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Betroffene von rechter Gewalt in juristischen Verfahren stärken Strukturelle Herausforderungen für Betroffene und die Beratung und Unterstützung durch spezialisierte Opferberatungsstellen

Asal Kosari Fabian Reeker

/ 11 Minuten zu lesen

Juristische Verfahren stellen für Betroffene rechter Gewalt oft zusätzliche Herausforderungen dar, weshalb spezialisierte Beratungsstellen entscheidende Unterstützung und Begleitung bieten. (© Adobe-Stock/joyfotoliakid )

Einleitung

Täglich werden in Deutschland mindestens fünf Menschen Opfer von rechter, rassistischer oder antisemitischer (im Folgenden kurz: rechter ) Gewalt. Zu dieser erschreckenden Erkenntnis gelangen die im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. (VBRG) zusammengeschlossenen spezialisierten Opferberatungsstellen in ihrer gemeinsamen Jahresbilanz für das Jahr 2022 (VBRG 2023). In zehn von 16 Bundesländern wurden insgesamt 2.093 rechtsmotivierte Angriffe registriert. Für das Jahr 2022 musste eine gravierende Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden festgestellt werden – auch bei schweren Gewalttaten (vgl. ebd.). Das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt bleibt jedoch auch für die unabhängigen Beratungsstellen immer noch weitgehend nur in Ansätzen erfassbar und zeigt allenfalls die Spitze des Eisbergs. Viele Taten gelangen nicht an die Öffentlichkeit und bedingen somit die Existenz eines enormen Dunkelfeldes.

Die Erfahrung rechter Gewalt stellt für Betroffene meist ein einschneidendes, krisenbehaftetes Ereignis dar, das schwerwiegende negative Folgen für das physische und psychische Wohlergehen haben kann. Die Erstattung einer Strafanzeige gegen die Täter:innen sowie die darauf basierende Einbindung in einem polizeilichen Ermittlungsverfahren und gegebenenfalls in einem juristischen Verfahren sind darüber hinaus eine außeralltägliche Erfahrung, die mit konkreten Erwartungshaltungen, aber auch mit Ängsten verbunden sein und Viktimisierungserfahrungen vertiefen kann. Die Praxis der spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt ist darauf ausgerichtet, Betroffene und deren soziales Umfeld bei der individuellen Bewältigung der materiellen und immateriellen Angriffsfolgen zu unterstützen und ihre subjektive Handlungsfähigkeit zu stärken. Rechte Gewalt als krisenhafte Zuspitzung struktureller Macht- und Ausschließungspraxen erfordert darüber hinaus eine gesellschaftspolitische Intervention der Beratungsstellen auf Basis der Betroffenenperspektive.

Der folgende Artikel beschreibt die Herausforderungen, mit denen Betroffene rechter Gewalt im Kontext juristischer Verfahren konfrontiert sind, und welche Möglichkeiten im Rahmen einer professionellen Beratungspraxis bestehen, Betroffene parteilich und solidarisch zu unterstützen. Der Artikel basiert vornehmlich auf Erfahrungswerten aus der praktischen Beratungs- und Unterstützungsarbeit sowie auf den Perspektiven und Expertisen von betroffenen Personen. Hier gilt das Plädoyer, Erfahrungswissen von betroffenen Personen als relevantes Wissen und als Realität anzuerkennen. Der Beitrag hat keinesfalls den Anspruch, diverse Lebensrealitäten und Erfahrungswerte von betroffenen Personen allumfassend darzustellen.

Justiz im Kontext struktureller Abwertungs- und Ausschließungspraxen

Da sich rechte Gewalt vermehrt gegen Menschen richtet, die von verschiedenen Formen struktureller Abwertungs- und Ausschließungsmechanismen betroffen sind, weisen viele Betroffene einen sehr eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sowie oft negative Erfahrungswerte mit Strafverfolgungsbehörden oder Justiz auf. Rassistische Alltagserfahrungen und institutionelle Diskriminierungen führen demnach häufig dazu, dass das Vertrauen in Behörden, insbesondere Strafverfolgungsbehörden, fehlt oder schwer beschädigt ist. Die strafrechtliche Verfolgung der Täter:innen und eine juristische Aufarbeitung, die (vermeintlich) eine gesellschaftspolitische Wahrnehmung und Ächtung der Tat beinhaltet, sind für viele Betroffene dennoch konkret mit der Hoffnung auf Gerechtigkeit, Wiedergutmachung, Rechtszuspruch und Anerkennung nach einer erlebten Gewalterfahrung verknüpft. In der Praxis müssen Betroffene rechter Gewalt jedoch häufig die Erfahrung machen, dass diese Hoffnung durch juristische Verfahren nicht erfüllt wird.

