Nach wie vor ist der Rechtsextremismus in unserem Land für die demokratische Gesellschaft eine Herausforderung. Zwar nehmen die Wahlerfolge einschlägiger Parteien, z. B. der NPD, ab oder stagnieren, aber ausländerfeindliche und antisemitische Straftaten, Hetze gegen Flüchtlinge und Minderheiten, rassistische Ausfälle und Überfälle, rechtsextremistische Aktivitäten insgesamt nehmen nicht ab, im Gegenteil. Entwarnung ist also nicht angesagt.
Die besondere Herausforderung für die Zivilgesellschaft besteht darin, dass Rechtsextremisten einerseits an Vorurteile, Ängste, Unsicherheiten bei Teilen der Bevölkerung anknüpfen, sie verstärken und propagandistisch ausnutzen. Zum anderen nehmen sie – die die Überwindung unserer demokratischen Verfassung wollen – selbst demokratische Grundrechte und Instrumente in Anspruch, um ihre Ziele zu erreichen. Weil Meinungs- und Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten gilt, ebenso das Versammlungsrecht, sind viele Menschen unsicher, was sie tun sollen, was erlaubt ist oder nicht – wenn sie ihre Ablehnung rechtsextremer Aktivitäten tatkräftig zeigen, wenn sie sich wehren wollen. Ich beobachte immer wieder eine beträchtliche Unsicherheit bei Kommunen, bei Bürgern, wie viel an offensivem Umgang mit Rechtsextremismus, an tätiger Gegnerschaft zulässig ist.
Was ist verhältnismäßig? Wie weit darf der Widerspruch, der Widerstand gegen die öffentliche Verbreitung rechtsextremer Positionen, gegen die Auftritte und Inszenierungen der Rechtsextremen gehen? Sind also z. B. Blockaden legitim und legal oder eben nicht?
Ich habe meine persönlichen Erfahrungen mit diesen Fragen. Am 1. Mai 2010 habe ich in Berlin-Prenzlauer Berg an einer Sitzblockade gegen einen Neonazi-Aufmarsch teilgenommen. Sie ist auf freundlich-friedliche Weise von der Polizei beendet worden, die dann ihrerseits den Neonazi-Aufmarsch beendete. Ich wurde danach nicht nur kritisiert, sondern auch beschimpft, mein Rücktritt wurde gefordert. Worum ging es mir?
Wenn Neonazis in Berlin "ihren" 1. Mai begehen, so ist dies nicht mehr und nicht weniger als die perfide Instrumentalisierung dieses traditionsreichen Feiertages für ihre reaktionären, demokratiefeindlichen Ziele. Es ist der Missbrauch eines demokratischen Rechts zu antidemokratischen Zwecken. Das muss wachsame Demokraten auf den Plan rufen. Gerade in Berlin weiß man, was davon zu halten ist, wenn Nazis diesen Tag "feiern" wollen. Auch 1933 begingen sie den 1. Mai als „Tag der nationalen Arbeit“. Bereits am darauffolgenden Tag, dem 2. Mai 1933, stürmten die Nazis in Berlin die Gewerkschaftshäuser, verschleppten Funktionäre und Gewerkschaftsführer in Konzentrationslager, misshandelten und ermordeten sie. Schon einmal musste man in Deutschland schmerzhaft erfahren, wohin es führen kann, wenn man nicht rechtzeitig und vehement für Menschenwürde und Demokratie eintritt, sondern jene gewähren lässt, die beides – den Menschen wie die Freiheit – verachten.
Dass Neonazis mitten durch Berlin marschieren, können Demokraten deshalb nicht schweigend hinnehmen. Es war gut und notwendig, dass die Bürger die Straßen und Plätze ihrer Stadt verteidigen gegen die Besetzung des öffentlichen Raumes durch Rechtsextreme. Am 1. Mai haben 10.000 Berlinerinnen und Berliner Courage gezeigt und sich im Prenzlauer Berg dem Aufmarsch der Neonazis entgegen gestellt. Und sie hatten Erfolg damit. Sie haben gezeigt, dass sie die Instrumentalisierung des 1. Mai und die Verbreitung einer Ideologie der Ungleichwertigkeit der Menschen nicht einfach geschehen lassen, sondern laut und deutlich widersprechen und damit für Freiheit und Solidarität, für Menschenwürde und Menschenrechte eintreten und unsere Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen.
Im Februar 2012 war ich in Dresden, um gegen den (wiederholten) Aufmarsch der Rechtsextremen und für Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren. Und sah mich vor ein überraschendes Problem gestellt: Wer nämlich daran teilnehmen wollte, der sollte seinen Protest in kilometerweiter Entfernung zum Neonazi-Aufmarsch kundtun. Die Innenstadt war abgesperrt, Anreisende in Bussen wurden vor der Stadt angehalten und mussten den weiteren Weg zu Fuß zurücklegen. Eine Kundgebung des DGB vor dessen eigenem Gewerkschaftshaus wurde kurzfristig verboten. Mahnwachen der Kirchen in der Dresdener Innenstadt waren schlecht besucht, denn viele kamen aufgrund der Absperrungen erst gar nicht dorthin.
