Sozialpädagogische Fachkräfte und alle, die im professionellen Kontext mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, können in ihren Tätigkeitsfeldern mit Reichsbürgerfällen konfrontiert werden. Es stellen sich dann Fragen, welche Auswirkungen die spezielle Realitätswahrnehmung der Reichsbürgereltern auf die betroffenen Kinder haben, wie sie kompensatorisch begleitet werden und wie verhältnismäßige Interventionen aussehen können.
Um für Fälle mit Reichsbürgerkontakten Handlungssicherheit herzustellen, ist es zunächst nötig, einen Einblick in die verschwörungsideologische Denkwelt zu nehmen. Dazu gehören die Differenzierung des Spektrums sowie die Motivationen von Erziehungsberechtigten, sich der Reichsbürgerideologie oder Reichsbürgergruppierungen zuzuwenden. Daraus wird auch plausibel, welche Dynamiken und mitunter justiziablen Konfliktlagen sich für Eltern, Kinder und Sozialarbeitende ergeben. Abschließend werden Anregungen zum sozialpädagogischen Umgang mit Reichsbürgereltern und/oder ihren Kindern gegeben.
Fehlsozialisation und Kindeswohlgefährdung – verquere Perspektiven
Zwischen alarmierenden Eskalationen und vergleichsweise ungefährlichen Auffälligkeiten wie verschwörungsideologischen Meinungsbekundungen liegt im Reichsbürgermilieu das weite Feld verschiedenster Einzelfälle. Mit extremem Abwehrverhalten von Reichsbürgereltern werden insbesondere Sozialarbeitende konfrontiert. Je nach Ausmaß einer Ablehnung und Abschottung von Lebenswelten und Kontakten können in solchen Fällen Erziehungsrechte der Eltern mit Kinderrechten kollidieren und sogar zu einer Kindeswohlgefährdung führen. Das Spannungsfeld ergibt sich vor allem daraus, dass ein identisches Ziel – nämlich die Verhinderung einer Kindeswohlgefährdung – von gänzlich unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen ausgeht und zu völlig unterschiedlichen Verhaltensweisen führt.
Allein die Bedingungen des Aufwachsens im Reichsbürgerelternhaus können zu einer Fehlsozialisation im Sinne einer eingeschränkten Gemeinschaftsfähigkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) führen (Kindler 2023): durch die Limitierung von Kontakten auf ideologisch kompatible Personen, durch die Verhinderung des Besuchs einer öffentlichen Schule oder einer anerkannten Ersatzschule, aber auch durch Loyalitäts- und Autonomiekonflikte im Kontakt mit Andersdenkenden. Fehlsozialisationen resultieren auch aus einer Erziehung zur gruppenbezogenen Menschen- und Demokratiefeindlichkeit, beispielsweise mittels Verschwörungstheorien mit einem Risiko des Übergangs zum gewaltbereiten Extremismus.
Der Tatbestand einer Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden (§ 1666 Abs. 1 BGB). Teilweise kann nicht nur eine gegenwärtige, sondern langjährige Gefährdung festgestellt werden, bei der durch die weitere „Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit“ zu erwarten sein dürfte (BGH 6.2.2019 – XII ZB 408/18). Ausschlaggebend für die Einstufung als Kindeswohlgefährdung ist ein schädliches Tun oder Unterlassen der Sorgeberechtigten wie körperliche und emotionale Misshandlungen, sexueller Missbrauch oder Vernachlässigung. Bei Reichsbürgereltern besteht zudem die Gefahr einer prinzipiellen konstanten Freiheitsberaubung (gemäß § 239 StGB). Als dramatisches Beispiel kann ein Fall in Niederösterreich angesehen werden: Nach Meldung aus der Nachbarschaft wurden 2023 sechs Kinder im Alter von wenigen Monaten bis fünf Jahren an das Jugendamt übergeben, deren mutmaßlicher Vater sich mit ihnen und seiner Lebensgefährtin in einem Weinkeller verbarrikadiert hatte (Christandl 2023). Im Folgenden sollen reichsbürgerideologische Überzeugungen und deren mögliche Auswirkungen skizziert werden.
