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Wann ist ein Mann ein Mann? Rechtsextreme Männerbilder und geschlechterreflektierende Präventionsarbeit | Rechtsextremismus | bpb.de

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Wann ist ein Mann ein Mann? Rechtsextreme Männerbilder und geschlechterreflektierende Präventionsarbeit

Olaf Stuve

/ 15 Minuten zu lesen

Ein "echter" Mann sein zu können – das ist ein Versprechen der rechten Szene, das viele vor allem junge Männer anzieht. Was aber ist ein "echter" Mann und woher stammen unsere Vorstellungen von "wahrer Männlichkeit"? Im Interview erklärt der Soziologe und Bildungsarbeiter Olaf Stuve, welche Geschlechter- bzw. Männlichkeitsanforderungen auch heute bestehen und welche Chancen eine geschlechterreflektierte Pädagogik für die Rechtsextremismusprävention bietet.

Ein Interview mit Olaf Stuve von Melanie Wieland

Frage: Was ist eigentlich ein echter (r)echter Mann?

Olaf Stuve: Die Frage, was ein rechter oder ein echter Mann ist, lässt sich nicht beantworten. Den echten Mann gibt es nicht, das wissen wir aus der kritischen Männlichkeitsforschung, und das gilt auch für die Pädagogik. Es gibt viele verschiedene Männer, und es gibt viele verschiedene Facetten, wie Männer Männlichkeiten konstruieren. Aber, und das ist das Entscheidende: Es gibt Männlichkeitsanforderungen, die wiederum mit Versprechen verbunden sind. Eine der wichtigsten Männlichkeitsanforderungen und eines der wichtigsten Männlichkeitsversprechen ist, souverän zu sein. Souveränität ist dabei oftmals mit Überlegenheit verbunden. Da kommen wir wieder der Frage sehr nah, was ein rechter Mann ist. Das ist ein Mann, der für sich eine Männlichkeit in Anspruch nimmt, die mit Überlegenheit verbunden ist. Er verspricht sich davon, souverän handeln zu können. Überlegenheit braucht immer ein Gegenüber, dem man überlegen sein kann. In Bezug auf Männlichkeit bedeutet sie zum Beispiel die Überlegenheit gegenüber Frauen oder nicht-männlichen Personen; sie beinhaltet aber auch Über- und Unterordnungen unter Männern. Raewyn Connell, eine Männlichkeitsforscherin aus Australien, hat das einmal als die "doppelte Relationalität“ von Männlichkeit bezeichnet.

Wenn man die Allgemeinheit fragt, was eigentlich ein männlicher Mann sei, dann wird häufig genannt: der ist stark, der ist groß, der ist kräftig, muskulös, auf das Soldatische wird angespielt. Das sind die vorherrschenden Stereotype.

Einen Bezug auf diese Stereotype findet man auch in Antworten von Jungen, Frauen, Mädchen und Männern auf die Frage, was ein richtiger Mann ist oder wie ein richtiger Junge sein soll. Da kommen in den Antworten Eigenschaften wie, der muss sportlich sein, er muss heterosexuell sein, er sollte schlagfertig sein, er muss erfolgreich sein, er muss eine gewisse körperliche Härte an den Tag legen. Interessant ist, dass Jungen dabei eine Betonung auf "eine gewisse Härte“ legen. Der "richtige Junge" darf nicht einfach brutal hart sein, sondern er muss eine gewisse Härte gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zeigen. Er entspricht bestimmten körperlichen Anforderungen, er darf beispielsweise nicht zu dick, sondern muss sportlich sein. Das ist eine bestimmte Normvorstellung von Männlichkeit, die in diesen Beschreibungen hergestellt wird. Nur: Diese Vorstellungen erfüllen auch rechte Männer nicht; die weichen genauso von dieser Männlichkeitsnorm oder -anforderung ab, wie alle anderen Jungen und Männer auch. Rechte Männer aber erleben diese Norm als unausweichlich, als etwas Gegebenes. Auf diese Weise wird Männlichkeit als Anforderung noch zugespitzt.