Abwertungs- und Ausschließungspraxen sowie die fehlende Repräsentation von strukturell benachteiligen und rassifizierten Menschen finden sich somit ebenfalls in juristischen Verfahren. Wie viele Menschen in Deutschland direkt von Rassismus betroffen und wie tief rassistische Wissensbestände in der Gesellschaft verankert sind, zeigen unter anderem die Ergebnisse der Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (vgl. DeZIM 2022, S. 5ff.). Der Bereich der Justiz ist, ebenso wie die in ihm beschäftigten Personen, Teil dieser Gesellschaft, in der Rassismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit wesentliche Strukturierungsmerkmale darstellen und strukturell verankerte Diskriminierung reproduziert wird. Die Vorstellung einer Rechtsanwendung als neutraler, objektiver Vorgang muss in diesem Sinne als ein utopisches Ideal betrachtet werden, da subjektive und wertende Präferenzen und Vorverständnisse der am juristischen Verfahren beteiligten Personen für die Auslegung von Rechtsnormen sowie für die Ermittlung und Bewertung der relevanten Sachverhalte konstitutiv sind (vgl. Grünberger et al. 2021, S. 59).

Gefahr der Täter:innen-Opfer-Umkehr

Dies wird in der Beratungspraxis besonders durch die schmerzhafte Erfahrung der von rechter Gewalt Betroffenen verdeutlicht, wenn diesen in juristischen Verfahren im Sinne einer Täter:innen-Opfer-Umkehr teilweise oder gänzlich der Status der geschädigten Person abgesprochen wird. Dies kann beispielsweise durch die Selbstinszenierung der Täter:innen als vermeintliche Opfer der Tat und/oder durch verfahrensbeteiligte Personen geschehen, die den Betroffenen eine Mitschuld an dem erlebten Angriff zuschreiben. Oftmals sind betroffene Personen gar dem Umstand ausgesetzt, durch Gegenanzeigen selbst als Tatverdächtige geführt und als Beschuldigte Gegenstand von Ermittlungsverfahren und juristischen Prozessen zu werden. Eine solche Täter:innen-Opfer-Umkehr kann sekundäre Viktimisierungsaspekte befördern und eine massive Vertiefung der Opfererfahrung bewirken. Sekundäre Viktimisierungserfahrungen sowie die Ausblendung von rechten Tatmotiven in juristischen Kontexten können ebenfalls dazu führen, dass Rechtsmittel wie der § 46 Abs. 2 StGB, welcher „rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, geschlechtsspezifische, gegen die sexuelle Orientierung gerichtete oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe und Ziele der Täter:innen bei der Strafzumessung verschärfend berücksichtigen soll, keine Anwendung finden.

Rassistische Diskriminierung im Justizalltag

Die Praxis der spezialisierten Beratungsstellen zeigt, dass Betroffene immer wieder die belastende Erfahrung machen müssen, dass beispielsweise (intendierte oder nicht intendierte) rassistische Verhaltensweisen und Bewertungsmuster von Richter:innen, Staatsanwält:innen oder anderen Personen nicht nur verfahrensbegleitend, sondern oft verfahrensbestimmend sein können. Trotz des eigenen Anspruchs der Justiz auf richterliche Unabhängigkeit, Objektivität und unparteiische Rechtsprechung sind die Reproduktion rassistischer Vorerfahrungen und die Ausblendung beziehungsweise Nicht-Wahrnehmung rechter Tatmotive häufig inhärente Bestandteile juristischer Verfahren. Somit führt gerade der gerichtliche Anspruch, auf Basis von vermeintlicher Neutralität jenseits rassistischer Unterscheidungen zu urteilen, häufig zur Reproduktion rassistischer Diskriminierung (vgl. Köbberling 2018, S. 320).

Die Perspektiven von Betroffenen spielen dabei in juristischen Verfahren nur eine sehr untergeordnete Rolle, indem eine strukturelle Diskrepanz zwischen dem individuellen Wunsch nach Anerkennung, Gerechtigkeit und Aufarbeitung sowie den gesellschaftlichen Aufgaben, Arbeitsweisen und rechtsstaatlichen Prinzipien der Gerichte besteht, die die juristische Aufklärung des Tatgeschehens zum Ziel haben. Aus den Erfahrungswerten der Beratungsarbeit wird deutlich, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Agieren verfahrensbeteiligter Personen sowie der emotionalen Verarbeitung des Erlebten aufseiten der Betroffenen gibt (vgl. Quent et al. 2014, S. 33f.).

