ihre geschichtlich letzte und gefährlichste Waffe aber sei der Marxismus. Mit ihm setzten sie zum Sprung auf die Weltherrschaft an – mit dem Versprechen einer weltweiten Menschengemeinschaft, die keine Unterschiede und keine Herrschaft mehr kennt und in der aller Kampf ein Ende hat. Tatsächlich ginge es ihnen aber nur darum, die anderen Völker zu nivellieren, um aus ihnen eine Sklavenherde zu machen. Dann könnten sie, ohne selbst kämpfen zu müssen, die Macht ergreifen und damit jener biblischen Verheißung Genüge tun, die ihnen, dem auserwählten Volk, die Erde versprochen hat.

Das also sind Hitlers Zukunftsängste. Doch wieso wollte Hitler, als er dann an die Macht gelangt war, gegen die Juden nicht so kämpfen wie er gegen seine anderen politischen Gegner oder gegen die anderen Völker focht? Weshalb glaubte er, ein ganzes Volk ausrotten zu müssen? Auf diese für das Verständnis des Nationalsozialismus entscheidende Frage gibt es zwar keine direkte Antwort in "Mein Kampf". Sie lässt sich jedoch erschließen.

Für Hitler sind die Juden das Volk, das die natürliche Ordnung stört. Nach seiner Theorie herrscht in der Natur der Kampf ums Überleben, und da der Mensch ein Teil der Natur ist, muss er sich ihren Gesetzen fügen. Dass die Natur den Kampf gebietet, hat zwei Gründe. Erstens schafft der Kampf Ordnung. Durch den Kampf stellt sich nämlich Unter- und Überordnung her, das Schwächere unterliegt dem Stärkeren. Solche Ordnung ist überlebensnotwendig, denn nur ein System mit Struktur hat Bestand; ein chaotisches löst sich auf. Zweitens sorgt der Kampf für Fortschritt. Jeder, der kämpft, muss sich anstrengen, über sich hinauswachsen. Außerdem bewirkt der Kampf eine Auslese: Nur das Bessere kann sich durchsetzen. Indem die Natur den Kampf gebietet, sorgt sie also für das Überleben des Ganzen und für dessen Fortentwicklung. Die Aufhebung des Kampfes bedeutet demnach Chaos und Stagnation beziehungsweise Niedergang.

Das Kampfprinzip gilt in der gesamten Natur. Wie definieren sich aber beim Menschen die kämpfenden Einheiten? Im Zeitalter der Nationalitäten verläuft die Kampflinie im Allgemeinen entlang der Nationen. Doch hier gibt es gemäß Hitlers Theorie ein Problem: Was ist, wenn sich in die Nation fremde Elemente eingeschlichen haben, die sich als solche nicht unbedingt zu erkennen geben? Die innere Einheit ist für den Kampf unerlässlich, denn man stirbt nur für Seinesgleichen, nicht für Fremdes. An dieser Stelle kommt nun die Rassentheorie ins Spiel. Gesucht ist ein Merkmal, nach dem die Zugehörigkeit eines Menschen zur Gruppe der ihm Gleichen festgestellt werden kann, ohne dass dieses Merkmal von außen manipuliert werden könnte. Dieses Merkmal findet Hitler in der "Rasse", die, anders als etwa die Religionszugehörigkeit, dem Menschen von Natur aus eigen und ein für alle Mal festgelegt ist.

Die Rassentheorie ist demzufolge Teil von Hitlers Kampfesideologie; Letztere bildet das absolute Zentrum seiner Weltanschauung. Was ist nun mit Rasse gemeint? Rassentheoretiker wie Gobineau und Chamberlain hatten die Menschheit in verschiedene, physisch erkennbare "Rassen" wie z. B. Germanen, Kelten, Arier, Juden etc. eingeteilt und ihnen unterschiedlichen Wert beigemessen, wobei sich dieser Wert nach der jeweiligen Kulturleistung bemaß. Mit den biologischen Unterschieden wollte man also kulturelle erklären und die Ansicht legitimieren, dass die Kulturen nicht gleichrangig sind. Auch für Hitler stehen "Rasse" und Kultur in untrennbarem Zusammenhang: Ihm zufolge gibt es kulturschöpferische "Rassen" (vor allem die "Arier"), kulturtragende, also solche, die eine übernommene Kultur fortführen können (z. B. die Japaner) und kulturzerstörende (die Juden).

