Jan Opielka im Gespräch mit Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe und Fachreferentin für Wohnen, Frauen und Gesundheit und Benjamin Giffhorn, Fachreferent-Assistent der Geschäftsstelle der BAG Wohnungslosenhilfe und zuständig für das Thema Gewalt gegen Wohnungslose.
Frau Rosenke, Herr Giffhorn, in den Stellungnahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist nicht nur von physischer Gewalt, sondern auch von der Vertreibung aus dem öffentlichen Raum als Gewaltform die Rede. Wie äußern sich diese Gewaltakte gegen Wohnungslose?
Benjamin Giffhorn: Wir unterschieden zunächst zwischen direkter Gewalt einerseits und struktureller Gewalt auf der anderen Seite. Erste umfasst laut Strafgesetzbuch vor allem körperliche Gewalt, Bedrohungen oder Beleidigungen durch individuelle Täter. Die strukturelle Gewalt hingegen beinhaltet den Ausschluss von Wohnungslosen von grundlegenden Bedürfnissen, etwa dem Gesundheitssystem, aber auch dem öffentlichen Raum oder der öffentlichen Infrastruktur. Teilweise werden diese Menschen dabei von der Polizei, von Ordnungskräften oder Geschäftsleuten diskriminiert, die nicht wollen, dass sich Wohnungslose in der Innenstadt oder in der Nähe von Einkaufsstraßen aufhalten.
Was liegt dieser Gewalt gegen Wohnungslose zu Grunde und wer sind die Täter?
B. G.: Es gibt sowohl Gewalt von Wohnungslosen gegen andere Wohnungslose, als auch Gewalt, die von Nicht-Wohnungslosen ausgeht. Gewalt zwischen Wohnungslosen geschieht häufig aus unbedeutenden Anlässen oder Streitereien, die sich hochschaukeln. Die dahinter liegenden Ursachen sind psychische Belastungen, die Alkoholgefährdung und gewaltgeprägte Biographien. Es sind häufig Einzeltäter, meist gegen Gleichaltrige in der gleichen Straßenszene oder im Wohnungslosenheim, in dem Täter und Opfer unterkommen.
Was kennzeichnet die Täter, die selbst nicht wohnungslos sind?
B. G.: Es sind vor allem jüngere Männer und Jugendliche, die häufig in Gruppen auftreten. Meist kennen diese Täter ihre Opfer gar nicht, die Gewaltakte geschehen mitunter überfallartig und sind häufig nicht geplant. In den Gerichtsakten finden wir zu den Motiven dieser Tätergruppe dann Vermerke wie Langeweile oder Alkohol. Laut einer Recherche des Journalisten Lucius Teidelbaum aus Baden-Württemberg kann man bei diesen Tätern aber häufig menschenverachtende Motive feststellen. Mitunter stammen die Täter aus rechtsextremen Milieus. Auch wenn längst nicht alle explizit rechtsextrem sind, sind in ihrem Gedankengut zumindest entsprechende Vorstellungen vorhanden.
Infokasten
Wohnungslose Menschen in Deutschland
Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) waren im Jahr 2012 rund 284.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung, dies ist ein Anstieg von ca. 15 Prozent gegenüber 2010. Die BAG W vermutet einen weiteren Anstieg der Zahl auf bis zu 380.000 Personen im Jahr 2016. Die Zahl der ohne jede Unterkunft auf der Straße lebenden Menschen ist zwischen 2010 bis 2012 um rund zehn Prozent auf 24.000 Personen gestiegen. Etwa 75 Prozent der Wohnungslosen sind männlich, rund 25 Prozent weiblich. Laut Schätzungen der BAG W sind etwa 11 Prozent der Wohnungslosen minderjährig. Bislang gibt es in Deutschland keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage.
Als Ursachen für Wohnungslosigkeit gelten laut BAG W die in den letzten Jahren stark steigenden Mieten und der Mangel an preiswerten Wohnungen, Verarmung der unteren Einkommensgruppen, sozialpolitische Fehlentscheidungen bei Hartz IV-Gesetzen, darunter die unzureichende Anhebung des ALG II-Regelsatzes und das Zurückfahren der Arbeitsförderungsmaßnahmen.