Juristische Verfahren aus Betroffenen- und Beratungsperspektive

Juristische Prozesse stellen insgesamt einen fremdgesetzten Rahmen dar, in dem sich Betroffene zu einem nicht selbst gewählten Zeitpunkt für häufig lange Zeitspannen erneut mit dem erlebten Angriff auseinandersetzen müssen. Dies kann eine emotionale Bewältigung oder einen gedanklichen Abschluss mit den Angriffsfolgen deutlich erschweren.

Lange Verfahrensdauern und fehlende Transparenz

Überlange Verfahren, in denen teilweise mehrere Jahre zwischen dem Angriff und der Prozesseröffnung liegen können, stellen ein großes Problem dar. So können verschiedene Faktoren Auswirkungen auf die konkrete Terminierung von Gerichtsprozessen haben, unter anderem die Dauer des polizeilichen Ermittlungsverfahrens, die Erhebung öffentlicher Klage durch die Staatsanwaltschaft, Rechte und Pflichten von Verfahrensbeteiligten, die Koordinierung von Terminen mit allen Verfahrensbeteiligten, Auffindbarkeit von Angeklagten, Einladung von Zeug:innen oder auch das Nicht-Vorhandensein adäquater Gerichtssäle. Vor dem zusätzlichen Hintergrund der mangelnden personellen Ausstattung und Überlastung der Justiz können diese und andere Faktoren überlange Verfahrensdauern bedingen, die sich teilweise zudem über mehrere gerichtliche Instanzen erstrecken können.

Eine Transparenz bezüglich dieser Verfahrensvorgänge ist für die Geschädigten meist nur sehr bedingt sichergestellt. Über die Ansetzung und Durchführung juristischer Verfahren werden die Betroffenen erst dann informiert, wenn sie selbst als Zeug:innen geladen werden. Zwar haben Betroffene die Möglichkeit, Sachstandsanfragen bezüglich des Verfahrensstandes an die Staatsanwaltschaft zu stellen, Erfahrungswerte der Beratungsstellen zeigen jedoch, dass die Erreichbarkeiten, Zugänglichkeiten und Auskunftsbereitschaften in regionaler und personeller Hinsicht große Unterschiede aufweisen können. Die fehlende Transparenz hinsichtlich des Ablaufs und der zeitlichen Dimension juristischer Verfahren gegenüber Betroffenen kann massiv negative Auswirkungen auf therapeutische Stabilisierungsmaßnahmen und Bewältigungsstrategien von Betroffenen haben. Eine Rücksichtnahme auf Einzelschicksale findet in diesem Rahmen nicht statt (Grüter 2023, S. 10).

Vor allem die erneute Konfrontation mit den Täter:innen oder deren Gesinnungsgenossen im Gerichtssaal kann darüber hinaus erhebliche Sorgen und Ängste bei den Betroffenen auslösen und im schlimmsten Fall weitere Gewalterfahrungen mit sich bringen. Die Involvierung in juristische Prozesse kann somit erhebliche negative Konsequenzen auf die gesundheitliche Rehabilitation von Betroffenen haben und gegebenenfalls zu einer Retraumatisierung führen.

Belastende Rollenreduzierung der Betroffenen

Die Betroffenen werden in juristischen Verfahren lediglich auf die Rolle der Zeug:innen des Geschehens reduziert, deren Aussagen und geschilderte Erinnerungen auf Widersprüche zu prüfen und zu hinterfragen sind. Diese Rollenreduzierung kann ein Gefühl mangelnder Anerkennung sowie eine Infragestellung der eigenen Glaubwürdigkeit hervorrufen. Teilweise müssen Betroffene in der Praxis gar die Erfahrung machen, dass juristische Verfahren gänzlich ohne die persönliche Anhörung verhandelt werden. So beschreibt ein Betroffener rassistischer Gewalt, der vier Jahre lang auf die Eröffnung des Prozesses gegen die Täter:innen warten musste und letztlich selbst nicht in den Zeugenstand gerufen wurde, diese Erfahrung folgendermaßen:

Zitat

„Ich wollte mich nur äußern. Während des Prozesses alles rauslassen, was mir passiert war. Aber leider konnte ich mich nicht äußern. Das war sehr enttäuschend für mich.“

(Camara 2023, S. 5)

Die Involvierung in juristische Prozesse verbinden Betroffene trotz der beschriebenen Herausforderungen häufig mit dem zentralen Bedürfnis, ihre Perspektiven sichtbar zu machen und sich Gehör zu verschaffen. Hier kann das Instrument der Nebenklage ein wichtiges Mittel sein, um verstärkten Einfluss auf das Verfahren nehmen zu können und das Tatmotiv sowie die individuellen Folgen vor Gericht herauszuarbeiten.

