Der "Penner" habe doch nur allen auf der Tasche gelegen: So oder ähnlich klingt es, wenn die häufig jugendlichen Täter vor Gericht erklären, warum sie sich an einem wehrlosen Obdachlosen vergriffen haben. Dahinter steckt eine menschenverachtende Perspektive auf Randgruppen der Gesellschaft und sozial Schwächere, die etwa als "Penner" oder "Schmarotzer" herabgewürdigt werden. Immer wieder gehen damit auch Pöbeleien und Gewaltverbrechen einher.
"Sozialdarwinismus" stand die längste Zeit für ein glücklicherweise vergangenes Phänomen: für Versuche, die Entwicklung von Gesellschaften und sozialen Verhältnissen als "Kampf ums Dasein" (struggle for existence) zu beschreiben, in dem nur die Besten, die Stärksten oder Erfolgreichsten überleben (survival of the fittest). Inzwischen ist der Begriff zurück: er bezeichnet eine menschenverachtende Perspektive auf Randgruppen der Gesellschaft und sozial Schwächere. Für die Landeskriminalämter ist Sozialdarwinismus ein Merkmal politisch rechtsradikal motivierter Kriminalität.
Historisch ist der Begriff "Sozialdarwinismus" zuerst Anfang der 1870er Jahre nachweisbar. Er wird oft als Übertragung der Darwinschen Evolutionstheorie auf menschliche Gesellschaften definiert. Tatsächlich gab es schon vor Charles Darwin (1809-1882) evolutionäre Theorien des sozialen Wandels. Darwins schnell und breit rezipierte Evolutionstheorie war nicht der Ursprung des Sozialdarwinismus, sondern der Katalysator einer Entwicklung, die schon früher begann und in der Darwin vor allem als wissenschaftliche Autorität bemüht wurde.
Der historische Sozialdarwinismus erlebte seine große Zeit in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals gab es Sozialdarwinisten in vielen Ländern und allen politischen Lagern, von Sozialisten über die Liberalen bis hin zu Nationalsozialisten – wobei jede Gruppe aus der Darwinschen Theorie nahm, was sie für ihre Ziele brauchen konnte.
Herbert Spencer und Charles Darwin
Als Vater des Sozialdarwinismus gilt der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer (1820-1903), der eine umfassende Gesellschaftstheorie, Ethik und Wissenschaftstheorie auf die Idee der Evolution gründete. Die Konkurrenz der Menschen um ihre Existenzgrundlagen befördere Eigenschaften wie Fleiß, Innovation, Anpassungsfähigkeit und Selbstkontrolle und damit den Fortschritt der Menschheit. Spencer prägte die Begriffe "struggle for existence"
Darwin übernahm die Begriffe "Kampf ums Dasein“, "Überleben der Tüchtigsten“ und auch "Evolution“ von Spencer.
Vielseitig verwendbar
Spencer stand mit seiner Theorie der gesellschaftlichen Evolution auf dem Boden des Liberalismus: alle Menschen hätten die gleiche Freiheit, sich im Kampf ums Dasein zu behaupten; Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben lehnte er ab. Dieser Laissez-faire- oder Manchester-Liberalismus ist typisch für die frühen Formen des Sozialdarwinismus, der davon ausging, dass ebenso wie das blinde Naturgeschehen zu einer Höherentwicklung der Lebewesen, auch das blinde Spiel der Marktkräfte zum Fortschritt der Gesellschaft führe.
Der Sozialdarwinismus begann also nicht von vornherein als reaktionäre und rassistische Ideologie. Der russische Anarchist Peter Kropotkin (1842-1921) etwa vertrat die These, der Kampf ums Dasein beschränke sich auf den Kampf zwischen den Arten, innerhalb derselben sei gegenseitige Hilfe das vorherrschende Prinzip. Karl Marx (1818-1883) sah in der Darwinschen Theorie die “naturwissenschaftliche Unterlage des gesellschaftlichen Klassenkampfes“ und bat Darwin, ihm den zweiten Band des “Kapitals” widmen zu dürfen. Darwin jedoch wollte die atheistische Grundhaltung des "Kapitals“ nicht mittragen und lehnte ab. Doch der Sozialdarwinismus war nicht unbedingt kirchenfeindlich. In den USA bildete sich eine Art calvinistischer Darwinismus heraus. So galt etwa William Graham Sumner (1840-1910) der ökonomische Kampf ums Dasein als eine Bewährungsprobe, in dem sich der Charakter des Individuums zu erweisen habe.