Gewalt gegen Wohnungslose Menschen
In den Jahren 1989 bis 2013 sind mindestens 429 wohnungslose Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. 230 dieser Taten wurden durch wohnungslose Täter, 199 durch nicht-wohnungslose Täter verübt. Im gleichen Zeitraum registrierte die BAG W mehr als 700 Fälle von Körperverletzung gegen wohnungslose Menschen. Da alle genannten Zahlen auf einer systematischen Presseauswertung der BAG W beruhen, schätzt sie das tatsächliche Ausmaß von Gewalt gegen und unter Wohnungslosen als deutlich höher ein.
Sind wohnungslose Menschen eine gezielte Opfergruppe?
B. G.: Die Abwertung von Wohnungslosen ist ein integraler Bestandteil faschistischer Ideologien. Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, sind gemäß dieser Ideologien aus dem "Volkskörper" zu entfernen, weil sie diesen belasteten, nicht produktiv seien und dadurch der "Volksgemeinschaft" schadeten. Die Schuld an diesem Zustand wird dabei den Wohnungslosen zugeschoben, nach dem Prinzip: du strengst dich nicht genug an. Wohnungslose sind dabei aber sicherlich nicht die vorrangige Opfergruppe, auf die man projiziert. In diesem Sinne stehen sie hinter anderen Gruppen, etwa den Juden, den Sinti und Roma oder Migranten und Menschen mit anderer Hautfarbe. Wohnungslose Menschen sind dabei eine eigene Opfergruppe im rechtsextremen Weltbild.
Ist das schlechte Image der Wohnungslosen eine der Ursachen der Gewalt?
B. G.: Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld führt seit Jahren Studien dazu durch, inwieweit rechte und menschenfeindliche Einstellungen bis in die Mitte der Gesellschaft reichen. Dazu gehört die Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Alkoholikern und auch Wohnungslosen, die randständig in der Gesellschaft leben. Ihre Notlage wird in diesen Vorstellungen individualisiert, das heißt ihnen wird die Schuld dafür zugewiesen, weil sie zu faul seien, der Gesellschaft auf der Tasche lägen. Das führt vor allem junge Menschen, die selbst frustriert sind und in der Gesellschaft nicht klarkommen, dazu zu sagen: die Gesellschaft toleriert oder will es gar, das wir Gewalt gegen diese Menschen ausüben. Auch Ordnungsbehörden fällt die Diskriminierung von Wohnungslosen leichter, weil sie gesellschaftlich toleriert wird.
Schlechtes Image und häufig auch gesundheitliche Probleme: Ist diese doppelte Schwäche auch ein Grund, warum sie Opfer von Gewalt werden?
B. G.: Durchaus, denn zu den gesellschaftlichen Diskriminierungen kommt hinzu, dass Menschen, die auf der Straße leben, für die Täter auch äußerlich schwach aussehen, etwa wegen Erkrankungen oder dem Alkoholmissbrauch. Viele Wohnungslose versuchen, sich nicht als solche und nicht als randständig zu zeigen, denn viele von ihnen leben ja nicht direkt auf der Straße.
Werena Rosenke: Wie Herr Giffhorn bereits sagte, sind die Täter häufig ganz junge Männer, die Opfer aber meist älter und gebrechlich. Das scheint nach allem, was wir beobachten, eine besondere Aggressivität der Täter hervorzurufen. Die Gewalt gegen Wohnungslose durch Nicht-Wohnungslose betrifft vor allem Menschen, die permanent auf der Straße leben, aber durchaus auch Personen, die nachts in Unterkünften übernachten, diese am Morgen aber wieder verlassen müssen und dann auf der Straße leben. Bei wohnungslosen Frauen gibt es zwar keine repräsentativen Untersuchungen zu sexueller Gewalt, aber eine ältere Studie hat gezeigt, dass fast jede von ihnen bereits einmal Opfer sexueller Gewalt war. Einige der Fälle werden in der Presse aufgegriffen, aber die Dunkelziffer ist sehr hoch. Deshalb bringen wir zu diesem Problem keine Zahlen, weil es ein falsches Bild ergeben würde.
Zeigen Wohnungslose Gewalttäter seltener an als Menschen, die in gesicherten Wohnverhältnissen leben?
