Für die Nationalsozialisten waren martialische Großaufmärsche ein wichtiger Teil ihrer Strategie, eine Massenbewegung zu werden. Bereits lange vor der Machtübertragung 1933 ging es darum, Stärke zu zeigen und sich als schlagkräftige, straff organisierte Truppe zu inszenieren. Jeder Aufmarsch diente auch als Kampfansage an politische Gegner und endete nicht selten mit Straßenschlachten und Todesopfern. Wenn die heutige rechtsextreme Szene aufmarschiert, geht es dagegen meist darum, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und für die eigene Klientel identitätsstiftende Gemeinschaftserlebnisse zu schaffen. Zwar soll die Präsenz auf der Straße auch Menschen einschüchtern, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Ein Zeichen der Stärke sind die Aufmärsche aber nur selten.
Trotzdem vergeht kaum ein Wochenende, an dem nicht irgendwo in Deutschland eine Neonazi-Demonstration stattfindet. Mal sind es nur 50 Teilnehmer, mal einige hundert, bei bundesweiten Großveranstaltungen aber marschieren teilweise mehr als 1.000 Teilnehmer. Gerade für junge Rechtsextreme sind diese Märsche spannende "Events", auf die wochenlang hingefiebert wird. Für rechtsextreme Veranstalter wie die NPD sind die Aufzüge eine sichere Möglichkeit, in die Medien zu gelangen, ganz nach dem Motto: "Auch schlechte Presse ist gute Presse." Je mehr Aufmärsche, desto besser.
Das war nicht immer so. Bis Anfang der 1990er Jahre waren öffentliche Veranstaltungen von Rechtsextremen noch die Ausnahme. Lediglich die jährlichen Rudolf Heß Gedenkmärsche, die nach dem Tod des Hitler-Stellvertreters 1987 einsetzten, zogen größere Aufmerksamkeit auf sich. Erst mit dem 1996 neugewählten NPD-Bundesvorsitzenden Udo Voigt setzte ein Strategiewandel ein, der nach und nach das gesamte rechtsextreme Spektrum erfasste und bis heute anhält. Voigt gelang es, große Teile des aktionistischen Spektrums der Freien Kameradschaften an die Partei zu binden. 1997 verkündete er ein neues "Drei Säulenkonzept". Die NPD sollte sich auf den "Kampf um die Köpfe", den "Kampf um die Parlamente" und den "Kampf um die Straße" konzentrieren, der mit so vielen Aufmärschen wie möglich geführt werden sollte. Nicht zuletzt, um die zerstrittene Szene wieder zu vereinen und die öffentlich Aufmerksamkeit auf die Partei zu lenken.
Schon kurz nach der Veröffentlichung des Strategiepapiers zeigte sich der Erfolg der neuen Taktik. An einer NPD-Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung am 1. März 1997 in München nahmen fast 5.000 Rechtsextremisten teil. Ein beachtliche Zahl, zumal die NPD zu dieser Zeit nur noch rund 4.000 Mitglieder zählte. Auch die Teilnehmerzahlen der Heß-Märsche in Wunsiedel stiegen in der Folgezeit immer weiter an. Ein regelrechter Demonstrationstourismus setzte ein. Für große Kameradschaften gehörte es bald zum guten Ton, bundesweit an so vielen Aufmärschen wie möglich teilzunehmen. Allein zwischen 1997 und 2004 hat die NPD nach eigenen Angaben mehr als 260 Demonstrationen organisiert. Seit einigen Jahren sind es konstant mehr als 100 Aufmärsche und Kundgebungen pro Jahr. 2012 zählte der Verfassungsschutz 112 NPD-Aufmärsche, hinzu kommen 95 öffentliche Veranstaltungen der parteiunabhängigen Neonazi-Szene.
Der Kampf gegen den "Kampf um die Straße"
Die Zivilgesellschaft wurde Ende der 1990er Jahre von der Vielzahl und der Größe rechtsextremer Aufmärsche überrascht. Protestaktionen beschränkten sich zu dieser Zeit meist darauf, eine Gegendemonstration mit möglichst höherer Teilnehmerzahl als die der Rechtsextremen zu organisieren. Die demokratischen Kräfte sollten - auch medial - ein starkes und sichtbares Gegengewicht zu den Neonazis bieten. Es fehlte an Erfahrungen und Konzepten, wie man mit der neuen Situation umgehen sollte. Viele Menschen waren und sind zwar bereit, die von Politikern immer wieder geforderte Zivilcourage gegen Rechtsextremismus umzusetzen. Die Frage, wie dies in der Praxis konkret aussehen soll, blieb jedoch unbeantwortet, auch wenn es immer wieder Versuche gab, auch ungewöhnliche Aktionsformen gegen Neonazi-Veranstaltungen auszuprobieren.
Mit der Aktion "Wir zeigen den Nazis die kalte Schulter" protestierten 2001 beispielsweise zahlreiche große Berliner Geschäfte gegen einen Aufmarsch auf dem Kurfürstendamm. Verhüllte Schaufenster, heruntergelassene Rollläden und dunkle Ladenlokale entlang der Route sollten ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen. Ebenfalls in Berlin, bei einem NPD-Aufmarsch am 1. Mai 2004, gab sich eine Gruppe linker Skinheads der Polizei gegenüber als Neonazis aus und schaffte es so, bis auf wenige Meter an die Rechtsextremisten heranzukommen. Dort entrollten sie ein Transparent mit der Aufschrift "Skinheads gegen Nazis". Die Polizei beendete die Aktion nach wenigen Minuten. Nach wie vor gibt es in einigen Städten "Demokratiefeste", die - weitab von der Route der Neonazis - ein buntes Zeichen gegen Rechtsextremismus und Rassismus setzen sollen. Die Außenwirkung der genannten Protestformen blieb jedoch bislang begrenzt. Von der Neonazi-Szene wurden diese Versuche eher belächelt, eine ernsthafte Störung der rechten Aufmärsche ging nicht davon aus.
