Typ, der normal mit mir deutsch spricht. Dann mitkriegt, dass ich Türke bin: Und. nur. noch. lang.sam. re.det. #schauhin
— Hakan Tanriverdi (@hakantee) September 6, 2013
Sätze, die mit "ich hab nichts gegen dich aber..." anfangen #schauhin
— F. E. (@ftmrtgrl) September 6, 2013
#SchauHin, wenn der Präsident deiner Uni sagt, Kinder mit türkischem Migrationshintergrund hätten einen niedrigeren IQ.
— Nassir Jaghoori (@sir_jag) September 6, 2013
Das Hashtag #SchauHin löste im September 2013 eine mediale Debatte über Rassismus in der Mitte der Gesellschaft aus. Unter dem Hashtag, also dem Sammelbegriff #SchauHin veröffentlichten im Verlauf weniger Tage Tausende von Twitter-Nutzerinnen und -Nutzern ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus in Schulen, an Universitäten, im Beruf, im öffentlichen Verkehr und Leben. Sie machten Alltagsrassismus sichtbar und hoben ihn auf die mediale und gesellschaftliche Tagesordnung. Tagelang hielt sich dieser Hashtag in den Top Ten der meistgenutzten Deutschlands, zahlreiche Journalistinnen und Journalisten griffen das Thema in Online-Medien, Print-Medien, Fernsehen und Radio auf.
Schnell kam die Frage auf: Machen sich die Betroffenen einmal mehr zum Opfer, wenn sie ihre persönlichen Erfahrungen teilen? Nun, sie machten sich sicherlich verletzlich und angreifbar, doch die Masse an Tweets, die Masse an Erfahrungen ermächtigte die einzelnen Personen auch. Alltagrassismus wurde greifbar illustriert und unübersehbar. Es wurde deutlich: Diese Erfahrungen sind keine Einzelfälle, sie sind keine Wahrnehmungsstörungen oder der übermäßigen "Empfindlichkeit" einzelner geschuldet, sondern Teil eines strukturellen Problems in unserer Gesellschaft. Dorthin wurde das Problem Rassismus gehoben, und dort liegt auch die Verantwortung zur Lösung des Problems. Denn es ist und kann nicht die Verantwortung der Betroffenen sein, diesen gesellschaftlichen Missstand zu bekämpfen – die Verantwortung liegt bei uns allen.
Wenn ich (Afrodt) neben meiner weißen Mutter als Kind gefragt wurde, wie es ist, adoptiert zu sein & wieso ich "Mama" sage. #SchauHin
— Afia (@afia_hajar) September 6, 2013
Ein Lehrer zu einer türkischstämmigen Mitschülerin, die im Unterricht quatschte: "Du bist in diesem Land Gast, also benimm dich." #SchauHin
— Janine Wissler (@Janine_Wissler) September 6, 2013
Job: Ich rufe mit meinen Namen an, Job leider vergeben. Deutscher Freund ruft an, Job noch frei, Termin auch. #SchauHin
— Ali Utlu (@AliCologne) September 6, 2013
#schauhin wenn die Standesbeamtin mich fragte, ob ich nicht lieber einen Deutschen heiraten will, mein Mann geb. in Mozambik
— JudithTormaGonçalves (@Rednermacherin) September 6, 2013
Alltagsrassismus kann man selten beweisen. Er ist häufig subtil. Manchmal ist es der Ton, der Blick, die Mimik, Gestik, die einem zu verstehen gibt, dass man unerwünscht ist. Wenn man zum Beispiel als einzige Person am Flughafen vom Grenzpolizisten nicht mit einem freundlichen Lächeln, sondern herablassend und unwirsch begrüßt wird. Oder die Lehrerin fast unmerklich die Augen rollt, wenn man vom Berufswunsch und den Zukunftsträumen spricht. Ein Unwohlsein macht sich breit. Ein Gefühl, dessen Ursache sich nicht beweisen lässt. Der Hilflosigkeit folgt die Resignation und dieser schließlich der Zweifel: "Vielleicht hatte die Person nur einen schlechten Tag. Und vielleicht bilde ich mir das alles ja sowieso nur ein", sagt sich der oder die Betroffene, und irgendwann wird der alltägliche Rassismus zum still erduldeten Alltag, zur Normalität. Es ist auch nicht nur die weiße Mehrheitsgesellschaft, die Rassismus häufig nicht wahrnimmt, oft sind es sogar die Betroffenen selbst. Als der Redakteur einer Fernsehsendung auf der Straße Passantinnen und Passanten zu dem Thema befragte, winkten die allermeisten ab, sie hätten keine solche Erfahrungen – nur um wenige Minuten später zurückzukehren und ein Erlebnis, eine Erfahrung nach der anderen zu teilen.
