Warschau. Zu einem wichtigen Gradmesser für die Stärke rechtsextremer Strömungen in Polen ist seit einigen Jahren der 11. November geworden. Der Nationalfeiertag erinnert an die Republikgründung von 1918. Damals erlangte Polen nach mehr als 120 Jahren russischer, deutscher und österreichischer Fremdherrschaft seine staatliche Unabhängigkeit wieder – bis die Truppen Hitlers und Stalins 1939 erneut über das Land herfielen. Die freiheitsliebende Nation im Herzen Europas trug ein weiteres halbes Jahrhundert die Fesseln der Unfreiheit. Erst nach dem Sieg der friedlichen Revolution von 1989 kehrte mit der Unabhängigkeit auch der 11. November als Feiertag zurück.
Es ist wichtig, diese Geschichte im Hinterkopf zu behalten, um die extremistische "Mobilmachung" und das Anwachsen rechter Gewalt am 11. November seit dem Jahr 2010 richtig einordnen zu können. Die meisten Polen feiern den Tag friedlich mit Volksfesten, Gedenkreden und Kranzniederlegungen. Veteranen in historischen Uniformen ziehen durch die Städte. Sie alle – Linke und Liberale, Konservative und Katholiken – verbindet in einer vorpolitischen Sphäre das Grundgefühl eines Patriotismus, der sich aus der langen Erfahrung der Unterdrückung speist.
Innerhalb weniger Jahre jedoch haben rechtsextreme Gruppen "den Unabhängigkeitstag annektiert", wie die linksliberale Zeitung "Gazeta Wyborcza" im vergangenen Herbst schrieb. Vor allem gilt das für die Hauptstadt Warschau. 2010 versammelten sich dort einige Tausend Rechte, um bei einem "Marsch der Unabhängigkeit" buchstäblich Flagge zu zeigen. In das Meer weiß-roter Nationalfahnen mischten sich die hakenkreuzähnlichen Banner neofaschistischer Gruppen. Ein Großaufgebot der Polizei trennte die Marschierer von linksautonomen Gegendemonstranten. Im Herbst 2011 kam es erstmals zu Krawallen mit rund 70 Verletzten, darunter 40 Polizisten.
"Marsch der Unabhängigkeit" inzwischen in rechtsextremer Hand
Seit 2012 bestimmen die rechtsextremen Marschierer in Warschau am 11. November das Geschehen nahezu allein. Mehrere Zehntausend Menschen zogen damals unter Losungen wie "Gott, Ehre, Vaterland" und "Polen, das sind wir!" durch die Stadt. Fußball-Hooligans, die in den Stadien immer wieder mit rassistischen und antisemitischen Hassparolen auffallen, mischten sich darunter und entfesselten Straßenschlachten mit der Polizei. Pflastersteine und Brandsätze flogen. Es gab mehrere Dutzend Verletzte und mehr als 200 Festnahmen. Im November 2013 schlossen sich dem "Marsch der Unabhängigkeit" bereits bis zu 100.000 Polen an. Erneut attackierten vermummte Randalierer die Polizei – trotz einer klaren Deeskalationsstrategie der Sicherheitskräfte. Die Rechten skandierten nationalistische Losungen und griffen mit Feuerwerkskörpern die russische Botschaft an.
Organisatoren des "Marsches der Unabhängigkeit" sind extremistische Gruppen, die ideologisch an die Tradition der nationalistischen, teils faschistischen und antisemitischen polnischen Rechten der Zwischenkriegszeit anknüpfen. Dazu zählen insbesondere das National-Radikale Lager (ONR), die Allpolnische Jugend (MW) und die NOP, die Nationale Wiedergeburt Polens. Am 11. November 2012 schlossen sich ONR und MW mit weiteren rechtsextremen Splittergruppen zur sogenannten Nationalen Bewegung zusammen, zum "Ruch Narodowy" (RN), der als Sammelbecken für alle national denkenden Polen gedacht ist und zur Keimzelle einer neuen politischen Kraft werden soll.
Vorbild des RN ist die rechtsextreme, offen rassistische und antisemitische ungarische Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn), die bei der Wahl 2010 fast 17 Prozent der Stimmen errang und mit 43 Abgeordneten ins Parlament in Budapest einzog und ihr Ergebnis 2014 sogar noch verbessern konnte. Von solchen Erfolgen ist Polens Nationale Bewegung zwar noch weit entfernt, in Umfragen zur kommenden Europawahl wurde dem RN zuletzt regelmäßig ein klares Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde prophezeit. Doch der Einfluss der rechtsextremen Gruppen reicht bis in die konservativ-katholische Mitte der Gesellschaft.