W. R.: Vor allem leichtere Formen körperlicher Gewalt nehmen die Wohnungslosen häufig eher hin, weil sie fast nie die Erfahrung gemacht haben, dass sie ernst genommen werden und sich Behörden für sie stark machen. Die Analysen der BAG Wohnungslosenhilfe zu den Gewalttaten insgesamt beruhen auf einer systematischen Beobachtung der Printmedien. Auf diese Weise können wir die schweren Taten mehrheitlich dokumentieren, aber leichtere Taten in der Regel eben nicht.
B. G.: Eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von der Sozialwissenschaftlerin Daniela Pollich zeigt, dass die Gewalt alltäglich ist und die Wohnungslosen dem häufig kaum mehr Beachtung schenken, häufig aus Angst vor den Tätern. Aber auch in den Unterkünften, wo es meist wenig Personal gibt, wird diese Gewalt wenig beachtet. Wenn jemand mit einer Wunde am Kopf kommt, dann wird man dort eher vermuten, dass derjenige etwa wegen Alkohol hingefallen ist. Hier müsste mehr darauf geschaut werden, denn es wird auch in der sozialen Arbeit zu häufig als Normalität hingenommen, auch wenn man dies statistisch kaum festmachen kann.
Wie äußert sich Gewalt durch Polizisten oder Ordnungsbehörden? Was berichten die Opfer?
B. G.: Sie berichten von Übergriffen durch Ordnungsbehörden oder private Sicherheitsdienste, die etwa von der Deutschen Bahn oder Geschäftsleuten eingesetzt werden. Wohnungslose werden von bestimmten Orten vertrieben, etwa von Bahnhöfen oder Einkaufsstraßen. Bei diesen Gewaltakten stehen ökonomische Aspekte im Vordergrund. Man will den Kunden Orte präsentieren, die nicht von Armut geprägt sind, sondern solche, an denen sie ungehindert dem Konsum nachgehen können. Ähnliches gilt für Bahnhöfe. Auch der Tourismus spielt für viele Städte eine immer größere Rolle, sie wollen den Besuchern saubere Städte präsentieren.
Es gibt auch dokumentierte Fälle, wenn auch nicht viele, in denen Wohnungslose im Winter von der Polizei aus Innenstädten herausgebracht und am Stadtrand ausgesetzt wurden. Aktuell stellen wir solche Fälle nicht mehr fest. Denn wenn so ein Mensch etwa erfrieren sollte, kann die Vertreibung als fahrlässige Tötung gewertet werden. Ordnungsbehörden haben eigentlich die Pflicht, diese Menschen an Leib und Leben zu schützen.
Viele Wohnungslose übernachten regelmäßig in Unterkünften. Wie viele Wohnungslose leben denn permanent auf der Straße und sind dadurch auch nachts Gefahren ausgesetzt?
W. R.: Wir schätzen, dass etwa 10 bis 15 Prozent der Wohnungslosen ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben. Nur ein sehr geringer Teil von ihnen wählt das ganz bewusst. Es ist eben die Spitze des Eisbergs, und es sind jene, die am auffälligsten sind. Denn viele der Wohnungslosen würde man auf der Straße gar nicht als solche identifizieren, weil sie sich explizit so kleiden und benehmen, um nicht als solche aufzufallen.
Mit welchen Mitteln können Sie als Organisation der Gewalt gegen Obdachlose begegnen? Gibt es Best-Practice-Ansätze?
W. R.: Als Dachverband selbst können wir direkt wenig tun. Wir erfassen seit mehr als 20 Jahren Informationen, wodurch wir überhaupt erst das Problem Gewalt gegen Wohnungslose vernünftig definieren können. Viele freie Träger der Wohnungslosenhilfe haben sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Viele haben inzwischen Zweibett- oder mitunter auch Einzelzimmer, was wir als BAG Wohnungslosenhilfe unterstützen. Hinzu kommen Deeskalationsprogramme für Bewohner der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. In mehrwöchigen Kursen werden Konfliktlösungen aufgezeigt. Die Basisarbeit der sozialen Arbeit ist das Empowerment, also die Stärkung der Menschen, um nicht in die Opferrolle zu fallen oder um aus ihr herauszukommen. Auch bei unseren zentralen Tagungen wird das Thema Gewalt und Deeskalation vorgestellt.