Wir haben keine Sensibilität für Rassismus in unserer Mitte entwickelt. Wenn wir über Rassismus sprechen, zeigen wir häufig mit dem Finger weit in die Ferne, in die rechtsradikale Szene oder in die Vergangenheit, aber schauen selten auf das Jetzt, das Hier und Heute. Dabei brennt es hier, mitten unter uns, in der Mitte der Gesellschaft. Alltagsrassismus kann überall stattfinden – an der Universität, der Schule, am Arbeitsplatz, im Park, im Café, beim Einkaufen. Er ist kein Randphänomen, sondern Alltag für Tausende von Menschen in diesem Land. Es gibt Studien dazu, Reportagen und Berichte. Mit dem Hashtag #SchauHin, durch den Tausende von Twitter-Nutzerinnen und -Nutzern ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der Öffentlichkeit teilten, wurde das Problem aber anschaulich – und sein Ausmaß erkennbar. Dass es Alltagsrassismus gibt, ließ sich dadurch nicht mehr negieren. Auch nicht, welche Narben Jahre und Jahrzehnte mit diesen Erfahrungen hinterlassen können.
Im Park, Mutter mit Kopftuch zur fremden Frau im netten Ton: "Könnten Sie bitte ihre Hunde anleinen?" - Antwort: Erst ihre Kinder. #schauhin
— Walid Malik (@WalidVanMalik) September 6, 2013
Wenn dein Schuldirektor alle 1er-Abiturienten für ein Hochschulstipendium vorschlägt - bis auf dich (mit Best-Durchschnitt) #SchauHin
— Elif (@Elifelee) September 6, 2013
Winter. Ein Freund will sich kurz meine Handschuhe ausleihen. Lehrer: Nein, die braucht sie selbst, hier ist's kälter als in Afrika" #schauhin
— Niddal Salah-Eldin (@Nisalahe) September 6, 2013
Viel zu lange wurde in der Vergangenheit gezögert, Rassismus zu benennen. 2009, als die Ägypterin Marwa El Sherbini im Landgericht Dresden von Alex W. mit 18 Messerstichen erstochen wurde, schwieg sich die deutsche Medienlandschaft fünf Tage lang über den Fall und im Nachgang auch über das Motiv aus: antimuslimischer Rassismus. Oder 2010, als der ehemalige Bundesbanker und SPD-Politiker Thilo Sarrazin mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" zum Bestseller-Autor wurde (das meistverkaufte Sachbuch seit Gründung der Bundesrepublik). Darin behauptet er, Einwanderer aus muslimischen Ländern seien weniger intelligent und integrationswillig als andere. Auch hier wurden seine Thesen lange nicht als das benannt, was sie sind: rassistisch. Zu diesem Urteil kam im Februar 2013 der Antirassismus-Ausschuss der UN
Die Wissenschaftlerin Miranda Fricker erläutert am Beispiel sexueller Belästigung in den 1960er Jahren in den USA, welche Folgen es haben kann, Missstände nicht benennen zu können. Zu jenem Zeitpunkt war der Begriff "sexuelle Belästigung" (sexual harassment) nicht verbreitet, es gab kein gesellschaftliches Verständnis dafür. Belästigung galt als Flirt oder gar Kompliment. Der Belästiger war sich keiner Schuld bewusst, die Belästigten blieben schutz- und hilflos, auch, weil ihnen die Begriffe fehlten, mit denen sie ihre Erfahrungen hätten thematisieren können: sie waren damit nicht-existent. Erst mit der Verbreitung des Begriffes "sexual harassment" und einem wachsendem Verständnis lies sich der Missstand gesellschaftlich problematisieren.