Was für Hitler neben der Kulturleistung aber vor allem wichtig ist an der "Rasse", ist ihre vermeintliche Fähigkeit, ein Volk innerlich einheitlich zu machen. In der "Rassen"reinheit sieht er den Weg zur seelischen Einheit, und diese Einheit der Seele, diese Einheit des Willens erscheint ihm für den Kampf mit anderen Völkern, anderen "Rassen" unabdingbar. So deutet Hitler auch die gesamte Geschichte als Geschichte von "Rassen"kämpfen. Diese Kämpfe seien aus den genannten Gründen im Sinne der Natur und könnten ewig weitergehen – wenn sich nicht die "Rasse" des Verderbers in das Geschehen eingemischt hätte und das natürliche System zu zerstören drohte. Deshalb glaubt Hitler: Als politischer Gegner sind die Juden nicht zu bekämpfen, denn sie selbst stellen nur die Führungsschicht der Sozialisten und Kommunisten und lassen die gutgläubigen Massen für sich kämpfen. Als Volk sind die Juden auch nicht zu bekämpfen, denn sie haben keinen Territorialstaat und sind mit ihren "Gastvölkern" zum Teil regelrecht verschmolzen. Auch als Religionsgemeinschaft sind sie nicht zu bekämpfen, denn viele von ihnen haben sich taufen lassen. Nur wenn man sie als "Rasse" bekämpft, wird man ihrer habhaft werden.

Doch immer noch stellt sich angesichts der späteren Praxis, angesichts des Holocaust die Frage: Warum genügte es Hitler nicht, die Juden zu bekämpfen? Warum glaubte er, sie ausrotten zu müssen? Die Antwort liegt wohl darin, dass er das ihnen unterstellte Denken aus der Welt schaffen wollte – jene Ächtung des Kampfes, die in Theorien wie dem Internationalismus oder Marxismus angelegt ist. Hitler glaubte, dass die Juden solche Theorien vertreten müssten, weil es für sie nur einen einzigen Weg zur Macht gäbe: die Demoralisierung derer, die bereit sind, sich dem offenen Kampf zu stellen. Und weil er glaubte, dass ihnen dieses Denken wesensmäßig eigen ist, dachte er wohl, dieses Denken nur vernichten zu können, indem er seine Träger ermordet. Das ist zumindest der Schluss, den seine Bekenntnisschrift "Mein Kampf" nahelegt.

Das politische Programm

"Mein Kampf" enthält nicht nur Hitlers Weltanschauung, sondern auch den Plan, nach dem Hitler sein Denken in die Tat umzusetzen gedachte. Auch hier überrascht die Systematik und, in Kenntnis der weiteren Geschichte, die Tatsache, in welchem Umfang Hitler seinem Plan später folgte. Natürlich konnte er nicht alle Umstände, auf die er treffen würde, voraussehen und musste sich mitunter mit den Verhältnissen arrangieren. Aber auch das steht schon in "Mein Kampf": Kompromisse kann man bei der Wahl der Mittel immer eingehen, niemals aber bei der Verfolgung des großen Ziels.

Zunächst einmal musste natürlich die Macht errungen werden, und zwar durch intensive Propagandaarbeit für die NSDAP, durch Provokation des Gegners und durch Ausschaltung von Konkurrenten, etwa aus der völkischen Szene. Vor allem mussten die angeblich durch den Marxismus verblendeten Massen für die nationalsozialistische Sache gewonnen werden, und zwar durch eine Weltanschauung, die dem Marxismus inhaltlich entgegengerichtet war, die Menschen aber ebenso zu begeistern vermochte. Die "Herrschaft über die Köpfe" war Hitler das Wichtigste. Alles andere würde daraus folgen.

Nach der Machtübernahme sollte ein innenpolitischer Fahrplan greifen, anschließend sollte ein außenpolitisches Programm durchgeführt werden. Das Ziel der Innenpolitik sollte es sein, das deutsche Volk zu einen, um es für den entscheidenden Kampf zu präparieren. Das Ziel der Außenpolitik bestand in der Eroberung von Lebensraum im Osten, den sich das deutsche Volk nach Hitler dann verdient haben würde, wenn es seine ihm von der Vorsehung zugedachte Mission – den Kampf gegen den "Verderber der Menschheit" – erfüllt hätte.

