Neun Mal waren sie marschiert, neun Mal war nichts passiert. Außerhalb von Tröglitz jedenfalls hatte kaum jemand Notiz davon genommen, was seit Januar 2015 in dem 2700-Einwohner-Ort im Süden Sachsen-Anhalts geschah. Woche für Woche hatten sich ein paar Dutzend Demonstranten versammelt, an der Spitze ein Kreisrat der rechtsextremen NPD aus dem nahen Zeitz, um gegen die Aufnahme von Flüchtlingen zu protestieren. Beim zehnten Mal wollten sie vor das Privathaus des ehrenamtlichen Ortsbürgermeisters Markus Nierth ziehen. Der Parteilose trat zurück, weil er sich von den Behörden im Stich gelassen sah. Seither – und erst recht, seit Anfang April im Dachgeschoss eines Hauses Feuer gelegt wurde, in dem 40 Asylbewerber unterkommen sollten – steht Tröglitz für Fremdenhass, Rassismus und das Versagen lokaler Behörden bei ihrer Aufgabe, Flüchtlinge trotz vielerorts verbreiteter Ressentiments menschenwürdig aufzunehmen.
"Tröglitz ist überall", verkündete Sachen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und wollte so darauf hinweisen, dass es nicht nur in Ostdeutschland mehr oder weniger gewalttätige Proteste gab und gibt. Richtig ist: Tröglitz ist kein Einzelfall. 30 Angriffe auf Asylbewerberheime zählten die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl allein zwischen Jahresanfang und Ende April. In den vergangenen Jahren haben die Angriffe stark zugenommen: Im gesamten Jahr 2014 waren es 186, 2013 dagegen "nur" 58, 2012 insgesamt 24 Übergriffe.
Seit zwei, drei Jahren ist zu beobachten, wie Rechtsextreme verstärkt Stimmung gegen Flüchtlingsunterkünfte machen. Örtlich stoßen sie damit durchaus auf Resonanz. 42 einschlägige Demonstrationen verzeichnete die Chronik von Amadeu-Antonio-Stiftung und Pro Asyl in den ersten vier Monaten des Jahres 2015, tatsächlich dürfte es deutlich mehr gegeben haben: Die Aufmärsche etwa, die es in Tröglitz vor der Brandstiftung gab, sind in der Liste gar nicht verzeichnet.
Der Widerstand gegen Flüchtlingsheime ist meist nur vordergründig ein Ausdruck von Sorgen und Ängsten der Anwohner. Nicht nur in Tröglitz, auch im brandenburgischen Oranienburg, im sächsischen Schneeberg, in Berlin-Hellersdorf oder anderswo: Hinter den weitaus meisten Protestgruppen, die sich gegen Flüchtlingsheime bilden, stehen – mehr oder weniger erkennbar – organisierte Rechtsextreme. Zwar geben sich Gruppierungen unter Namen wie "Nein zum Heim in Guben", "Kein Asylantenheim in Katzhütte" oder gar "Bürgerbewegung Hellersdorf" betont bürgerlich. In der Regel aber sind ihre treibenden Kräfte rechtsextremen Parteien wie NPD und "Die Rechte" oder freien Neonazi-Kameradschaften verbunden.
95 solche Gruppen hat die Sächsische Zeitung allein im sozialen Netzwerk Facebook gezählt, die meisten davon in Sachsen, Brandenburg und Ostberlin. Aus Sachsen kam auch der größte Teil der "Gefällt mir"-Klicks für die fremdenfeindlichen Botschaften dieser Facebook-Gruppen. Auffällig war, dass sich im Nordwesten Deutschlands oder auch im Saarland keine derartigen Gruppen fanden, die großen westdeutschen Flächenländer, aber auch Mecklenburg-Vorpommern waren nur sporadisch vertreten. Offensichtlich ist Tröglitz also doch nicht überall. Dass mobilisierungsfähige Ressentiments gegen Flüchtlinge regional ungleich verteilt sind, zeigt sich auch bei Demonstrationen und Kundgebungen wie jenen von
Aktuelle Lage weit entfernt von der Stimmung der frühen 1990er
Eine Welle rassistischer Proteste gab es schon einmal, die Folgen waren verheerend: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen hießen Anfang der 1990er Jahre Orte, in denen es sogar zu Ausschreitungen, Pogromen oder tödlichen Brandanschlägen kam. Die Gewalt richtete sich gegen Asylbewerber und Menschen mit ausländischen Wurzeln, die schon lange in Deutschland lebten – und sie war alltäglich. Allein in der ersten Woche, nachdem ein von Rechtsradikalen angestachelter Mob in Rostock-Lichtenhagen ein Ausländerwohnheim belagert und angezündet hatte, wurden mindestens 40 Angriffe auf ähnliche Einrichtungen registriert. Medien und Politik heizten die Stimmung teilweise sogar noch an; die Boulevardzeitungen hatten schon lange vor Rostock-Lichtenhagen Horrorvisionen von einer Flüchtlingsflut an die Wand gemalt: Am 2. April 1992 hatte die Bild-Zeitung "gewarnt": "Fast jede Minute ein neuer Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt das Boot?", am 18. Mai desselben Jahres hatte es ebenfalls in der Bild geheißen: "Irre! 11.991 Mark für Asylfamilie - monatlich!"