Wo kommen diese Stereotype, diese Zuschreibungen, diese Normvorstellung her?

Männlichkeit wie Weiblichkeit sind Ergebnisse kultureller und sozialer Konstruktionsprozesse, die sich mit der Moderne, im Grunde genommen mit der Aufklärung entwickelt haben. War bis dahin eine göttliche Ordnung Grundlage einer patriarchalen Geschlechterordnung, wurde diese mit der Aufklärung zunehmend aufgehoben und es wurden neue Begründungsmuster für unterschiedliche gesellschaftliche Positionen entwickelt. Das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit fußt auf der Vorstellung, dass es zwei biologisch unterschiedliche Geschlechtscharaktere gibt. Der männliche Geschlechtscharakter wurde so und der weibliche anders definiert und beide in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt: die männliche Sphäre höher und die weibliche niedriger. Dieses bestimmte Verhältnis wird mit dem Begriff Androzentrismus bezeichnet. Auch wenn sich an den Rändern der Gesellschaft die Vorstellungen von einer natürlichen Eindeutigkeit von dem, was Männlichkeit und Weiblichkeit ist, auflösen, gilt in der Regel noch immer eine tradierte Aufteilung von männlichen und weiblichen Eigenschafts- und Handlungsmustern.

Nun haben wir die Moderne schon lange hinter uns gelassen. Wir leben in dem, was oft die pluralistische Gesellschaft genannt wird, in der sich Vorstellungen der Zweigeschlechtlichkeit oder der festen Rollenverständnisse auflösen. Gelten die Stereotype und Vorstellungen denn heute noch?

Ja und nein. Tatsächlich existiert eine größer werdende Pluralität in den verschiedenen Lebenswirklichkeiten von Jungen und Männern und auch in den Handlungsmustern von Jungen und Männern. In bestimmten sozialen Kontexten – zum Beispiel in spezifischen Freundeskreisen oder Altersstufen – basieren männliche Handlungsmuster nicht auf Logiken der Konkurrenz, der Über- und Unterordnung und der Abgrenzung gegenüber Mädchen und Frauen, sondern vielmehr auf sozialer Anerkennung, Anerkennung von Differenz etc. Aber das sind meistens kleine soziale Gemeinschaften von Jungen und Männern (und Mädchen, Frauen und queeren Menschen), die vielleicht als "Inselbildungen“ bezeichnet werden können. In der Gesamtstruktur jedoch herrscht auch heute noch ein bestimmtes Muster von Männlichkeit vor, nämlich die, die in der Männlichkeitsforschung als “hegemoniale Männlichkeit“ bezeichnet wird. Dieses Männlichkeitsmuster ist nicht die am weitesten verbreitete Form von Männlichkeit; vielmehr ist sie das männliche Handlungsmuster, das mit gesellschaftlicher Machtposition verbunden ist. Sie ist so etwas wie eine Orientierung für alle Jungen und Männer, sowie auch für Mädchen und Frauen, wenn es darum geht, gesellschaftlich mächtig und erfolgreich zu sein. Eine der größten Bedrohungen für diese Männlichkeit ist es, nicht souverän zu sein. Diese Position der hegemonialen Männlichkeit ist nicht fixiert; vielmehr ist sie immer umkämpft und in Zeiten der Pluralisierung muss sie umso mehr verteidigt werden. Raewyn Connell, eine der bekanntesten Männlichkeitstheoretikerinnen, weist darauf hin, dass diese Männlichkeit aktuell nicht vor allem die körperlich kräftige, womöglich auf körperliche Gewalt zurückgreifende Männlichkeit ist, sondern es sich bei ihr eher um eine globale Manager-Männlichkeit handelt, die sich ihre Herrschaftsposition auf andere Weise absichert.

Jetzt werben Rechte ja weniger mit der souveränen Manager-Männlichkeit als eher mit einer starken, soldatischen, kämpferischen Männlichkeit, mit dem Beschützer oder Kämpfer, vielleicht noch mit dem Familienoberhaupt. Haben die Rechten immer schon so geworben, oder ist das ein eher neues Phänomen?