Rot-weiß statt bunt – die Grenzen zum rechten Rand sind fließend
Sichtbares Zeichen dieses Trends ist nicht nur die rasche Zunahme der Teilnehmerzahl beim "Marsch der Unabhängigkeit", in den sich zuletzt nicht nur gewaltbereite, meist männliche Randalierer, sondern auch viele junge Frauen und sogar Familien mit Kindern einreihten. Zum Fanal wurde am 11. November 2013 vor allem der Angriff auf eine symbolträchtige Regenbogenskulptur im Herzen Warschaus. Das Werk in den Farben der Homosexuellen-Bewegung, das die Danziger Aktionskünstlerin Julita Wójcik zur polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2011 geschaffen hatte, stand für Toleranz und Weltoffenheit. Es sollte im neuen, modernen und europäischen Polen einen Bogen über gesellschaftliche Gräben schlagen. Doch nicht zuletzt der Standort gegenüber der katholischen Erlöserkathedrale provozierte wütende Reaktionen.
Am 11. November setzten die rechtsextremen Marschierer das Metallgerüst in Brand, das Wójcik mit rund 20.000 Blumen aus Krepppapier bestückt hatte. Bezeichnend waren vor allem die Reaktionen auf den Anschlag. Während die liberale Warschauer Oberbürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz einen schnellen Wiederaufbau des Regenbogens ankündigte, fand sich in den Kreisen von national und katholisch gesinnten Konservativen niemand, der die Attacke der Rechtsextremisten öffentlich verurteilt hätte.
Im Gegenteil: Der Prediger Tadeusz Rydzyk, der in seinem ultrakatholischen Sender Radio Maryja seit Jahren Stimmung gegen Schwule und Lesben macht, wetterte: "Solche Symbole einer Perversion dürfen wir nicht tolerieren." Homosexualität sei eine Krankheit. Rechte Fußball-Hooligans skandierten in Stadien: "Unser Stolz ist rot-weiß, nicht regenbogenfarben!" Und der Parlamentarier Bartosz Kownacki von der nationalkonservativen Partei PIS, die unter Ex-Premier Jaroslaw Kaczyński Polens rechte Mitte vertritt, nannte den Regenbogen eine "Werbung für die Pädophilie".
Die verbalen und realen Attacken auf den Warschauer Regenbogen im Umfeld des 11. November zeigen, dass die Grenzen zwischen nationalkonservativ-katholischem "Mainstream", rechtem Populismus und Extremismus in Polen fließend sind. Der Soziologe Rafał Pankowski ist daher auch überzeugt davon, dass "die Wirkung nationalistischer Ideen weit mehr als ein Randphänomen des politischen Spektrums darstellt"
Polnischer Freiheitsheld mit rassistischer Ideologie
Historischer Leitstern der meisten rechtsextremen Gruppen ist einer der Mitbegründer der Zweiten Republik, Roman Dmowski. Das wiederum macht die ideologische und politische Auseinandersetzung vor allem für die liberal-konservativen, proeuropäischen Kräfte um Premierminister Donald Tusk und Präsident Bronislav Komorowski nicht leicht. Dmowski wird in Polen bis heute als Nationalheld verehrt. Wie selbstverständlich trägt der wichtigste Warschauer Verkehrsknotenpunkt seinen Namen. Am zentralen Dmowski-Denkmal endet traditionell der "Marsch der Unabhängigkeit". Auch Präsident Komorowski legte dort wiederholt Kränze nieder.
Problematisch ist die historische Figur Dmowskis, weil der Freiheitskämpfer zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur die nationale Wiedergeburt Polens nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft forderte, sondern auch eine offen rassistische und antisemitische Ideologie propagierte. Daran knüpfen die Rechtsextremen heute an. Der Ehrenvorsitzende der Allpolnischen Jugend und erste Chef der Nationalen Bewegung RN, Robert Winnicki, erklärte 2013 im Fernsehsender Polsat: "Die Zweite Republik ist an einer Überrepräsentation des Judentums in polnischen Lehranstalten zugrunde gegangen." Niemand in der TV-Runde widersprach damals.
