Täglich ereignen sich in Deutschland mindestens zwei bis drei rassistisch, rechts oder antisemitisch motivierte Gewalttaten, fast immer in alltäglichen Situation: Auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeitsstelle, in Bahnhofsunterführungen, vor der eigenen Haustür, in der Disco, im Jugendklub, beim Einkaufen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln und Grünanlagen. Besonders betroffen sind Flüchtlinge, Migranten, schwarze Deutsche, nicht-rechte und alternative Jugendliche und junge Erwachsene sowie Wohnungslose und Menschen, die sich sichtbar gegen Neonazis und Rassismus engagieren.
So unterschiedlich die Opfer, die Umstände und die Folgen der jeweiligen Gewalttat sind, so verschieden und gegensätzlich können danach auch die Wünsche und Bedürfnisse der Angegriffenen ausfallen. Die folgende Zusammenstellung ist daher nur ein Ausschnitt häufig geäußerter Wünsche: Die Betroffenen wollen nie wieder einen Angriff erleben und dass Polizei und Justiz ihren Aussagen Glauben schenken. Fast alle wollen, dass den Tätern und Täterinnen gezeigt wird, dass ihre menschenverachtenden Taten nicht folgenlos bleiben. Sie wünschen sich, dass die rechte, rassistische oder antisemitische Motivation der Angreifer auch als solche erkannt wird. Manche Betroffene möchten zunächst einmal nichts weiter mit dem Geschehen zu tun haben, andere hingegen so schnell wie möglich über den Verlauf des Ermittlungs- und Strafverfahrens informiert werden. Manche wollen die Öffentlichkeit über ihren Fall und die rechten Hintergründe informieren. Andere hingegen wünschen sich, dass nicht ständig darüber gesprochen wird. Viele Betroffene erhoffen sich ein Eingeständnis, eine Erklärung und eine ehrliche Entschuldigung der Täter. Die Angegriffenen verlangen, dass die Tatverdächtigen von Justiz und Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden und damit einhergehend eine Garantie, dass die Täter die Angriffe nicht wiederholen. Sie wünschen sich, dass materielle Schäden schnell und unbürokratisch behoben werden und dass sie vor Ort nicht alleine gelassen, sondern unterstützt werden – von Freunden, Nachbarn und Kommunalpolitikern.
Oft fühlen sich Opfer von rassistisch und politisch rechts motivierten Gewalttaten, aber auch deren Angehörige und Freunde, überwältigt von den vielen Fragen und Ängsten, die mit dem Erlebten einhergehen: Wie soll ich in Zukunft zur Schule kommen, wenn ich im Bus dorthin von einem rassistischen Schläger angegriffen wurde? Wie verläuft ein Strafverfahren und wer begleitet mich, wenn ich bei der Polizei oder vor Gericht aussagen muss? Wer hilft mir bei der Suche nach einer neuen Wohnung, wenn Neonazis meine Haustür eingetreten haben? Wie soll ich zur Arbeit kommen, nachdem Neonazis die Scheiben meines Autos eingeschlagen und ätzende Flüssigkeit im Wageninneren versprüht haben? Wovon soll ich leben, wenn ich vor meinem Schnellimbiss zusammengeschlagen oder mein Imbisswagen durch einen Brandanschlag zerstört wurde? Wer bezahlt die Kosten meines Rechtsanwalts? Und wer hilft mir, wenn die Kopfschmerzen und Albträume nicht mehr weggehen, die mich jede Nacht aus dem Schlaf schrecken lassen, seitdem mich eine Gruppe von fünf jungen Männern in der Disco bedroht und rassistisch beschimpft hat?
Spezialisierte und unabhängige Beratungsangebote
In den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie in Berlin werden Opfer politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalt seit mehr als zehn Jahren von unabhängigen Beratungsprojekten bei allen Folgen derartiger Angriffe unterstützt. Auch Zeugen von Angriffen sowie Angehörige und Freunde von Betroffenen finden in spezialisierten Beratungsstellen Hilfe und Begleitung. Seit einigen Jahren gibt es auch in den meisten westlichen Bundesländern spezialisierte Beratungsprojekte, die allerdings finanziell und personell schlechter ausgestattet sind.