Überzeugungen und Konditionierungen in Reichsbürgerelternhäusern und in der Reichsbürger-Sekte „Königreich Deutschland“
Reichsbürger- oder sogenannte Selbstverwalter-Elternteile hängen einer staatsrechtlichen Verschwörungsideologie an, wonach die Bundesrepublik Deutschland kein legitimer Staat sei, weshalb sie „deren Rechtssystem ablehnen, demokratisch gewählten Repräsentant:innen die Legitimation absprechen, sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb bereit sind, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu begehen“ (Hüllen/Homburg 2017, S. 16). Demgegenüber werden Elternrechte als unantastbare Natur- und Eigentumsrechte deklariert und mitunter jedwede staatlich gesteuerte Kindererziehung und Bildung vehement abgelehnt. Exemplarisch dokumentiert diese Haltung Rudolf Schmidheiny in seinem Buch „Kinder gehören den Eltern, nicht dem Staat“ (2023). Die Inhaltsangabe macht die generelle Ablehnung des Staates deutlich:
„Dieses Buch ist ein Plädoyer für selbstbewusste und eigenständige Elternschaft. Ebenso ist es eine Streitschrift gegen die weitverbreitete Staatshörigkeit, die mittlerweile erschreckende Ausmaße angenommen hat. Natürliche Elternschaft entsteht unabhängig von irgendwelchen staatlichen Institutionen. […] Das Buch ist ein Aufruf an alle – auch künftige – Eltern, sich nicht von gesetzlichem Schulzwang, von „staatlich Anerkanntem“ oder von einem „staatlichen Bildungsauftrag“ blenden zu lassen.“ (Rudolf Schmidheiny, Kinder gehören den Eltern, nicht dem Staat (2023))
Selbstverwalter:innen bzw. Souveränist:innen halten den staatlichen Bildungsauftrag nicht nur für anmaßend, sondern für eine staatlich organisierte Kindeswohlgefährdung, durch die Kinder zu „gehorsamen Sklaven des Systems“ (FreiwilligFrei 2012) erzogen werden sollen, die sich ohne Widerstand bevormunden und ausbeuten lassen. Vor allem in der esoterischen Ideologie, die wie im Fallbeispiel Anna, ebenfalls eine wichtige Rolle spielen kann, gibt es den sozialisierten und den eigentlichen Menschen. Der eigentliche Mensch wird aus dieser Sicht durch Selbst- oder Fremdunterdrückung in der modernen Gesellschaft sozialisiert und entfremdet. (Barth 2012, S. 253 ff.) Aufgabe der Eltern sei, die freie Entfaltung von Kindern als natürliche Selbstsozialisation zuzulassen. Sie gelten als Genies und sollten keinen Zwang, keinen sozialen Anpassungsdruck, keine Verunsicherung durch Noten erdulden müssen, weil das die Persönlichkeitsentwicklung einschränken würde.
Reichsbürgereltern nehmen die geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und Institutionen als bedrohlich wahr, insbesondere wenn sie mit unmittelbar bevorstehenden negativen Konsequenzen ihres Denkens und Handelns rechnen müssen. Dies kann die Pfändung des Autos aufgrund von Verschuldung sein oder die mögliche Inobhutnahme der Kinder nach hartnäckigem Schulentzug. In solchen Fällen müssen Sozialpädagog:innen und Sicherheitskräfte mit einer der typischen menschlichen Stressreaktionen – Kampf, Flucht (einschließlich erweitertem Suizid), Totstellen – rechnen.
Im demonstrativen Unterschied zu stressigen Konfrontationen mit dem Rechtsstaat verspricht zum Beispiel das „Königreich Deutschland“ (KRD) Eltern und Kindern „eine stressfreie Gemeinschaft mit immer weniger Arbeitsdruck“ und „ein Schulsystem ohne Druck, in dem die Kinder in wenigen Jahren mit dem Abitur fertig sind“ (Hoffmann 2015, S. 51). Gleichzeitig erstrebt und konstruiert das KRD ein wissenschaftsfeindliches Schulsystem in Gestalt von fiktiven idealtypischen Lernenden, die bei sich ein „komplettes Umdenken“ feststellen, bei dem „das meiste“ von dem im alten Schulsystem Gelernte sich als „völlig wacklig war oder sogar direkt falsch“ herausstellt (ebd., S. 88 f.). Anstelle von Reformen zur Kompensation von Missständen in den Lebenswelten Bildung und Arbeit sollen Systemaussteiger:innen das „System BRD“ mit seiner „satanistischen Agenda“ übertrumpfen und abschaffen – so jedenfalls der KRD-Anführer Peter Fitzek in einer Videobotschaft (vgl. Fitzek 2021). Darin propagiert er das Gottesgnadentum – mit ihm selbst als Monarchen.