Ein ganz wichtiger Punkt der Prävention läge darin, die Art der Unterbringung in den Kommunen zu verändern. Gewalt lässt sich schlecht verhindern, wenn sechs oder acht Menschen, die sich nicht kennen, mit vielen eigenen Problemen in einen Raum gepfercht werden, wo es etwa keine Möglichkeit gibt, eigene Sachen wegzuschließen.
Wie gehen die Behörden mit der Gewalt gegen Obdachlose um? Behandeln Sie diese Fälle mit der gleichen Sorgfalt wie alle anderen?
B. G.: Das ist schwer einzuschätzen, weil es dazu wenig Forschung gibt. Ergebnisse einer neuen Studie aus Sachsen von der Rechtswissenschaftlerin Kati Lang deuten darauf hin, dass in Gerichtsverfahren eher vernachlässigt wird, ob die Tat menschenverachtend motiviert war, ähnlich übrigens wie bei rassistischer Gewalt gegenüber Migranten. Dazu gibt es eine jährliche Statistik des Bundeskriminalamtes zu politisch motivierter Kriminalität, in der unterschiedlich motivierte Taten spezifiziert werden. Gewalttaten gegen sozial Ausgegrenzte werden dort zwar auch erfasst, aber nicht explizit, sondern in einer Restkategorie. Die BAG Wohnungslosenhilfe drängt daher darauf, dies als spezifisches Merkmal zu kennzeichnen, weil dadurch Polizei und Staatsanwaltschaft dazu veranlasst würden, darauf zu achten, ob das Opfer wohnungslos ist und bei der jeweiligen Tat menschenverachtende Motive vorhanden sind. Auch in den gesetzlichen Richtlinien für die Justiz müsste das explizit hervorgehoben werden.
Auf welche Hindernisse stoßen Sie bei Ihrer Arbeit?
W. R.: Es klingt banal, aber der wichtigste Grund für Wohnungslosigkeit und die damit verbundene Gewalt ist der fehlende Wohnraum. Vor allem in Ballungsräumen und den Speckgürteln ist bezahlbarer Wohnraum knapp. Viele wohnungslose Menschen sitzen wie in einer Falle fest, über viele Jahre. Es muss sich auch die ordnungsrechtliche Unterbringung in den Kommunen verbessern. Unsere politische Arbeit und Lobbyarbeit soll daher in erster Linie zum Abbau der Wohnungslosigkeit beitragen mit dem Ziel, den heute Wohnungslosen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Und damit auch die Gewaltakte zu verhindern.
Infokasten
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) ist eine bundesweite Arbeitsgemeinschaft der sozialen Dienste und Einrichtungen für wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Sie wurde 1954 unter dem Namen Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtsesshaftenhilfe gegründet.
Die BAG Wohnungslosenhilfe sieht Wohnungslosigkeit als soziales Problem an. Aus diesem Grund änderte sie 1991 ihren Namen, um sich für alle sichtbar von dem alten Begriff der Nichtsesshaftigkeit abzugrenzen. Dieser wurde 1938 geprägt und unterstellte den Betroffenen einen „hemmungslosen Wandertrieb“; ihr Wohnungsverlust wurde damit auf persönliche Defizite zurückgeführt, so die BAG W.
Die BAG Wohnungslosenhilfe leistet Koordinations- und Integrationsaufgaben für die kommunale und frei-gemeinnützige Wohnungslosenhilfe und vertritt die Interessen der wohnungslosen und sozial ausgegrenzten Menschen und der Wohnungslosenhilfe.
Die BAG Wohnungslosenhilfe will:
wohnungslosen Menschen ein Leben ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Voraussetzung dafür ist die Verwirklichung des Menschenrechts auf Wohnen und Existenzsicherung;
der sozialen Ausgrenzung der Betroffenen entgegenwirken;
Regierung und Öffentlichkeit über die soziale Lage der Betroffenen und die notwendigen Hilfeangebote und vorbeugenden Maßnahmen informieren;
eine Beteiligung der Betroffenen an den sie betreffenden Entscheidungen; daher unterstützt die BAG W Initiativen zur Selbstorganisation;
dass wohnungslose Menschen ihr Recht auf Sozialhilfe und andere Sozialleistungen durchsetzen können.
Weitere Informationen auf der Homepage der BAG W unter Externer Link: www.bagw.de.