Rechte Ansprachen folgen häufig einem eher klassisch tradierten Männlichkeitsbild. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass in der rechten Vorstellungswelt Männlichkeit nicht als eine soziale historische Konstruktion gedacht, sondern als natürlich angesehen wird. In dieser vermeintlich natürlichen Ordnung wird eine bestimmte Körperlichkeit mit Männlichkeit assoziiert, die wiederum mit Überlegenheit, Stärke und Kraft, auch mit dem Kämpfer assoziiert wird. In einem Modell, in dem Zweigeschlechtlichkeit als natürliche Ordnung angesehen wird, muss der Mann seine spezifische Rolle ausfüllen. Das ist eine Anforderung, die in der rechten Ansprache deutlich wird. Die Frau, das Weibliche, wird als das zu Beschützende gedacht. Zusammengefasst wird das Ganze in der Idee der Volksgemeinschaft, in der Geschlecht in dieser Form eine Platzanweiserfunktion für Männer und Frauen erhält; sie müssen bestimmte Rollen ausfüllen. Das ist also etwas Klassisches.

In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich in der Thematisierung von Geschlecht von rechts aber auch etwas geändert. Die Thematisierung von Geschlecht spielt auf der ideologischen Ebene eine ganz andere Rolle in rechten Mobilisierungen und in der rechten Szene. Die Szene muss anscheinend auf so etwas wie Gender-Mainstreaming oder auf Politiken geschlechtlicher und sexueller Vielfalt reagieren. Das tun sie mit ihrem Versprechen von Eindeutigkeit.

Sind Männer heute in ihrer geschlechtlichen Identität so verunsichert? Warum ist die Aussicht auf Vielfalt, nicht ähnlich spannend wie die festen Platzanweiser, die die Rechten anbieten?

Eine "freie Wahl“ – in Anführungszeichen –, die Möglichkeit, mein Geschlecht selbst zu gestalten und nicht als natürlich gegeben nehmen zu müssen –, eine Diversifizierung, das ist sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene immer mit Verunsicherung verbunden. Connell nennt das ein genderbezogenes Schwindelgefühl, das mit Veränderungen in den geschlechtlichen Identifikationen einhergeht. Ich halte diese Verunsicherung für selbstverständlich, und wir müssen sie ernst nehmen. Pluralisierung heißt dann nämlich, dass ich selber immer wieder mit mir selbst und mit meinem gesellschaftlichen Umfeld neu verhandeln muss, wie geschlechtliche Anerkennung hergestellt wird, und das kann mal besser, mal schlechter funktionieren. Das überfordert viele. Viele können und wollen auch die (von oben verordneten) Diversity- und Gender-Mainstreaming-Strategien nicht erfüllen. Die Ansprache von rechts dagegen sagt und verspricht: "Diese ganze Pluralisierung ist Unsinn! Hier bei uns versprechen wir dir Stabilität und Orientierung. Wir sagen, dass es eine natürliche Geschlechtlichkeit und eine natürliche Männlichkeit gibt.“ Sich den Rechten zuwenden kann als eine Reaktion angesehen werden, in der zum Ausdruck kommt: "Bei uns musst du das nicht mitmachen, hier gibt es (noch oder wieder) eindeutige Verhältnisse, hier ist die Welt (noch oder wieder) in Ordnung“.

Damit wäre es das Gegenteil von geistiger Freiheit, das das rechte Modell so attraktiv macht?

Von rechts heißt die Formel: Der eigenen Natur, der Biologie zu folgen, das ist die eigentliche Freiheit. Darin erscheinen die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit als soziale und historische Konstruktionen als Hirngespinnste, die alle "normalen Menschen“ nur durcheinander bringen würden. Die natürliche Norm ist – Überraschung, Überraschung – mit all den traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden, die keinerlei Abweichungen zulassen.

Das funktioniert aber nur solange, wie man das Spiel mitmacht. In dem Moment, in dem man sich ändert, in dem man sich in die falsche Person verliebt oder in dem man feststellt, dass man vielleicht doch nicht die richtige biologische Rolle hat, in dem Moment muss man aus der Szene raus, oder?