„König Fitzek“ versteht es, unterschiedlich frustrierte Menschen anzusprechen. Er präsentiert sich und seine Vision als anschlussfähig für alle Veränderungswilligen, die an seine esoterische „Hippie-Utopie“ eines vermeintlich tausendjährigen Friedensreiches der Liebe und an eine friedliche Revolution glauben (Fitzek 2021, 1:10–1:40). In den Marketingstrategien ist das KRD als Projektionsfläche für verschiedenste Sehnsüchte und Bedürfnisse konzipiert. Angezogen fühlen sich unterschiedlichste Zielgruppen – die nicht alle gleichermaßen fundamentalistisch reichsbürgerideologisch eingestellt sind.
Besonders Kinder, die im KRD oder anderen Systemaussteigerkolonien für Impfgegner, etwa in Paraguay, landen und in deren Schulen unterrichtet oder nur durch die Eltern indoktriniert werden, wachsen sehr wahrscheinlich in dem Glauben auf, dass die dämonische Außenwelt unvereinbar sei mit der eigenen Gemeinschaft der vorgeblich Auserwählten und Erleuchteten. Sie erfahren keine Anregungen zum eigenständigen Denken jenseits der verschwörungsideologischen Denkblockaden ihrer Eltern und der anderen überzeugten Mitglieder der Gemeinschaft. Stattdessen verinnerlichen sie Erzählungen über die Bundesrepublik, die dazu dienen, die Vermeidungs- und Abschottungsstrategien ihrer Eltern, zu denen auch das Abtauchen im KRD gehört, zu legitimieren (Kaufmann/Illig/Jungbauer 2021, S. 58 f.).
Die Reichsbürgerideologie ist prädestiniert für Menschen, die von Macht- und Herrschsucht getrieben sind oder das Bedürfnis haben, erlebte Ohnmacht in Macht und Kontrolle umzuwandeln. Teilweise dient die reichsbürgerideologische Verschwörungserzählung erkennbar als entlastende Konstruktion der Einzelgeschichte: Behörden- und Gerichtsentscheidungen (Ehescheidungen, Strafzahlungen, strafrechtliche Verurteilungen) lassen sich gelegentlich psychologisch einfacher verdrängen, wenn die Entscheidung als illegitim und der Vorgang als unrechtmäßig wahrgenommen wird.
Auswirkungen einer Sozialisation im Reichsbürgermilieu
Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann weisen in ihrem Buch „Zwischen den Welten“ darauf hin, dass weltanschauliche Filterblasen sich sowohl positiv als auch negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken können: „Denn manche Eltern funktionieren gerade durch die Geborgenheit der Filterblase besser in ihrer Elternrolle, etwa weil sie dadurch Stabilität erfahren.“ (Pohl/Wiedemann, 2023, S. 14‒16, Zitat S. 14) Außerhalb der Filterblase erleben diese Kinder häufig Reibung und Konfliktspannungen, wie sie Lea im Artikel „Vaters Irrsinn, Leas Leiden“ (taz vom 26.1.2018) gegenüber einem Dresdner Reporter beschreibt. Ihr Vater ist ein berufsunfähiger Tischler, der, hoch verschuldet und vom Jobcenter mit 50 Jahren als zu alt für eine Weiterbildung befunden, in die Reichsbürgerideologie abgedriftet ist. Die soziale Teilhabe der Tochter wurde damit erheblich beeinträchtigt, da sie dem Abschottungsbedürfnis der Eltern gemäß auf soziale Kontakte außerhalb der Schule verzichtete und sich nur selten heimlich mit Schulfreund:innen traf. Den Fürsorgepflichten wurden die Eltern nicht mehr gerecht, sodass die Großeltern einsprangen. Die psychische Gesundheit wurde durch Wutausbrüche des Vaters und den mangelnden Rückhalt auf ihrem Bildungsweg im väterlicherseits verachteten System nachhaltig geschwächt.