Begründet wurden all diese Maßnahmen mit der angeblichen Notwendigkeit einer "weiträumigen Trennung" von Demonstranten und Gegendemonstranten. Die Behörden erhoben diesen polizeilichen Ansatz gar zum "Trennungsgebot". Damit wurde suggeriert, dass die Trennung der Demonstranten wichtiger sei als die Demonstrationsfreiheit. Aber das Gegenteil ist richtig. Polizeimaßnahmen sind am Grundrecht der Demonstrationsfreiheit zu messen – und nicht umgekehrt die Demonstrationsfreiheit an polizeitaktischen Erwägungen.
In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Versuche gegeben, friedlichen Protest und gewaltfreie Blockaden zu kriminalisieren oder als linksextrem zu diskreditieren. Solche Kriminalisierungsversuche haben es vielen Demokraten immer wieder schwer gemacht, auf die Straße zu gehen und gegen die missbräuchliche Aneignung des öffentlichen Raums oder des gemeinsamen Gedenkens durch die Neonazis zu protestieren. Das hat dazu beigetragen, dass die Neonazis sich in Dresden ungestört ausbreiten konnten und ihre Aufmärsche innerhalb weniger Jahre mit bis zu 8.000 Teilnehmern zum größten Neonazi-Treffen in ganz Europa werden konnten. Inzwischen hat sich die Situation glücklicherweise sehr geändert: Dresden ist sich einiger als früher in der entschlossenen Gegnerschaft gegen diese Neonazi-Treffen und erfolgreich damit.
Es bleibt grundsätzlich zu fragen: Was ist Bürgerrecht und Bürgerpflicht? Darf gewaltfreier, ziviler Ungehorsam in einer rechtsstaatlichen Demokratie kriminalisiert, also Grund für Bestrafung sein? Das Bundesverfassungsgericht hat die Demonstrationsfreiheit stets als einen Pfeiler der Demokratie begriffen und klargestellt, dass sie nicht nur das Recht zur öffentlichen Versammlung beinhaltet, sondern auch ein Recht auf Protest in Hör- und Sichtweite derjenigen, gegen die demonstriert wird. Und es hat klargestellt: Auch Sitzblockaden als besondere Form der Meinungskundgebung sind nach dem Grundgesetz zulässig. Sie sind nach Auffassung der Verfassungsrichter – so ein Beschluss des Gerichts vom März 2011 – als politisch motivierte friedliche Sitzblockaden vom Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt. Nur unfriedliche Versammlungen genießen keinen Grundrechtsschutz.
Sitzblockaden sind gewiss eine Form von zivilem Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam aber ist Ausdruck einer bürgerschaftlichen Wachsamkeit in der Demokratie. Einer Wachsamkeit, die danach fragt, ob das positive Recht und die Art seiner Anwendung den verfassungsmäßigen Standards von Menschenwürde, Menschenrechten, Gerechtigkeit und Demokratie auch tatsächlich entspricht. Ob also die Gewährung und Nutzung von Versammlungs-, Demonstrations- und Meinungsfreiheit diesen Standards entspricht. Es mag durchaus eine Spannung geben zwischen dem positiven Recht und der Gerechtigkeit, zwischen "rechtlich zulässig" und "richtig", zwischen Gesetz und Gewissen. Diese Spannung aufzulösen mag nicht immer gelingen, sie ist in jedem Fall eine Gratwanderung, es kommt immer auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an. Einer Verhältnismäßigkeit von beiden Seiten, von Seiten der Demonstranten wie von der staatlichen Gewalt, der Polizei. In jedem Falle ist es falsch, zivilen Ungehorsam, also Gegendemonstranten und Blockierer, als Gesetzesverletzer zu verdächtigen und zu kriminalisieren. Das entscheidende Kriterium der Bewertung ist die Friedlichkeit der Demonstration, der Demonstrierenden, der Blockaden!
Es bleibt dabei: Als Demokraten dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wenn Rechtsextreme durch unsere Städte marschieren. Wir haben die Pflicht, unser Recht auf Demonstrationsfreiheit in Anspruch zu nehmen, denn wir dürfen nicht schweigend und widerspruchslos den Neonazis den öffentlichen Raum überlassen. Unsere Straßen und Plätze sollen keine Zonen des Gebrülls, des Hasses und der Gewalt sein, sondern demokratische Räume der Vielfalt und der Friedfertigkeit. Dafür einzutreten, verpflichtet der politische Anstand. Nicht erst seit der Aufdeckung der Mordtaten der sogenannten Zwickauer Terrorzelle ist klar, dass der Kampf gegen Rechtsextremismus nicht allein Sache der staatlichen Institutionen sein darf (vor allem dann nicht, wenn sie so eklatant versagen wie im Falle des NSU). Sondern er muss Aufgabe aller Demokraten, der Zivilgesellschaft insgesamt sein! Wir sollten uns dabei immer einmal wieder der entschlossenen Friedfertigkeit erinnern, die unsere Demokratie-Revolution 1989 geprägt und erfolgreich gemacht hat.