Für die innere Homogenisierung des deutschen Volkes war die erste wichtige Maßnahme eine Sozialpolitik, die den Menschen Liebe zur eigenen Nation einflößte und die Spaltung zwischen Arm und Reich minderte. Durch Vermittlung des nationalsozialistischen Weltbilds sollten vor allem Kinder und Jugendliche von Anfang an auf die Gemeinschaft eingeschworen werden. Politisch musste natürlich der Pluralismus, das heißt das Mehrparteiensystem abgeschafft werden. Auch gesellschaftlich galt es, Pluralität auszuschalten. So sollte es keine selbständigen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mehr geben und auch keinen echten Föderalismus; die Aufgabe der Länder sollte sich auf Kulturelles beschränken. Durch den gemeinsamen Dienst im Heer sollten landsmannschaftliche Unterschiede an Bedeutung verlieren. Die "rassische" Reinheit sollte durch eugenische Maßnahmen, durch Rassengesetze und ein neues Staatsbürgerrecht forciert werden. Alle diese Maßnahmen sind in "Mein Kampf" schon aufgeführt, und hier wird auch klar, wozu sie dienen sollten.

Dass all dies nur mittels einer Organisation von Politik und Gesellschaft gemäß dem Führerprinzip zu erreichen sein würde, sagt Hitler sehr deutlich. Wenn Hitler damit auch das Bild des totalen Staates zeichnet, macht er doch immer wieder klar, dass dieser Staat kein Selbstzweck ist. Der Staat ist für ihn das Gefäß der "Rasse"; und die arische "Rasse", speziell ihr edelster Teil, das deutsche Volk, habe die Aufgabe, den Endkampf gegen den "Feind der Menschheit" zu führen.

Ist das deutsche Volk innerlich geeint, kann es den Weg zur expansiven Selbstbehauptung beschreiten. Der erste Schritt in diese Richtung sollte die Wiederbewaffnung sein. Diese verstieß zwar gegen den Versailler Vertrag, Hitler glaubte aber, dass man sie einer willensstarken, geeinten Nation auf Dauer nicht verbieten könne. Der nächste Schritt bestand in der Gewinnung von Bündnispartnern für den kommenden Krieg. Hitlers Wunschpartner waren Italien und England. Italien war bereits faschistisch und erschien aufgrund seiner mittelmeerischen Konkurrenz gegenüber dem deutschen "Erbfeind" Frankreich besonders geeignet für die Umsetzung der deutschen Pläne. Bei England hoffte Hitler darauf, dass dessen traditionelle Gleichgewichtspolitik Anlass sein könnte, Deutschland gegen Frankreich stark zu machen, wenn dieses zum Ausgleich dafür auf Seegeltung verzichtete. Bekanntlich war das eine der großen Fehlkalkulationen Hitlers. Durch die Bündnispartner gestützt, wollte Hitler schließlich den Feldzug gegen Frankreich unternehmen, um die Westflanke Deutschlands zu sichern. Anschließend sollte der Lebensraum im Osten erobert werden, wobei Hitler keinen Zweifel daran ließ, dass dies Russland einschließen sollte.

Auf welche Weise in diesem Gesamtplan der Kampf gegen die Juden durchgeführt werden sollte, dazu äußert sich Hitler in "Mein Kampf" nicht konkret. Es ist auch nicht sicher, dass er zur Abfassungszeit des Buches bereits zur vollständigen Auslöschung des jüdischen Volkes entschlossen war. In der Logik seines Denkens ist der Judenmord allerdings schon angelegt. Das große Ziel, das man verfolgt, solle man dem Volke nicht verkünden, weil man die kleinen Geister damit verschrecken würde, schrieb Hitler in "Mein Kampf" und empfahl, das große Ziel in kleine Etappenziele zu zerlegen, deren Sinn nur der erkenne, der das Endziel im Blick hat. Es ist also denkbar, dass Hitlers Zurückhaltung in Bezug auf die Verkündung des Judenmords hierin ihren Grund hat. Doch wie immer das einzuschätzen ist – dass die "Judenfrage" Hitler bis zum letzten Atemzug beschäftigt hat, steht außer Zweifel. Kurz vor seinem Selbstmord verfasste Hitler ein "politisches Testament", in dem er die Deutschen noch einmal auf ihre Mission einschwört: nämlich diese Frage, die "Judenfrage", einer endgültigen Lösung zuzuführen.

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Dr. phil., geb. 1956; Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau, Philosophicum, Innstraße 25, 94032 Passau. E-Mail Link: barbara.zehnpfennig@uni-passau.de