Auch Politiker demokratischer Parteien schürten Ressentiments, im Bremer Bürgerschaftswahlkampf 1991 zum Beispiel warf die CDU der regierenden SPD vor, sie habe die Stadt zu einem "Asylanten-Paradies" gemacht. Der Bundestag reagierte schließlich, indem er unter Beifall vieler überforderter Bürgermeister das Asylrecht einschränkte. Die Zahl der Asylbewerber – 1992 waren es fast 440.000 – ging in den Folgejahren stark zurück, 2008 verzeichnete das Bundesamt für Migration mit rund 28.000 Erst- und Folgeanträgen auf Asyl den Tiefststand.
Zweifellos unterscheidet sich die Situation heute deutlich von jener vor zwei Jahrzehnten. Zwar hat der starke Wiederanstieg der Flüchtlingszahlen – 2014 stellten etwa 200.000 Menschen einen Asylantrag – die meisten Städte und Gemeinden recht unvorbereitet getroffen. In Ballungsräumen, in denen ohnehin Wohnungsnot herrscht, wissen sich Bürgermeister oft nicht anders zu helfen, als massenhaft Wohncontainer aufzustellen oder Hotelbetten anzumieten.
Doch das Bewusstsein, dass es nicht um Abwehr, sondern um die menschenwürdige Aufnahme von Menschen geht, die hier Zuflucht suchen, ist in den meisten Rathäusern und in der breiten Öffentlichkeit angekommen, in Tröglitz wie anderswo. Außerdem engagieren sich heute viel mehr Menschen als Anfang der 1990er Jahre in ihrer Stadt oder ihrem Dorf für Flüchtlinge und gegen rassistische Stimmungsmache. Das fällt natürlich dort leichter, wo die sogenannte Zivilgesellschaft stark ist, wo es Gruppen und Initiativen gibt, die Erfahrung im Umgang mit Flüchtlingen und im Widerstand gegen rechtsextreme Propaganda haben.
Willkommenskultur fest in der Zivilgesellschaft verankert
Tatsächlich würde ein Blick nur auf Tröglitz davon ablenken, dass das, was Politiker "Willkommenskultur" nennen, vielerorts durchaus funktioniert – vor allem dort, wo man sich die Mühe gemacht hat, Konzepte zur Aufnahme, Betreuung und Integration von Flüchtlingen zu erarbeiten. Und das ist nicht nur in Großstädten der Fall, sondern gerade auch in kleineren Gemeinden, die wie das hessische Rauschenberg unter Bevölkerungsschwund leiden.
Zwar reagieren Bürger wohl nirgends begeistert auf die Unterbringung von Flüchtlingen gleich nebenan. Am höchsten ist die Akzeptanz noch, wenn es nur um wenige Neuankömmlinge geht. Das spricht für die möglichst dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen – die allerdings in Großstädten mit ihren leergefegten Wohnungsmärkten kaum noch möglich ist. Doch wo Verwaltung, Polizei, Kommunalpolitik und örtliche Verbände und Initiativen zusammenarbeiten, kann es sehr wohl gelingen, Vorurteile und Ängste durch gründliche Information abzubauen. Lokalpolitiker und Behörden müssen sich Bürgerversammlungen stellen (und dabei aufpassen, diese nicht von Rechtsextremen kapern zu lassen), sie dürfen weder auf der Straße noch im Internet rechtsextremen Stimmen die Debattenhoheit überlassen. Sie müssen die Begegnung zwischen Neuankommenden und Alteingesessenen fördern und diejenigen, die helfen wollen, unterstützen. Diese Hilfsbereitschaft ist in vielen Städten und Gemeinden groß. Ob ärztliche Behandlung, Sprachkurse, Hilfe bei Behördengängen, Freizeitangebote – es sind Tausende Bürger, die sich für Flüchtlinge engagieren. Und es sind bundesweit Zehntausende, die gegen rassistische Demonstrationen und Kundgebungen auf die Straße gehen.
Aber diese notwendigen Netzwerke entstehen nicht von allein. Sie müssen in jeder Stadt und jeder Gemeinde geknüpft und gepflegt werden. Das kostet Geld, Personal, Ressourcen – und ist für die Kommunen allein nicht zu schaffen. Darum braucht kommunale Flüchtlingspolitik die Hilfe des Bundes und der Länder, in Tröglitz ebenso wie überall in Deutschland.