Pohl und Wiedemann haben eine Liste von Risikofaktoren in verschwörungsideologisch geprägten Gruppierungen erstellt (S. 44–46, 70) mit den Kategorien Sozialkontrolle, Bildungsfeindlichkeit, Gesundheit und Kindeswohl. Einige sollen im Folgenden exemplarisch erläutert werden. Die skizzierten Fälle sind nicht öffentlich, sondern bieten anonymisierte Einblicke in die Brandenburger Jugendamts- und Beratungspraxis.
Durch Schulentzug auffällig geworden war der Fall zweier Kinder (9 und 12 Jahre alt) im Land Brandenburg. Als die Mutter nicht auf die Kontaktaufnahmen der Schule reagierte, wurde das Jugendamt verständigt. Die Kontaktversuche der Mitarbeiterin des ASD wurden mit hysterisch vorgebrachten und scheinbar paranoiden Verschwörungsnarrativen abgewehrt, sodass der Eindruck entstand, die alleinerziehende Mutter befinde sich in einer akuten Psychose und könne die elterliche Sorge nicht mehr ausüben. Deshalb wurden die Kinder vorübergehend in Obhut genommen. Dies war der Beginn eines längeren familiengerichtlichen Verfahrens, in dessen Rahmen nicht nur der Schulbezug sichergestellt werden sollte, sondern auch das Recht der Kinder auf Umgang mit ihren nicht verschwörungsgläubigen Kindsvätern. Nachdem eine familiengerichtlich bestellte Amtsvormundin das Recht der Kinder auf Bildung und sozialer Teilhabe durchsetzte, besorgte sich die in ihrem Sorgerecht eingeschränkte Mutter „Schutzbriefe“ von einer Reichsbürgervereinigung. Außerdem war sie der „Gemeinschaft souveräner Menschen“ beigetreten und untersagte der Schule und dem Jugendamt mit dem schriftlichen Hinweis darauf jedwede unrechtmäßige Einmischung in ihre naturrechtlich verbürgten Elternrechte.
Trotz der gerichtlich vereinbarten Regelungen zur Umsetzung des väterlichen Umgangsrechtes verweigerte die Mutter den Kindsvätern und Ex-Partnern als Andersdenkenden jedweden Umgang mit ihren Kindern. Die Versuche der Amtsvormundin und einer Familienhelferin, die familiäre Situation zu stabilisieren, einen kontinuierlichen Schulbesuch und Kontakt mit dem Vater zu befördern, wurden regelmäßig durch gehäufte Krankmeldungen vereitelt, wobei die geforderten ärztlichen Atteste von teilweise unbekannten oder verschiedenen, weit vom Wohnort entfernt praktizierenden Ärzten als nicht glaubwürdig erschienen. Niemand durfte die Festung betreten, zu der das Zuhause der Familie geworden war. Die Kombination aus Schul- und Kindesentzug beförderte schließlich die Entscheidung des Familiengerichts, die Kinder ein weiteres Mal in Obhut zu nehmen und im Rahmen eines begleiteten Umgangs eine stabile Beziehung mit dem durch die Mutter stark diffamierten Vater wiederherzustellen. Die Kinder, denen die Mutter ein striktes Redeverbot auferlegt hatte, befanden sich in einem derart starken Autonomie- und Loyalitätskonflikt, dass sie gegenüber ihrem Verfahrensbeistand, der ihnen bei der sorge- und umgangsrechtlichen Streitigkeit zwischen den Eltern helfen wollte, in den Gesprächen nichts als Tränen hervorbrachten. Bemerkenswert ist auch, dass der zwölfjährige Sohn sicherheitshalber keinerlei sozialen Anschluss in der Klasse suchte. Seine kleine Schwester kostete dagegen fröhlich die sozialen Chancen in Schule und Hort aus, erstarrte jedoch schuldbewusst in ihrer Freude, sobald die Mutter zur Abholung in der Tür stand. Die autoritäre Souveränität der Mutter bewirkte eine Fremdbestimmung, Entmündigung und Autonomiekonflikte ihrer Kinder.