In Deutschland hatte der auch als "deutscher Darwin“ bezeichnete Biologe Ernst Haeckel (1834-1919) besonderen Einfluss auf die Darwinrezeption. Sein Ziel war ein naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild, in dem die Evolutionstheorie eine zentrale Rolle spielen und religiöse Vorstellungen ablösen sollte. Die Evolution lehre, so Haeckel, dass überall stets nur eine bevorzugte Minderheit existieren und blühen könne, die Mehrheit dagegen verurteilt sei, zu darben und vorzeitig zugrunde zu gehen. Ein Prozess, der notwendig sei für die "Vervollkommnung“ des Menschengeschlechts. Durch seine in hohen Auflagen gedruckten populärwissenschaftlichen Vorträge und Schriften hatte Haeckel einen enormen Einfluss auf breite Bevölkerungsschichten, wegen seiner antikirchlichen Haltung auch auf die sozialdemokratische und sozialistische Arbeiterschaft. Seine Ideen sollten später auch von Nationalsozialisten vereinnahmt werden,
Eugenik und Rassenhygiene
Die meisten frühen Formen des Sozialdarwinismus waren individualistische und optimistische Ansätze. Der Kampf ums Dasein mochte brutal sein, aber er wurde zwischen Individuen ausgefochten, garantierte Fortschritt und Höherentwicklung und ließ zumeist auch Platz für die Entwicklung von Altruismus und Moral. Eugenik und Rassenhygiene hingegen waren von Angst vor der "Degeneration“ einer "Rasse“ bestimmt. Der "Kampf ums Dasein“ wurde kollektivistisch umgedeutet und spielte sich, auch unter dem Einfluss von Rassentheorien wie etwa von Arthur de Gobineau (1816-1882), nun nicht mehr zwischen Individuen, sondern zwischen "Rassen“ ab.
Den Begriff "Eugenik“ prägte Francis Galton (1822-1911), ein Vetter Darwins, der Eheberatung, Bildungskampagnen über Vererbungsgesetze und Ehebeschränkungen für behinderte und psychisch kranke Menschen forderte. Eugenische Bewegungen gab es in den Folgejahren in vielen europäischen Ländern, in den USA, Kanada, Australien, Skandinavien, Japan und Lateinamerika. In den USA hatten bis 1932 32 US-amerikanische Bundesstaaten Sterilisationsgesetze erlassen, auf deren Basis etwa 38.000 Menschen sterilisiert wurden. Außerdem berieten Eugeniker die Regierung in Einwanderungsfragen. In England wurde die Eugenik zwar breit diskutiert, fand aber keinen Niederschlag in konkreten Gesetzen.
Die "Rassenhygiene“ ist die deutsche Variante der Eugenik. Der Maßstab des Handelns sei die Erhaltung und Vervollkommnung blühenden Lebens, schrieb etwa Alfred Ploetz (1860-1940), mit Walter Schallmayer (1875-1919) Begründer der Rassenhygiene. Dazu sei eine Rassenhygiene nötig, die im Widerspruch zur Individualhygiene stehe. Denn was gut für das Individuum sei, die Pflege und Heilung von Kranken, die Sorge um Behinderte, sei schlecht für die Rasse.
Ungleichheit als Ungleichwertigkeit
Mit dem Nationalsozialismus hatte sich der Sozialdarwinismus als Theorie zur Erklärung gesellschaftlichen Wandels diskreditiert. Theorien der sozialen Evolution gehören zwar bis heute zu den seriösen Versuchen, gesellschaftlichen Wandel verständlich zu machen, legitimieren aber weder einen "Kampf ums Dasein“ noch ein Recht des Stärkeren. Sie lehnen die Idee einer zielgerichteten Entwicklung ab und suchen stattdessen, wie etwa die Neoevolutionisten, nach wiederkehrenden Mustern in der Geschichte verschiedener Kulturen. Brisanter ist heute die Frage, ob mit den neuen Möglichkeiten der Genetik und vor allem der genetischen Diagnostik eine Rückkehr eugenischer Gedanken zu befürchten sei.
