Knapp 1.400 Seiten umfasst der Abschlussbericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der von den Obleuten aller Fraktionen am 22. August 2013 Parlamentspräsident Dr. Norbert Lammert (CDU) übergeben und dann der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Akribisch verzeichnet der Bericht die Fehler und Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden bei der elf Jahre langen, erfolglosen Suche nach den Tätern der rassistischen Mordserie an neun migrantischen Kleinunternehmern zwischen 2000 und 2006, von zwei gegen Migranten zielenden Sprengstoffanschlägen in Köln 2001 und 2004 sowie des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter und des Mordversuchs an ihrem Kollegen in Heilbronn im Jahr 2007.
Ebenso schonungslos beschreiben die Abgeordneten das Versagen bei der Suche nach den flüchtigen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, die vielfach polizeilich auffällig gewesen waren und nach denen seit Januar 1998 als Sprengstoffattentäter per Haftbefehl gefahndet wurde. Der Bericht zeigt schwere Versäumnisse der Inlandsnachrichtendienste – des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Landesbehörden für Verfassungsschutz – bei der Analyse und der Bekämpfung von neonazistischer Gewalt und rechtsextremem Terrorismus.
Der Bundestagsuntersuchungsausschuss hatte auf einstimmigen Beschluss des Bundestages hin im Februar 2012 seine Arbeit aufgenommen und im Verlauf von knapp eineinhalb Jahren rund 100 Zeugen und Sachverständige gehört und mehr als 12.000 Bände Akten durchgearbeitet. Das Parlament hatte den 22 Abgeordneten des Untersuchungsausschusses durch einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen vom 24. Januar 2012 zwei zentrale Arbeitsaufträge erteilt:
Das Gremium sollte sich "ein Gesamtbild verschaffen zur Terrorgruppe ’Nationalsozialistischer Untergrund’, ihren Mitgliedern und Taten, ihrem Umfeld und ihren Unterstützern sowie dazu, warum aus ihren Reihen so lange unerkannt schwerste Straftaten begangen werden konnten.“
Darüber hinaus sollte der Ausschuss "Schlussfolgerungen für Struktur, Zusammenarbeit, Befugnisse und Qualifizierung der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden und für eine effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus ziehen und Empfehlungen aussprechen.“
Im Fokus: Die polizeilichen Ermittlungen
Im Laufe seiner Arbeit hat der Ausschuss zahlreiche an den Ermittlungen beteiligte, zumeist in verantwortlicher Funktion tätige Polizisten aus den Ländern und dem BKA, Staatsanwälte aus den Tatortländern und der Bundesanwaltschaft sowie ehemalige Innenminister aus Bund und Ländern ausführlich befragt. Auch der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses beschäftigt sich intensiv mit der Polizei- und Ermittlungsarbeit an den Tatorten der zehn Morde in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn sowie der zwei während des Untersuchungszeitraums bekannten Sprengstoffanschläge in Köln.
Zwar hätten die Polizisten bei allen Fällen, die nun seit April 2013 vor dem Oberlandesgericht München verhandelt werden, "engagiert und mit großem personellen und materiellen Aufwand“ ermittelt, stellt der Untersuchungsausschuss in seinem Abschussbericht fest. Doch die Mängelliste ist lang: Weder wurde eine einheitliche staatsanwaltschaftliche Zuständigkeit geschaffen, noch für eine zentrale polizeiliche Ermittlungsführung gesorgt. Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Ceska-Mordserie und den Sprengstoffattentaten wurde zwar von einzelnen Beamten gesehen, aber nicht gründlich und ergebnisoffen geprüft. Gerade in Köln hätte es aussichtsreiche Ermittlungsansätze gegeben, die nicht konsequent genutzt wurden, wie die bundesweite Datei aller Sprengstoffanschläge, in der Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gespeichert waren, und die von Sicherungskameras eines Gebäudes in Tatortnähe stammenden Videoaufnahmen der Täter. Besonders bemängelt wurden die Ermittlungen nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Teilweise gingen durch die verzögerte Ermittlungsarbeit wichtige Spuren unwiederbringlich verloren.
Besonders tragisch ist, dass bereits nach dem ersten NSU-Mord an dem 39jährigen Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September 2000 in Nürnberg der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) behördenintern die Frage nach einem rassistischen Hintergrund der Tat aufgeworfen hatte. Doch außer Waffen und Geschoss gab es keine verwertbare Spur, die in diese oder eine andere Richtung wies. Heute wissen wir aus dem NSU-Video, mit dem die Terrorgruppe sich der Mordtaten rühmt und die Opfer verhöhnt und verächtlich macht, dass neun Menschen aus rassistischen Motiven getötet und viele weitere verletzt wurden. Die Ermittler setzten dagegen elf Jahre lang fast ausschließlich auf die Hypothese, man habe es mit einer unbekannten kriminellen Organisation zu tun, mit der die Opfer durch ihre Herkunft in Verbindung stünden.