In einem anderen Fall, bei dem die Kinder überwiegend bei ihrer Mutter lebten, aber regelmäßig Umgang mit ihrem von der Reichsbürgerideologie überzeugten Vater hatte, haben die Kinder gelernt, während des Umgangs mit ihrem Reichsbürgervater wirksam Grenzen zu setzen, sobald es zu Versuchen verschwörungsideologischer Indoktrination kam. Wenn Kinder von Reichsbürgereltern erwachsen werden, stehen sie mitunter vor der schwerwiegenden, konfliktreichen und mutigen Entscheidung, sich von den Gesinnungen der Eltern zu lösen, um ihren eigenen Weg zu finden (vgl. Interner Link: Fallbeispiel Anna). Dort, wo der Kontakt aufrechterhalten wird, belasten mitunter nicht nur Missionierungsversuche der Reichsbürgerelternteile die Beziehung, sondern auch Einblicke in illegale Aktivitäten wie die Anfertigung von alternativen Ausweisdokumenten.
Das Potenzial für ein missbräuchliches Ausüben der elterlichen Sorge im Reichsbürgerkontext ist groß. Es betrifft nicht nur die ungenügende Förderung der Ausbildung des Kindes, die Verweigerung ärztlicher Heileingriffe, wie Bluttransfusionen, Operationen oder notwendiger Impfungen, sondern auch die Anwendung nachweislich gefährlicher Therapieansätze wie der „Germanischen Neuen Medizin“ (Grotepass 2016).
Wann kollidieren Elternrechte von Reichsbürger:innen mit dem Schutzauftrag des Staates?
Die Strategien Schul- und Kindesentzug versuchen die Reichsbürgerelternteile wie auch verschwörungsgläubige Elternteile zum vermeintlichen Schutz ihrer Kinder vor dem Staat und „dunklen Machenschaften der Eliten“ durchzusetzen. Im Extremfall geschieht dies durch heimliche Geburten, um Kinder von angeblich gefährlichen Einflussnahmen durch den Staat und von Konflikten mit Andersdenkenden fernzuhalten. Dies kann als Missbrauch der elterlichen Sorge bewertet werden, da Kinder in einer weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaft keine Chance haben, das breite Spektrum von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft zu erfahren, diesem mit Toleranz zu begegnen und sich selbst als Teil einer Minderheit in eine pluralistische Gesellschaft zu integrieren (vgl. BVerfGE vom 31.5.2006 – 2 BvR 1693/04). Die wahrscheinliche Fehlsozialisation durch die abschottende Erziehung der Eltern kollidiert mit den Gemeinwohlinteressen, die durch den staatlichen Erziehungsauftrag gewahrt werden sollten.
Fallbeispiel: Heimliche Geburten von KRD-Kindern – „Der Mensch Anna“ als Trophäe eines Fantasie-Königreiches und Sektenkind
Am 26.3.2023 berichtete Bild.de über eine Reichsbürgerfamilie aus Thüringen (Müller/Wagner 2023). Die Familie ist Peter Fitzek seit der Gründung des KRD-Vorgängervereins „NeuDeutschland“ treu. Die Eltern haben ihr drittes Kind Anna 2015 heimlich und ohne den Beistand einer Hebamme geboren. Vorab waren sie bei keiner Vorsorgeuntersuchung und haben die neugeborene Anna nicht bei den staatlichen Behörden angemeldet. Als Nachweis ihrer Familienzugehörigkeit erstellte Peter Fitzek eine Lebendurkunde.
Der Fall Anna wird auf der KRD-Website mit einem Video als Pilotprojekt für Geburten unter dem Radar staatlicher Behörden, der Gesundheitsfürsorge und Bildung vermarktet. Unter dem Titel „Freie Geburten im Königreich Deutschland | im Gespräch mit Doula Silke“ (2023) wird darin die Mutter interviewt. Dort heißt es, nur wer ihr nacheifere, würde einen wahrhaft freien Menschen gebären, der sich nach der Geburt ohne staatliche Einflüsse frei entfalten könne.