Der Begriff "Sozialdarwinismus“ wird heute zur Bezeichnung von Positionen verwendet, die gesellschaftliche Randgruppen – etwa Wohnungslose, Sozialhilfeempfänger oder Menschen mit Behinderungen – als "minderwertig“, als Abgehängte, Überflüssige, "Sozialschmarotzer“ oder als Menschen, die der Gesellschaft Kosten verursachen, ohne ihr zu nutzen, abqualifizieren.
Wie weit ein solcher Sozialdarwinismus jenseits expliziter politischer Parteinahmen in der Gesellschaft verbreitet ist, wurde und wird in verschiedenen Projekten beobachtet. Etwa im Rahmen der Langzeitstudie "Deutsche Zustände“ (Heitmeier 2002-2012) oder jüngst in der Erhebung "Fragile Mitte“.
Die Beurteilung von Menschen nach ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit bringen Forscher häufig mit der als immer bedrohlicher empfundenen "Macht des Marktes“ zusammen. "Marktkonformen und marktförmigen Extremismus“ nennen die Autoren der "Fragile Mitte“-Studie das Weltbild hinter Positionen, die das Recht der Stärkeren verherrlichen und die ökonomisch Schwächeren verachten. An die Stelle humanistischer, ziviler und demokratischer Werte und Normen, auf deren Basis entschieden werde, wer in der Gesellschaft dazugehört und welchen Platz er oder sie einnehmen solle, träten immer stärker die Wertmaßstäbe der Wirtschaftlichkeit. In der Folge würden ökonomische Kriterien vermehrt auch zur Bewertung von Bevölkerungsgruppen angewandt. So fanden die Forscher heraus, dass 61 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten, Fortschritt gebe es nur im Wettbewerb, und knapp elf Prozent der Ansicht waren: "Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten.“
Zwar ist den Forschern zufolge der marktförmige Extremismus kein Massenphänomen; er werde von etwa einem Sechstel der Bevölkerung geteilt. Allerdings reiche er über die Selbstoptimierungs- und Wettbewerbsideologie in die Mitte der Gesellschaft hinein. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Menschen aber sei das Fundament der Demokratie, betonen sie als zentralen Punkt. Vor dem Hintergrund einer Ideologie der Ungleichwertigkeit könne sich schließlich die ganze Macht von Stereotypen, Vorurteilen und politischen Ideologien der Minderwertigkeit von Menschengruppen entfalten.
Literatur:
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Timo Heiler (2009): "Die Unbestimmtheit des Begriffs "Sozialdarwinismus": Probleme, Forschungsgeschichte und Nutzanwendung für heutige Gesellschaftstheorien", Journal of New Frontiers in Spatial Concepts, Vol 1, 2009, 121-133
Wilhelm Heitmeyer (2002–2012): Deutsche Zustände. Folge 1-10. Frankfurt a. M./Berlin: Suhrkamp
Peter-Ulrich Merz-Benz (2010): "Soziologie und Sozialwissenschaften", in: Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, 313-326
Alfred Ploetz (1981[1895]): "Der Konflikt zwischen Individualhygiene und Rassenhygiene", in: Günter Altner (hg.): Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie, Darmstadt
Philipp Sarasin (2010): "’Kampf ums Dasein’", in: Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, 33-36
Hans-Walter Schmuhl (2010): "Sozialdarwinismus, Rassismus, Eugenik/Rassenhygiene", in: Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, 367-375
Pat Shipman (1995): Die Evolution des Rassismus. Gebrauch und Missbrauch von Wissenschaft. Frankfurt am Main
Lucius Teidelbaum (2013): Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus, Münster
Markus Vogt (1997): Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg
Andreas Zick, Anna Klein (2014): Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Mit Beiträgen von Eva Groß, Andreas Hövermann und Beate Küpper. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer, Bonn