Ja, dann kommt es zu Widersprüchlichkeiten, und die sind in der Präventionsarbeit sehr wichtig. Wenn die Anforderungen für diejenigen, die sich neonazistischen Lebenswelten zuwenden, zu eng werden, wenn sie merken, diese Anforderungen kann ich sowieso nicht erfüllen oder das hier ist mir zu krass, das ist mir zu gewalttätig, das ist mir zu maßregelnd, hier darf ich ja gar nichts mehr, hier verliere ich auch meine anderen sozialen Kontakte usw., dann sagen viele Leute: Ich will hier wieder raus. Geschlechteranforderungen sind hierbei eine zentrale Sache sowohl in der Hinwendung als auch in der Abwendung, weil sie einen immer selbst betreffen. In die Geschlechterverhältnisse sind die einzelnen Jungen und Männer und Mädchen und Frauen immer selbst verstrickt!

Große Teile der rechtsextremen Szene gelten als gewaltbereit. Sind alle Rechtsextremen aggressive Macker?

Das Bild des gewalttätigen jungen Mannes, womöglich aus dem "Osten" und arbeitslos, liegt meiner Meinung nach daran, dass in der Präventionsarbeit lange Zeit vor allem oder ausschließlich an diese Gruppe gedacht wurde. Geschlechterreflektierende Perspektiven wurden über lange Zeit völlig ausgeblendet, bei Rechtsextremismus hat man – geschlechtslos – an Gewalttaten und Straftaten von jungen Männern gedacht. Darin steckt die Konstruktion des jungen, aktionistisch orientierten Mannes, der zuschlägt, der Straftaten begeht usw. Wir müssen aber rechte Szenen im hohen Maße differenzieren. Zum einen haben Kolleginnen darauf hingewiesen, welche Rolle Frauen und Mädchen in der rechten Szene übernehmen. Aber auch die Gruppe der Jungen und Männer muss differenziert werden. Es ist ein theoretischer Gedanke, der empirisch noch nicht belegt ist, dass extrem rechte Szenen eine Art Auffangbecken für Jungen und junge Männer sind, die sich hypermaskulin inszenieren, die zum Beispiel auf gewalttätige Handlungsmuster zurückgreifen, um das Versprechen nach Souveränität und Überlegenheit einzulösen. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass diese mehr oder weniger gewalttätigen Handlungsmuster in den meisten sozialen Gruppen, zum Beispiel in der Schule, nicht besonders anerkannt werden. In der Regel werden Jungen nicht besonders geschätzt, wenn sie immer brutaler werden. Nun könnte man sagen, neonazistische, rechtsextreme Szenen machen ein Angebot an genau diese Jungen und sagen: "Kommt zu uns, bei uns darfst du draufhauen, hier darfst du deine hypermaskuline Inszenierung ausleben. Hier kannst du auf diese Weise Selbstwirksamkeit erleben." Diese Gewalt wird vor allem gegen als "anders“ konstruierte Gruppen gerichtet, ist aber darauf keineswegs beschränkt. Die interne Gewalt in rechten Lebenswelten ist enorm.

Es gibt aber auch eine andere Gruppe von Jungen und Männern. Das sind denjenigen, die sagen, wir sehen uns selbst als überlegene Männlichkeit und wir müssen nicht unbedingt auf Gewalttätigkeit zurückgreifen, sondern wir können auch rechtsintellektuelle Zeitschriften machen, Schülerzeitungen erstellen, Video-Clips drehen, kulturelle Produktion mit extrem rechten Inhalten gestalten. Diese jungen Männer spielen sozusagen mit der ganzen Klaviatur moderner Männlichkeitsinszenierungen – sie können ihre Männlichkeit anders unter Beweis stellen als mit Gewalt, und sie greifen dabei auf verschiedene Facetten extrem rechter Politiken zurück. Männliche Überlegenheitsfantasien werden beispielsweise mit der Vorstellung von Weißer Überlegenheit weiter übersteigert und abgesichert. Zu diesen Gruppen gehören meines Erachtens Mitglieder der Autonomen Nationalisten, die bestens in der Lage sind, so etwas wie eine intellektuelle Überlegenheit zu produzieren und diese mit einer extremen Gewalttätigkeit zu kombinieren.