Die Beratung in den unabhängigen und spezialisierten Projekten ist an sechs wesentlichen Prinzipien ausgerichtet: Sie ist immer freiwillig und vertraulich, sie orientiert sich an den Bedürfnissen der Betroffenen, ist kostenlos und erfolgt auf Wunsch auch anonym. Und sie ist parteilich, d.h. die Beraterinnen und Berater stehen auf der Seite der Opfer – auch wenn beispielsweise die Täter einen Angriff bestreiten, wenn Polizeibeamte oder Medien von einem anderen Tathergang berichten oder den Betroffenen eine (Mit-)Verantwortung für den Angriff zuschreiben. Zudem können die Betroffenen den Ort der Beratung selbst bestimmen.
Bei einem Erstberatungsgespräch werden die drängendsten Fragen besprochen: Beispielsweise, wie und ob eine Anzeige gegen den oder die Angreifer gestellt wird und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Oder welche Rechte Opfer und Zeugen in einem Strafverfahren haben, wenn schon Anzeige – unter Umständen auch von Amts wegen – erstattet wurde. Aber auch, wie man sich vor einem erneuten Angriff schützen kann.
Begleitung zur Polizei, vor Gericht oder im Alltag
Auf Wunsch begleiten die Berater die Betroffenen zur Anzeigenaufnahme oder zur Zeugenvernehmung bei Polizei und Staatsanwaltschaften. Sie organisieren Dolmetscher und informieren über das Recht von Opfern, nach einer Gewalttat als Nebenkläger oder -klägerin aktiv in einem Ermittlungs- und Strafverfahren vertreten zu sein. Wenn es zu einem Gerichtsverfahren gegen den oder die mutmaßlichen Täter kommt, besprechen die Berater mit den Betroffenen die Situation vor Gericht. Auf Wunsch begleiten sie die Betroffenen zum Prozess und informieren Medien und die Öffentlichkeit über das Gerichtsverfahren. Und sie unterstützen die Betroffenen dabei, Anträge auf Zuschüsse für Anwaltskosten u.a. bei der „Stiftung contra Rechtsextremismus und Gewalt" des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) oder dem „Weissen Ring“ zu stellen und Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche geltend zu machen.
Neben den rechtlichen Fragen sind es oft Alltagsprobleme, in denen sich die Angegriffenen professionelle Begleitung und Unterstützung wünschen: beispielsweise beim Besuch von Fachärzten, bei der Suche nach professioneller (psycho-)therapeutischer Hilfe, bei Verhandlungen mit dem Jobcenter oder der Ausländerbehörde über einen Wohnortwechsel oder mit Vermietern. Wie so eine Hilfe aussehen kann, erläutern die folgenden drei Beispiele.
Hoyerswerda: Unterstützung beim Umzug
Zwei Dutzend Neonazis stürmen am Abend des 17. Oktober 2012 das Wohnhaus in Hoyerswerda, in dem Monique und Ronny (Namen geändert) leben. Die Angreifer rufen „Komm raus, du Antifa-Sau“, drehen den Strom auf der Etage des Paares ab und versuchen dann, deren Wohnungstür einzutreten. Sie drohen: „Ich bin heute hier, um dich zu vergewaltigen.“ Die Betroffenen wählen den Polizeinotruf 110, doch den Beamten gelingt es über mehrere Stunden lang nicht, die Neonazis vom Wohnhaus zu vertreiben und deren Personalien festzustellen. Zeugen berichten, die Neonazis hätten die Polizisten einfach ausgelacht, als diese nach Personalausweisen fragten. Weil sie sich in Hoyerswerda (Sachsen) nicht mehr sicher und geschützt fühlen, verlassen Monique und Robert daraufhin am kommenden Morgen die Stadt. Die Opferberatung der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen unterstützte das Paar bei der Suche nach einem sicheren Wohnort und der Suche nach neuen Arbeitsplätzen. Auf Wunsch der Betroffenen informierte die Beratungsstelle Journalisten und begleitete Ronny und Monique auch zu dem Prozess gegen acht Neonazis, der knapp eineinhalb Jahre nach dem Angriff im Januar 2014 am Amtsgericht Hoyerswerda stattfand.