Seit August 2022 ist ihr Kind schulpflichtig. Anna wurde zum angeblichen Schutz ihrer freien Potenzialentfaltung nicht eingeschult. Anstatt wie Gleichaltrige in die Schule zu gehen, darf sie nach Belieben im Dorf herumstreunen oder der KRD-Gemeinschaft bei praktischen Arbeiten zur Hand gehen. Auch Homeschooling wird abgelehnt. Anna macht nur, was sie will. Etwas anderes würde bei ihr auch gar nicht funktionieren, glaubt die Kindsmutter. Stattdessen sei sie sich selbst die beste Lehrerin oder lerne beim Eierholen nebenbei die Grundrechenarten, beim Fröschefangen im Gartenteich, beim Herumstreunen im Dorf allein oder mit dem Schäfer. Das, was für Schulkinder der Wochenend- oder Ferienmodus ist, ist Annas Bildungsstandard. Erfahrungen in der Lebenswelt Schule werden als inkompatibel mit dem Wesen des Kindes erklärt. Sie soll frei vom Einfluss der Schule bleiben, den die Eltern bei den älteren Kindern als Störfaktor empfunden haben, weil sie dadurch das System nicht konsequent hinter sich lassen konnten. Annas ältere Geschwister haben inzwischen Reißaus genommen, um sich nicht aus Loyalität zu Staatsbürger:innen eines demokratiefeindlichen Königreichs ohne selbstbestimmten Lebensweg machen zu lassen. Inwieweit Anna Umgang mit ihnen hat, ist nicht bekannt. Ansonsten ist der Kontakt auf ideologisch kompatible Spielkamerad:innen aus dem KRD-Milieu beschränkt, die zu Besuch kommen.
Auf Basis der Illusion von Angstfreiheit, spiritueller Verbundenheit und ihres Psychologie-Diploms hält die Kindsmutter sich und ihr Kind für besonders beschützt und nahezu unverwundbar. Sie stellte seit der Schwangerschaft ohne Vorsorgeuntersuchungen eine Kausalität zwischen ihrem Vertrauen in die göttliche Fügung, ihren Wünschen, ein gesundes Kind zu bekommen, und der bisher folgenlosen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht her, welche Dorfbewohner zu einer Meldung an das Jugendamt veranlasste. Sie hat aus ihrer Perspektive immer genau das bekommen, was sie sich beim Universum bestellt hat. Diese Haltung ist Ausdruck der Verkehrung von Ohnmacht zur Allmacht, die als zentrale Strukturlogik der Esoterik gilt. So erscheint das, was die Eltern als Entscheidung im Sinne des Kindes vorgeben, eigentlich zuallererst in ihrem politisch motivierten Eigeninteresse zu liegen.
Für Anna scheinen die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit (§ 1 SGB 8) und die Persönlichkeitsentwicklung durch zwei Faktoren beeinträchtigt: Zum einen hat sie weder eine tolerante Teilhabe an den Lebenswelten einer pluralistischen Gesellschaft noch die Chance, ihre Konfliktfähigkeit und Empathie in Gruppenprozessen mit anders sozialisierten Gleichaltrigen zu trainieren. Zum anderen hat die rein egozentrische und lustbetonte Selbstsozialisation, die als eine Erziehung ohne Grenzen bezeichnet werden kann, möglicherweise negative Folgen für die psychische Gesundheit des Kindes (Mikan 2020). Ohne schulische Bildung und Abschlüsse ist Anna abhängig vom Bildungsweg im KRD und nicht anschlussfähig an berufliche oder akademische Ausbildungsmöglichkeiten jenseits dessen. Die Durchsetzung der Schulpflicht könnte mit einer Schulphobie, -verweigerung oder Anpassungsstörung einhergehen, wenn Annas Eltern sie bei der Umstellung nicht wohlwollend und vertrauensvoll unterstützen, sondern das Kind warnen, bemitleiden und zur Reaktanz motivieren. Mangelnde Gesundheitsfürsorge oder Falschbehandlungen durch esoterische Heiler können Anna darüber hinaus schaden.