Ähnliches gilt für unseren Umgang mit Alltagsrassismus und Rassismus im Allgemeinen. Wenn wir als Gesellschaft nicht die Fähigkeit zeigen, Rassismus als solchen zu benennen, werden wir keinen Umgang mit ihm finden und ihn nicht bekämpfen können. Wenn das Erlebte keinen Namen hat, nicht benannt wird, dann existiert es nicht. Die Erlebnisse bleiben unsichtbar und die Betroffenen mit den Folgen auf sich alleine gestellt. Solange es keinen Begriff und keine Kontextualisierung für einen diskriminierenden Vorgang gibt, profitiert der Täter – zum Schaden des Opfers. So ist das Hashtag #SchauHin und die Möglichkeit, Rassismus als solchen zu benennen, für die Teilnehmenden ermächtigend und macht deutlich, von welch großer Bedeutung Räume sind – Räume für Themen, Debatten und Gedanken. Den Raum für Erfahrungen zum Thema Alltagsrassismus zu öffnen, ermöglichte den Betroffenen, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen, zu begreifen und letztlich einen Umgang damit zu finden, um sie künftig abwehren zu können.
Trotz #SchauHin: Alltagsrassismus wird in den Medien selten so genannt
Alltagrassismus geschieht jeden Tag, doch Medien berichten nur selten darüber. Das Hashtag ermöglichte es Minderheiten, im Netz über die schiere Anzahl an Tweets das Thema Alltagsrassismus in die "Trending Topics" (meistdiskutierte Themen) zu hieven und damit deutlich zu machen: Es muss nicht brennen, es muss nicht jemand sterben, es braucht keine neue Statistik, damit wir über dieses Thema diskutieren. So war allein die Tatsache, dass zahlreiche Medien einige Tage im September 2013 über Alltagsrassismus berichteten, ein Erfolg für #SchauHin.
Da sage einer,es gebe keinen #Rassismus in Deutschland: erst seit 8h gibt es den Hashtag #schauhin und schon ist es der zweithäufigste Tweet
— Petra Sorge (@petrasorge) September 6, 2013
#Schauhin - das ist die achtsamste Zeit, die ich je auf Twitter miterlebt habe. Danke!
— edition assemblage (@assemblage_news) September 6, 2013
#schauhin weckt Erinnerungen an Zeiten wo ich noch nicht Kontra geben konnte :'(
— Angus Stone (@angusstone3) September 6, 2013
Wenn du fürs Sichten der letzten Stunde #SchauHin Tweets gut 30 Minuten brauchst & mind. 10 Fav & RTs verteilst, weil du es auch erlebt hast.
— Daniel Lücking (@DanielLuecking) September 6, 2013
#SchauHin und die Diskussionen, die im Internet dadurch entstanden, machten die besondere Kraft von Räumen deutlich, in denen Menschen von ihren Erfahrungen erzählen können. Um diesen Raum nicht nur auf das Internet zu beschränken, starteten wir bei #SchauHin e.V. 2014 sogenannte Story Salons, Abende also, an denen Schwarze, People of Color, Juden, Muslime, Sinti & Roma und andere Minderheiten ihre Geschichten erzählen. Dabei können, müssen sich die Geschichten aber nicht zwangsläufig mit Rassismus beschäftigen. So gab es Themenabende zu "Afro, Bart & Hijab", zu "Flaws, Faults & Errors" (Makel, Fehler & Irrtümer) oder "Geschichten vom Wandel".
Diese Abende haben mir vor Augen geführt, wie sehr uns unsere Erfahrungen zusammenbringen, ermächtigen und welch einende Macht das haben kann. Sprechen ist Macht. Die Erfahrungen von Minderheiten sind wertvolles Wissen, ihre Geschichten von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Mich inspirierte insbesondere ein Zitat der Schwarzen Wissenschaftlerin Grada Kilomba, die in ihrem Buch „Plantation Memories“ davon schrieb, wie ethnische Minderheiten im Gegensatz zur weißen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden:
"When they speak it is scientific,
when we speak it is unscientific.
Universal/specific;
objective/subjective;
neutral/personal;
rational/emotional;
impartial/partial;
they have facts, we have opinions;
they have knowledge, we have experiences."
Umso wichtiger ist es deshalb, Minderheiten Räume zu geben, in denen ihre Geschichten ernst genommen werden, als Wissen, als Fakten und von universaler Relevanz. Minderheiten – und das hat mich das Internet gelehrt – müssen nicht mehr darauf warten, dass ihnen jemand aus der Mehrheitsgesellschaft ein Mikrofon hinhält, damit sie sprechen können. Sie können sprechen, indem sie es einfach tun.