Man habe anhand der vorliegenden Akten den Eindruck gewonnen, "dass die meisten Ermittler sowohl bei der Ceska-Mordserie als auch bei den Sprengstoffanschlägen in Köln nicht nur den Schwerpunkt auf die Ermittlungsrichtung ‚Organisierte Kriminalität‘ gelegt, sondern an diesem Schwerpunkt auch dann noch festgehalten haben, als Spur um Spur in diese Richtung ergebnislos blieb,“ so die Kritik der Abgeordneten. "Minderjährige Kinder der Getöteten wurden kurz nach den Taten ohne Beistand einer volljährigen Person ihres Vertrauens vernommen. Mit Angehörigen wurden über Jahre immer wieder Vernehmungen durchgeführt, in denen wissentlich falsche Anschuldigungen gegen die Ermordeten erhoben“ wurden. Aussagen der Angehörigen, dass sie bei den Tätern rassistische Motive vermuteten bzw. die Täter Neonazis sein könnten, wurden mit dem Verweis abgetan, dafür gäbe es keinerlei Ansatzpunkte. Nach dem neunten NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel im April 2006 entwickelten Analytiker der bayerischen Polizei in einer so genannten "Operativen Fallanalyse" eine Hypothese, die dem Profil des NSU sehr nah kam. Danach könnten die Täter aus "Türkenhass" handeln und es sich daher um Neonazis handeln, die von der Szene enttäuscht seien. Doch die Mehrheit der Ermittler und gerade auch das BKA wollte von dieser Hypothese wenig wissen und beauftragte ein Gegengutachten beim LKA Baden-Württemberg. Dessen Profiler ließen wieder nur die These "organisierte Kriminalität“ gelten und spekulierten wild über eine Herkunft der Täter aus dem ost- bzw. südosteuropäischen Raum.
Verfassungsschutz: "Auf dem rechten Auge betriebsblind“
Ebenso ausführlich wie mit den Ermittlungen zu den Mordfällen und Sprengstoffanschlägen hat der Ausschuss untersucht, warum Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sich am 26. Januar 1998 absetzen und dann 13 Jahre lang dem Zugriff der Behörden entziehen konnten. Gerade hier wiegen die Fehler und Versäumnisse schwer: Die Razzien an diesem Tag waren stümperhaft vorbereitet und durchgeführt. Die zuständigen Behörden arbeiteten oft mehr gegen- als miteinander. Eine aufgefundene Telefon- und Kontaktliste der Gesuchten schlummerte in den Polizeiakten und wurde nie für die Suche ausgewertet.
Das mutmaßliche NSU-Kerntrio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe war nicht nur polizeilich mit teils schweren Straftaten schon lange vor 1998 auffällig gewesen. Sie waren - ebenso wie die seit April 2013 vor dem OLG München angeklagten Wohlleben, Eminger, Schultze und Gerlach - den Verfassungsschutzbehörden seit den 1990er Jahren aufgefallen, weil sie Mitglieder in Neonazi-Organisationen wie dem Thüringer Heimatschutz waren.
Über die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden, die auch bei der Suche nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe eine wichtige Rolle spielten, fällte der Untersuchungsausschuss ein harsches Urteil: "Die Analyse der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern zur rechtsterroristischen Gefahr war falsch und verharmlosend“, heißt es im Abschlussbericht. Zahlreiche dem Verfassungsschutz bekannte Hinweise auf rechtsterroristische Konzepte des "führerlosen Widerstands“ in den Neonazinetzwerken "Blood&Honour“ und "Hammerskins“ seien nicht ausreichend beachtet worden. Entsprechende Waffen- und Sprengstofffunde wurden als "Vorliebe für Waffen“ in der Neonaziszene bagatellisiert.
Insgesamt seien die Verfassungsschutzbehörden "auf dem rechten Auge betriebsblind“ gewesen. Zwar habe es ein gutes halbes Dutzend neonazistischer V-Leute unterschiedlicher Verfassungsschutzbehörden und des LKA Berlin im Unterstützerumfeld des NSU gegeben, die auch vereinzelt auf erste Banküberfälle und Waffenlieferungen für das NSU-Kerntrio hingewiesen hätten. Diese Hinweise seien aber nicht ernst genug genommen und nur unzureichend oder gar nicht an die Fahnder der Polizei weitergeleitet worden.
Das Fazit des Untersuchungsausschusses: "Aufwand und Ertrag des Einsatzes von V-Personen zur Aufklärung einer von Rechtsterrorismus ausgehenden Gefahr standen nach Auffassung des Untersuchungsausschusses in keinem Verhältnis.“ Allerdings hätten die Abgeordneten keinerlei Belege für den Verdacht gefunden, dass ein Mitglied der Terrorgruppe bzw. einer der Angeklagten beim OLG München als V-Person gearbeitet habe.