Wie geht man damit in der pädagogischen Arbeit um? Was kann man da eigentlich tun?

Wir von “Dissens“ orientieren uns in der pädagogischen Arbeit nicht vor allem an rechten Jugendlichen. Wir arbeiten gar nicht mit organisierten rechten Jugendlichen, mit denen können wir in unseren Formen von Gruppenarbeit in der Schule oder in Jugendclubs, in der offenen Arbeit, nicht pädagogisch arbeiten. Wenn, dann braucht es da eine Form von Einzelarbeit, die an Ausstiegen bzw. einer Abwendung von rechten Strukturen, Denk- und Handlungsweisen arbeitet.

Unsere geschlechterreflektierende Arbeitsperspektive ist eine Art Doppelstrategie, die zum einen darauf zielt, allen Kindern und Jugendlichen Angebote zu machen, sich möglichst individuelle und differenzierte geschlechtliche Identifikationen anzubieten. Wir machen diskriminierungskritische Pädagogik, die alle adressiert, die in Schulklassen, in Sportvereinen, in sozialen Gruppen, in Jugendclubs, an allen möglichen Orten stattfinden kann. Geschlechterreflektierte Pädagogik ist in diese Richtung eine kritische Auseinandersetzung mit vorherrschenden Männlichkeitsanforderungen und -versprechen und eine Entlastung von ihnen. Angestrebt wird eine sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, in der Kinder, Jugendliche und Erwachsene ohne Gefahr der Bedrohung ihre Identifikationen entwicklen können; da sind übrigens auch traditionelle Vorstellungen mit eingeschlossen. Die einzige Beschränkung besteht darin, dass die eigene Identifikation nicht auf einer Diskriminierung anderer basieren darf.

Wir halten es zum anderen aber auch für sinnvoll, in der spezifischen Rechtsextremismusprävention geschlechterreflektiert zu arbeiten. So haben wir uns angeschaut, was rechte Geschlechterangebote attraktiv macht. Dabei ist rausgekommen, dass vor allem Bedürfnisse angesprochen werden, die wir zum Teil schon erwähnt haben: Wünsche nach sozialer Anerkennung, nach Zugehörigkeit, nach Freundschaft, die z.B. in dem von Neonazis aufgeladenen Wort “Kameradschaft“ münden. Diese Bedürfnisse müssen wir ernst nehmen. Welche Erfahrungen machen beispielsweise Jungen , die sagen: "Gehen wir doch lieber zu den Rechten und hören uns an, was die uns versprechen.“ Wenn die dann sagen, „Kameradschaft bedeutet für uns Freundschaft, Zugehörigkeit, soziale Anerkennung etc.“, dann hat eine geschlechterpädagogische Arbeit die Aufgabe, andere Formen von Freundschaft, Zusammenhalt, sozialer Anerkennung zu entwickeln und zu üben, die auf Konkurrenz und daraus abgeleitete Über- und Unterordnung verzichten können.

Klappt das denn tatsächlich? Merkt man am Ende einer solchen Zusammenarbeit, dass da was passiert ist?