Demonstrationsrecht gilt auch für Nicht-Demokraten
Also versuchten die von den Aufmärschen betroffenen Städte sich anfangs, mit Verboten zu wehren. Als Begründung diente meist die "Bedrohung der öffentlichen Sicherheit". Doch schon im Jahr 2000 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass diese Begründung allein für ein Verbot nicht ausreicht, das im Grundgesetz verankerte Demonstrationsrecht wiegt höher. So mussten viele in der ersten Instanz ausgesprochene Verbote von neonazistischen Aufmärschen von den Gerichten wieder aufgehoben werden. Die rechtsextreme Szene klagt seither, unterstützt von professionellen Anwälten, gegen nahezu jede Verbotsverfügung – und hat damit fast immer Erfolg.
Die Einsicht, dass sich Neonazi-Aufmärsche auf dem juristischen Weg nicht verhindern lassen, führte zu einer langjährigen Diskussion innerhalb der Zivilgesellschaft und antifaschistischen Gruppen, welche neuen Protestformen möglich seien. Der Strategiewechsel zeichnete sich 2007 ab. Die erfolgreichen Proteste gegen die Castor-Transporte mit stundenlangen Massenblockaden der Gleise lieferten damals die Vorlage für die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Dies nahmen Aktivisten zum Anlass, auch über friedliche Massenblockaden großer Naziaufmärschen zu diskutieren. Friedliche Sitzblockaden hatte es auch früher schon gegeben, doch waren das meist spontane, von kleinen Gruppen getragene Aktionen gewesen, kein Gesamtkonzept der Gegenmobilisierung. Im Herbst 2009 aber entstand das Bündnis "Nazifrei! – Dresden stellt sich quer". In der sächsischen Landeshauptstadt hatte sich zu dieser Zeit der größte Neonaziaufmarsch Europas mit jährlich bis zu 7.000 Teilnehmern zum Jahrestag der Bombardierung durch die Alliierten am 13. Februar etabliert. Alle bisherigen Protestaktionen waren erfolglos verlaufen.
2010 ließen sich erstmals mehrere tausend Aktivisten zu Sitzblockaden auf Dresdens Straßen nieder. Die Neonazis mussten sich mit einer Kundgebung zufriedengeben, kein Meter wurde marschiert. Zudem waren offenbar allein wegen der Ankündigung, den Neonaziaufmarsch zu blockieren, nur 5.000 Teilnehmer und damit weit weniger Rechtsextremisten als in den Vorjahren nach Dresden angereist. In den Folgejahren stieg stetig die Zahl der Sitzblockierer, während die "Trauermarschierer" immer weniger wurden. Am 13. Februar 2014 fand schließlich gar kein Aufmarsch mehr statt. Die rechtsextreme Szene hatte enttäuscht aufgegeben. In Strategiepapieren wird seither hitzig diskutiert, ob es sich angesichts der Blockadeaktionen überhaupt noch lohne, bundesweite Großveranstaltungen zu organisieren.
Sind Sitzblockaden strafbar oder nicht?
Seit dem Erfolg von Dresden-Nazifrei hat sich das Blockade-Konzept etabliert, in zahlreichen Städten sind ähnliche Bündnisse entstanden. Ihr Ziel ist es, immer möglichst alle Neonazi-Gegner in die Sitzblockaden einzubeziehen, von Antifa über Gewerkschaften bis hin zu den demokratischen Parteien. Es gibt kaum noch Proteste gegen rechtsextreme Demonstrationen, bei denen nicht auch zu Blockaden aufgerufen wird. In Bad Nenndorf und Berlin wurde das Konzept inzwischen so weiterentwickelt, dass sich – wieder nach dem Vorbild der Castor-Gegner – Aktivisten auf der Route an Betonpyramiden gekettet haben.
Nur: Ist die Blockade einer genehmigten Neonazi-Demonstration eigentlich rechtlich in Ordnung? Darüber streiten die Geister. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt auch für Neonazis: "Jedermann hat das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen", heißt es im "Gesetz über Versammlungen und Aufzüge" in Abschnitt 1, Paragraf 1. Im Abschnitt IV werden Straf- und Busgelder geregelt. Dort steht: "Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
Das Bundesverfassungsgericht hat 2011 entschieden, dass eine Sitzblockade nicht zwangsläufig als Gewalt anzusehen ist. Sitzblockaden, so das oberste Gericht, können unter bestimmten Umständen vom Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit gedeckt sein. (AZ: 1 BvR 388/05) Das bedeutet, dass Blockaden keine strafbare Nötigung sind, wenn die politischen Ziele der Demonstranten die von der Blockade ausgehende Gewalt überwiegen.
Trotzdem werden Sitzblockierer immer wieder bei ihren Aktionen festgenommen und Ermittlungen eingeleitet. In Sachsen wurde dafür eigens die Immunität einiger Landtagsabgeordneter aufgehoben. Von Fall zu Fall entscheiden die Gerichte eben unterschiedlich. Viele Verfahren werden eingestellt, oft gibt es Freisprüche, selten Verurteilungen. Für viele Neonazi-Gegner steht deshalb fest, dass Massenblockaden auch in Zukunft das erfolgreichste Mittel bleiben, um Neonazi-Aufmärsche zu stoppen.