Bernburg: Hilfe nach rassistischem Angriff
Der Angriff am Bahnhof von Bernburg (Sachsen-Anhalt) trifft Abdurrahman E. kurz vor Feierabend: Gegen 21 Uhr am 21. September 2013 ist der 34-Jährige gerade dabei, den „Alibaba-Imbiss“ zu schließen, als neun Neonazis, fast alle vorbestraft, aus einem Regionalzug aussteigen und sofort seine Lebensgefährtin als „Türkenschlampe“ und „Fotze“ beschimpfen. Vergeblich versucht Abdurrahman E. die Männer zu beruhigen. Einer der Angreifer wirft ihm unvermittelt eine Bierflasche an den Kopf, dann schlagen ihn mindestens vier Neonazis unter Rufen wie „Scheißtürke“ zu Boden und treten und schlagen abwechselnd auf seinen Kopf ein. Als die Angreifer endlich aufhörten, haben sie Abdurrahman E. mehrere Schädelbrüche und schwere Augenverletzungen zugefügt. Abdurrahman E. liegt mehrere Wochen im Koma, aber er überlebt und kann im Frühjahr 2014 als Zeuge im Prozess gegen die Angreifer am Landgericht Magdeburg aussagen. Dort werden vier der Angreifer im Mai 2014 zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt, fünf Angreifer spricht das Gericht frei. Beraterinnen der Mobilen Opferberatung in Sachsen-Anhalt begleiten Abdurrahman E. und seine Lebensgefährtin im Prozess und unterstützen ihn auch bei seiner Forderung nach einem Revisionsverfahren mit einem Spendenaufruf, der die Kosten eines neuen Prozesses decken soll.
Regensburg: Den Tätern Grenzen setzen
„Keine Bedienung für Neonazis“ heißt eine preisgekrönte Initiative aus Regensburg, die nach einem Angriff von Neonazis auf den Barkeeper einer beliebten Gaststätte in der Regensburger Innenstadt startete. Die Neonazis hatten den Barkeeper im Juni 2010 im Schankraum zusammengeschlagen, weil er am Tag zuvor einer afrodeutschen Frau zu Hilfe gekommen war, die von den Neonazis bedrängt worden war. Nach dem Angriff wollte der Gastwirt den noch auf freien Fuß befindlichen Angreifern Hausverbot erteilen. Auf seine Angst vor der Rache der Täter reagierte die Beraterin des bayrischen Beratungsprojekts B.U.D. mit dem Vorschlag für die Initiative „Keine Bedienung für Neonazis“. Andere Gastwirte und Vereine solidarisierten sich über diese Initiative mit dem Opfer und zeigten den Tätern so ihre Grenzen auf. Mittlerweile unterstützen 130 Regensburger Gastwirte die Initiative, die in zahlreichen anderen Städten und Bundesländern aufgegriffen worden ist.