Ich würde sagen, das ist eine der wirksamsten Formen der Präventionsarbeit. Damit haben wir aber noch nicht über die Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen gesprochen, also jenen, die schon halb drin in der extrem rechten Szene sind. Mit denen müssen wir anders arbeiten. Auch deren Bedürfnisse und Wünsche müssen wir natürlich ernst nehmen und fragen, welche Funktion die rechten Angebote für diese Jugendlichen haben. Hier werden auch die Widersprüchlichkeiten wichtig, die wir schon angesprochen haben: Ist zum Beispiel das Versprechen von Kameradschaft bei den Rechten eingelöst worden? Was müssen sie tun, um das Bild des Kameraden zu erfüllen? Wollen sie das alles? Was passiert, wenn sie davon abweichen? Haben Jugendliche andere Freundschaften durch ihre rechte Orientierung verloren? Und nicht zuletzt natürlich die Auseinandersetzungen mit allen ideologischen Teilaspekten rechter Ideologie. Es ist eine ganz kleinteilige, aber vielversprechende Arbeit, die Jugendlichen von ihren Erfahrungen erzählen zu lassen, verstehend mitzugehen und auf Widersprüchlichkeiten hinzuweisen und ihre Erlebnisse mit ihnen zu diskutieren. Dabei ist es wichtig, nicht den politisch-moralischen Zeigefinger zu erheben, wohl aber politisch und ethisch klar antifaschistisch und antidiskriminierend positioniert zu sein. Konflikte führen gehört dabei zum pädagogischen Alltagsgeschäft. Hier ist der Hinweis nötig, dass pädagogische Arbeit dafür vernünftig ausgestattet sein muss. Zum Beispiel ist eine regelmäßige Supervision unablässig für diese Arbeit.

In Publikationen zu geschlechtsbezogener Rechtsextremismusprävention wird häufig betont, dass die Bedeutung von Geschlecht in vielen Programmen und Bemühungen gegen Rechtsextremismus immer noch übersehen wird. Warum ist das so?

Wir sprechen ja hier über eine Perspektive auf Geschlecht, die Zweigeschlechtlichkeit und Natürlichkeit kritisch infrage stellt. Das aber ist ja überhaupt keine durchgesetzte, allgemeine Meinung. Bezogen auf die Neonazismus- oder Rechtsextremismusprävention würde ich sogar sagen, dass Geschlecht immer eine Rolle gespielt hat. Allerdings eher mit der Vorstellung, dass es pädagogisch um eine Stabilisierung von Männlichkeit gehen müsse, weil junge rechte Männer in ihrer Männlichkeit verunsichert seien und sie auf neonazistische rechtsextreme Handlungsmuster kompensatorisch zurückgreifen würden, um wieder Sicherheit zu gewinnen. So wird ja bis heute in Bezug auf pädagogische Angebote argumentiert, in denen junge, neonazistisch orientierte Männer explizit in ihrer Männlichkeit adressiert werden, die zum Beispiel durch kämpferische Sportspiele "abgeholt“ werden sollen. Diese Art der Arbeit haben wir mal bezeichnet als "etwas mit mehr von demselben begegnen zu wollen“, also Männlichkeit mit noch mehr Männlichkeit zu beantworten. Dazu brauche man richtige Männer als Pädagogen für harte Jungs.

Harte Pädagogen, die sagen, guck mal, ich bin ein harter Junge und ich bin auch kein Rechter?

Genau. Dahinter steckt eine kompensatorische Vorstellung von Männlichkeitsdynamiken, der zufolge junge Männer rechts werden, weil sie eine verunsicherte Männlichkeit haben. Das ist aber meines Erachtens eine falsche Vorstellung. Natürlich ist nicht jedes Angebot, das männliche Jugendliche in ihrer Identität stabilisiert, per se verkehrt. Aber im Grundsatz ist es trotzdem falsch gedacht. So konstruiert man eher eine normativ vorherrschende Männlichkeit, als dass eine verunsicherte Männlichkeit wieder "normal“ oder angemessen gemacht wird. Meiner Meinung nach muss man immer kritisch infrage stellen, welche Männlichkeitsvorstellungen vorherrschen. Dieser Gedanke hat sich überhaupt noch nicht durchgesetzt. Er nimmt eher eine Randposition ein. Bestimmend ist immer noch der Gedanke: Wenn man jungen Männern mehr Männlichkeit anbietet, dann werden die schon weniger rechts sein.