Kontroverse um Rassismus bei den polizeilichen Ermittlungen
Eine Kontroverse entwickelte sich im Anschluss an die Arbeit des Ausschusses um die Frage, ob die Ermittlungen der Polizei als rassistisch bewertet werden sollten. Im Abschlussbericht wird das Vorgehen der Polizei an den einzelnen Tatorten zwar detailliert beschrieben, aber im gemeinsamen Bewertungsteil nicht als rassistisch bezeichnet. Der Ausschussvorsitzende hat öffentlich betont, die Ergebnisse des Ausschusses gäben keinen Anlass, den Ermittlern pauschal Rassismus vorzuwerfen. Das wird in mehreren Fraktionsvoten anders gesehen: Die SPD betonte, Ursache für die mangelnde Offenheit der Ermittlungen seien "strukturelle rassistische Vorurteile“ gewesen. Die Linke attestierte "rassistische Vorurteile“ und erläuterte, "dass die Ermittlungen mit Vorannahmen, Zuschreibungen und Stereotypisierungen geführt wurden, die gerade nicht einem individuellen Rassismus der Ermittler“ zuzurechnen seien, sondern "Formen eines strukturellen bzw. institutionellen Rassismus“, bei dem es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handele. Auch die Grünen analysierten, dass Fehl- und Nichtermittlungen "mit rassistischen Vorurteilen in Zusammenhang standen“. Dafür gab es massive Kritik aus den Reihen der Polizei, u.a. von Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei.
Was folgt aus den 1.400 Seiten?
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages hat seine Arbeit mit dem Ablauf der Wahlperiode beendet. Die Aufklärung des Falles aber ist noch längst nicht abgeschlossen: Die Untersuchungsausschüsse in Sachsen und Thüringen tagen weiter. Vor dem OLG München wird seit April 2013 der Prozess gegen Zschäpe und vier Mitangeklagte geführt. Nicht alle angesprochenen Fragen hat der Ausschuss klären können – insbesondere nicht Motive und Hintergründe der Vernichtung von Akten zu neonazistischen V-Leuten aus Thüringen durch einen Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz ausgerechnet wenige Tage nach Bekanntwerden der Terrorgruppe. Manche wichtige Frage hat der Ausschuss bewusst zurückgestellt, vor allem die Umstände des Todes von Böhnhardt und Mundlos in Eisenach und der Brandstiftung in Zwickau am 4. November 2011. Beide Sachverhalte stehen im Zentrum des Strafprozesses und müssen zunächst vor Gericht verhandelt werden.
Trotz der offenen Fragen und des erheblichen Zeitdrucks sind die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag und dessen Abschlussbericht – ebenso wie der Abschlussbericht des Bayerischen NSU-Untersuchungsausschusses
Dies gilt auch für die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, auf die sich der Ausschuss insgesamt verständigt hat. Dazu gehören:
Bei polizeilichen Ermittlungen nach Gewalttaten gegen potenzielle Opfer rassistischer Gewalt soll Rassismus als mögliches Tatmotiv eingehend geprüft und dieses nachvollziehbar dokumentiert werden.
Die Kriterien für die Erfassung politisch rechts motivierter Straf- und Gewalttaten sollen überarbeitet werden.
Die Polizei soll mehr Migrantinnen und Migranten als Mitarbeiter gewinnen.
Der Generalbundesanwalt soll seine Zuständigkeit gründlicher prüfen. Seine Zuständigkeit für wichtige Fälle soll maßvoll erweitert werden.
Geht es nach den Vorstellungen der Abgeordneten, sollen klare Vorgaben für den Einsatz von V-Personen geschaffen und die parlamentarische Kontrolle der Verfassungsschutzbehörden effektiver gestaltet werden.
Zivilgesellschaftliche Projekte wie die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt und Mobilen Beratungsteams sollen verlässlich vom Bund gefördert und die Mittel für Demokratieförderung angehoben werden.
Inwieweit die gemeinsamen Empfehlungen des Ausschusses umgesetzt werden, liegt für den Bereich des Bundes und seiner Behörden in der Verantwortung der künftigen Bundesregierung und des neu gewählten Bundestages. Die am NSU-Untersuchungsausschuss beteiligten Abgeordneten jedenfalls haben angekündigt, nicht locker zu lassen bei der Aufklärung des NSU-Komplexes und der Umsetzung der Empfehlungen.
Die Autoren:
Heike Kleffner, Journalistin und Rechtsextremismusexpertin, war Referentin der Linksfraktion im Bundestag für den NSU-Untersuchungsausschuss.
Dr. Andreas Feser ist Leiter des Arbeitsbereichs Untersuchungsausschüsse der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Externer Link: Link zum Abschlussbericht
Interaktiver Chat mit Heike Kleffner und Dr. Andreas Feser vom 27. November: Externer Link: hier gibt es das Chatprotokoll.