Noch kein flächendeckendes Angebot
Seit ab 1998 bzw. 2001 in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie ab 2007 in den alten Bundesländern unabhängige Beratungsstellen aufgebaut wurden, sind mehrere tausend Opfer rechter und rassistischer Gewalt sowie Angehörige und Freunde der Betroffenen sowie Zeugen und Zeuginnen effektiv begleitet und unterstützt worden. Für diese Opfer neonazistischer Angriffe und rassistischer Gelegenheitstäter hat das zum Beispiel konkret bedeutet: Durch kompetente Rechtsanwältinnen und -anwälte in Strafprozessen gegen die Täter und Täterinnen vertreten zu werden; bei der Anzeigenaufnahme und Zeugenvernehmungen bei Polizei und Staatsanwaltschaften der eigenen Perspektive und rechten oder rassistischen Hintergründen Gehör zu verschaffen; mit Hilfe von Spendenkampagnen den eigenen Arbeitsplatz nach einem Brandanschlag wieder aufzubauen; Hilfe bei der Auseinandersetzung mit Jobcentern und Ausländerbehörden zu erhalten; sicheren Wohnraum nach Überfällen auf die eigene Wohnung zu finden; als Asylsuchende Umverteilungsanträge aus so genannten „Dschungel-Heimen“ in größere Städte durchzusetzen; therapeutische Behandlung in der Muttersprache zu erhalten; die eigene Perspektive auch öffentlich den oftmals die Realität verzerrenden Darstellungen von Polizei bzw. Täter entgegen setzen zu können. Kurzum: Nicht mehr alleine gelassen zu sein bei der Bewältigung von materiellen und immateriellen Folgen der Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen und vielfältige Handlungsoptionen zu deren Überwindung zur Verfügung zu haben.
Unverzichtbare Unterstützung
In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, „dass die professionelle Unterstützung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt – wie sie durch die Opferberatungen in freier Trägerschaft geleistet wird – unverzichtbar ist“, stellten die Abgeordneten im Bundestagsuntersuchungsausschuss zum "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) im gemeinsamen Abschlussbericht zur Arbeit der Projekte fest, die vom Bundesfamilienministerium und den Ländern finanziert werden. „Die Ausrichtung und Professionalität der ostdeutschen Projekte in freier Trägerschaft habe Vorbildcharakter“, heißt es im Bericht. Konkret regten die Abgeordneten an, mehr Mittel für die Opferberatungsprojekte zur Verfügung zu stellen, um die erheblichen Lücken in den Unterstützungsangeboten in den westlichen Bundesländern zu schließen. Denn noch immer findet lediglich ein Bruchteil der vielen Opfer rechter und rassistischer Gewalt angemessene und professionelle Unterstützung und Beratung.
Insbesondere in den westdeutschen Bundesländern sind es die sehr selbstbewusst agierenden, militanten Aktivisten und Aktivistinnen der Freien Kameradschaften und Autonomen Nationalisten, die als Täter und Täterinnen sowohl bei Angriffen gegen „politische Gegner“ als auch gegen Flüchtlinge und Wohnungslose auffallen. Dementsprechend ist – auch im Zusammenhang mit der aktuellen Welle rassistisch motivierter Gewalttaten gegen Flüchtlinge und (geplante) Flüchtlingsunterkünfte – in den westlichen Bundesländern und insbesondere in den ländlichen Regionen der Bedarf an flächendeckender, spezialisierter und unabhängiger Beratung für die Betroffenen erheblich gestiegen. Im Gegensatz zur allgemeinen Gewaltkriminalität richtet sich politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalt nicht gegen die jeweils angegriffene Person als Individuum. Sie richtet sich gegen eine bestimmte Gruppe, die im rechten Weltbild als „minderwertig“ oder „lebensunwert“ abgewertet wird und für die das Opfer stellvertretend steht. In Gerichtsprozessen wird die nonverbale Botschaft, die mit den Taten verbunden ist, von den Tätern oft durch Aussagen wie „Wir wollten den Asylanten zeigen, dass sie hier unerwünscht sind“ bekräftigt. Dabei ist es im Übrigen unerheblich, ob die Täter und Täterinnen ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Die Angreifer sehen sich vielfach als vermeintliche „Vollstrecker des Volkswillen“ und spekulieren auf Zustimmung aus der Bevölkerung. Da viele (potenziell) Betroffene auch im Alltag soziale, politische und gesellschaftliche Diskriminierung und Ausgrenzung erleben, kann ein politisch rechts oder rassistisch motivierter Angriff ihre Wahrnehmung verstärken, als Mensch fundamental abgelehnt zu werden. Um diese Erfahrungen von Ohnmacht und Gewalt zu überwinden, setzen die spezialisierten Beratungsprojekte auf professionelle Unterstützung und Solidarität vor Ort.