Pädagogisch ist es sinnvoll darauf hinzuarbeiten, Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene von Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen zu entlasten. Dieses Modell basiert darauf zu verstehen, dass eine bestimmte Anordnung von Geschlechtlichkeit auf Unter- und Überordnungsverhältnissen basiert. Mit Jungengruppen kann man daran arbeiten, wie sie selber innerhalb ihrer Gruppe diese Über- und Unterordnungsverhältnisse herstellen. Danach zu schauen, ob sie das eigentlich gut finden oder schlecht. Diese Verhältnisse sind ja in der Regel für alle Beteiligten auch sehr anstrengend! Den Ansager in einer Jungengruppe zu spielen enthält vielleicht das Versprechen von jugendlich männlicher Souveränität, ist aber auch davon gekennzeichnet immer den Coolen zu mimen, die Position gegenüber anderen zu verteidigen. Die anderen müssen sich mehr oder weniger unterordnen bzw. werden untergeordnet. Mit Jungengruppen kann man durchaus pädagogisch daran arbeiten, wie diese Verhältnisse innerhalb ihrer eigenen sozialen Strukturen hergestellt werden. Man kann das mit der Frage verbinden, ob sie das gut oder schlecht finden, wie sie sich ihre Freundschaften wünschen, was sie ändern wollen. Wir alle engen uns und unsere Möglichkeiten in diesen geschlechtermäßigen Ausrichtungen permanent selbst ein. Solche Verhältnisse muss man erst mal deutlich machen und klarstellen, dass die mit Herrschaft und Diskriminierung verbunden sind. In einem nächsten Schritt kann man herausfinden, was wir in diesen Geschlechterterritorien verlieren und was man aber vielleicht behalten will. Wie kann eine individuelle Umgangsweise aussehen, wie können wir unsere Bedürfnisse und Wünsche so umsetzen, dass wir nicht das Gefühl haben, wir müssen auf vieles verzichten? Sondern auch die Möglichkeit haben, auf eine große Bandbreite an Handlungsmustern zurückzugreifen? Ohne befürchten zu müssen, als weiblich hingestellt zu werden oder als schwul, als unzulänglich nach dem Motto "Du bist ja gar kein richtiger Junge!“? Das geht ja los an so Punkten wie "Du bist zu gefühlvoll, du bist zu freundlich, du hältst dich zu viel mit den Mädchen auf, du bist zu fleißig in der Schule, du bist natürlich zu unsportlich, du wehrst dich nicht ...“ Da sind all diese Anforderungen ...

Ist das Ergebnis, dass man lernt, mit diesen Anforderungen zu leben und zu sagen: "Ist mir doch egal."?

Hm. Ich glaube nicht, dass es gelingt zu sagen: "Ist mir doch egal." Da unterschätzen wir die Macht der Vergeschlechtlichung. Es ist immer noch so, dass die soziale Anerkennung dann am leichtesten gelingt, wenn man sich relativ eindeutig als "richtiger Junge" oder "richtiges Mädchen" zeigt. Vielleicht ist es eher anzustreben, dass "es egal ist“. Das ist dann aber eher eine gesellschaftliche Aufgabe als eine bloß individuelle Entscheidung. Es geht vor allem darum zu verstehen, dass die gerade genannten vermeintlichen Eigenschaften oder Dinge, die wir "normalerweise“ tun, Anforderungen sind und ich mich jeweils dazu in ein Verhältnis setze, ich mich aber auch zur Wehr setzen und – auch schon als Kind oder Jugendlicher – sagen darf/kann: "Hey, diese Anforderung weise ich zurück." Das ist schwer. Auch für erwachsene Männer, die leben ja schon so lange mit diesen Anforderungen und sind es gewohnt sie zu erfüllen. Es ist viel schwerer, Männlichkeitsanforderungen zurückzuweisen als darauf einzusteigen. Wünschenswert ist eine beständige Reflexion von Männlichkeitsvorstellungen und -versprechungen.

Der Soziologe und Bildungsreferent der Jugend- und Erwachsenenbildung Olaf Stuve arbeitet bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung in Berlin. Lange Jahre hat er mit Jungengruppen gearbeitet. Dissens bietet seit 1989 Fortbildungen zur geschlechterreflektierten Pädagogik für Schulen und Einrichtungen der Jugendarbeit an.