Es ist kein Zufall, dass die Rechtsextremen bei der Namensgebung ihrer Gruppen auf Vorbilder aus der Zwischenkriegszeit zurückgreifen. Sowohl das National-Radikale Lager als auch die Allpolnische Jugend sind Organisationen, die es bereits in den 1930er Jahren gab – damals als antisozialistische, antidemokratische und offen judenfeindliche Kampfverbände. Heute kommt ein antieuropäischer Grundton hinzu. "Die 68er Revolution, die Europas heutige Eliten hervorgebracht hat, ist ein Vorzeichen für den Niedergang des Abendlandes", sagt Winnicki und hat dabei unter anderem EU-Kommissionschef José Manuel Barroso im Sinn, "der ein Maoist war".
Derzeit ist es dem Ruch Narodowy, anders als Jobbik in Ungarn, noch nicht gelungen, die rechtsextremen Strömungen in Polen politisch zu kanalisieren. Das Land ist seit Jahren wirtschaftlich erfolgreich und damit weniger anfällig für populistische Parolen. Das jedoch war schon einmal anders, und es soll nach den Plänen der RN-Führung auch wieder anders werden. Kurz nach dem Beitritt Polens zur EU im Jahr 2004 errangen die fundamental-katholische, nationalistische Liga Polnischer Familien (LPR) von Roman Giertych und die rechtspopulistische Samoobrona (Selbstverteidigung) des Bauernführers Andrzej Lepper vielbeachtete Wahlerfolge. Die LPR erzielte bei der Europawahl 2004 fast 16 Prozent der Stimmen. Die Samoobrona kam bei der nationalen Wahl 2005 auf 11,4 Prozent.
Die beiden Rechtsaußen Giertych und Lepper traten 2005 in eine Koalition unter Führung der nationalkonservativen Kaczynski-Partei PIS ein. Giertych, der 1989 die Wiedergründung der Allpolnischen Jugend initiiert hatte, machte als Vize-Premier vor allem durch Attacken gegen Homosexuelle auf sich aufmerksam. Als die rechte Kaczyński-Koalition 2007 scheiterte und sowohl die LPR als auch Samoobrona in der politischen Versenkung verschwanden, hinterließen sie auf der äußersten Rechten eine Lücke, in die nun der Ruch Narodowy zu stoßen versucht.
Beginnende Wirtschaftskrise kann Aufschwung des rechten Lagers bedeuten
Derzeit gibt es in diesem Teil des Parteienspektrums noch zu viel Konkurrenz, als dass sich für eine rechtsextreme Bewegung wie den RN eine echte Machtperspektive böte. Bei der Europawahl treten unter anderem die sogenannte Neue Rechte des exzentrischen EU-Gegners Janusz Korwin-Mikke und die PIS-Abspaltung Solidarisches Polen des ehemaligen Kaczyński-Innenministers Zbigniew Ziobro an, dem noch immer der Ruf des "schwarzen Sheriffs" anhängt – eines sicherheitspolitischen Fanatikers. Nicht zuletzt versucht Polens Oppositionsführer Jaroslaw Kaczyński selbst, möglichst alle Stimmen auch auf der äußersten Rechten für sich zu gewinnen.
Kaczyńskis Vorbild ist nicht zufällig der rechtspopulistische ungarische
Kaczyńskis einstiger Mitstreiter Artur Zawisza, der inzwischen in der RN-Führung mitmischt, warnt: "Polen darf nicht der Depp Europas sein und ökonomischen Selbstmord verüben." Solche Parolen kommen durchaus an in einem Land, das nach zehn Jahren des Wirtschaftswunders mit Anzeichen einer Krise zu kämpfen hat. Die Arbeitslosigkeit ist in Polen im Winter auf 14 Prozent gestiegen. Vor fünf Jahren waren es noch rund sieben Prozent. Auch das Wachstum blieb 2013 mit 1,6 Prozent auf dem niedrigsten Niveau seit dem EU-Beitritt 2004. Vor allem viele junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren arbeiten auf Grundlage sogenannter Müllverträge ohne jede soziale Absicherung. Es gibt für sie in der Regel keinen Kündigungsschutz und keine oder nur minimale Zuschüsse zu Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die meisten "Müllverträge" sind zudem zeitlich begrenzt. Oft handelt es sich auch um Formen der Scheinselbstständigkeit. Zawisza sagt: "Der Marsch der Unabhängigkeit am 11. November ist Ausdruck der sozialen Revolte der jungen Generation gegen das politische Establishment." Behält er recht, könnten Polen bei einer andauernden Wachstumsschwäche stürmische Zeiten bevorstehen.