Die Optionen der Nebenklage und Verdolmetschung

Die Nebenklage kann darüber hinaus ebenfalls ermöglichen, eine Verdolmetschung für die gesamte Verfahrensdauer in Anspruch zu nehmen (vgl. Püschel 2023, S. 37), wobei Zeug:innen vor Gericht auch ohne die Inanspruchnahme einer Nebenklage das Recht haben, eine:n Dolmetscher:in hinzuzuziehen, um ihre Aussage in der Wahlsprache durchführen zu können. Die Erfahrungen aus der Beratungspraxis legen diesbezüglich den Rückschluss nahe, dass die Inanspruchnahme einer Verdolmetschung häufig eine zwischenmenschliche Distanz zwischen geschädigten Zeug:innen und anderen Verfahrensbeteiligten herstellen kann. Diesbezüglich kann die zwischengeschaltete Instanz der Verdolmetschung den Effekt haben, dass den Perspektiven und Schilderungen von Betroffenen hinsichtlich individueller Auswirkungen und Tatmotiven eine gewisse Authentizität abhandenkommt beziehungsweise abgesprochen wird. Demgegenüber lassen Beobachtungen aus der Beratungspraxis vermuten, dass die Durchführung der Zeugenaussage in deutscher Sprache einen direkteren Zugang sowie mehr Empathie und Zuspruch durch Staatsanwält:innen oder Richter:innen hervorruft. Die empathische Begegnung zwischen Geschädigten und anderen Verfahrensbeteiligten kann somit großen Einfluss auf die emotionale und psychische Belastungsregulierung von Gewaltbetroffenen, aber auch auf den konkreten Ablauf des Verfahrens und seinen Ausgang haben.

Konsequenzen für die Beratungsarbeit

Opferberatungsstellen nehmen sich als zivilgesellschaftliche Akteure der Aufgabe an, für Betroffene von rechter Gewalt eine institutionelle solidarische Stütze zu sein. Im Zentrum der Beratung und Unterstützung von Betroffenen rechter Gewalt bei juristischen Prozessen stehen deren Bedürfnisse und Aufträge an die Beratungsstelle, die ein vielseitiges und ineinandergreifendes Repertoire an Beratungsleistungen implizieren. Die Aufklärung über den Ablauf des Verfahrens, die Einrichtung von ladungsfähigen Anschriften, Einblicke in gerichtliche Abläufe, die Erklärung von Zusammenhängen und Verfahrensweisen können dazu beitragen, Handlungssicherheit herzustellen und Handlungsoptionen aufzuzeigen (vgl. Köbberling 2018, S. 331). Die psychosoziale Beratung und Begleitung von Betroffenen durch die spezialisierten Beratungsstellen vor Ort, das Organisieren einer gemeinsamen sicheren An- und Abreise, die kritische Prozessbeobachtung sowie die solidarische Unterstützung im Gerichtssaal können darüber hinaus wesentliche Elemente sein, um Belastungen in juristischen Verfahren für Betroffene zu reduzieren. Konkrete Beratungsangebote im Kontext von Strafprozessen können zudem die Unterstützung bei der Kommunikation mit Rechtsanwält:innen und der Justiz, die Beantragung von Prozesskostenhilfe oder die Anbindung an weitere Hilfsangebote zur psychischen Entlastung der Betroffenen während der juristischen Aufarbeitung ihres Falls sein.

Verhinderung von sekundärer und tertiärer Viktimisierung

Die Herausforderungen, denen Betroffene rechter Gewalt im Rahmen von Gerichtsprozessen ausgesetzt sind, sind darüber hinaus vielfach im Bereich der sekundären und tertiären Viktimisierung verortet. Die Grundvoraussetzung für die dahingehende Beratung und Unterstützung von Betroffenen ist vorerst die Linderung der individuellen Leidensdimension und der individuellen Gewalterfahrung, die in einem nächsten oder gegebenenfalls begleitenden Schritt eine gesamtgesellschaftliche Perspektive sowie eine strategische und aktive Positionierung der Betroffenen ermöglichen kann. Eine professionelle Begleitung und Unterstützung von Betroffenen im Rahmen juristischer Prozesse muss daher neben der individuellen Unterstützung und der Verhinderung von weiteren Viktimisierungserfahrungen ebenso Möglichkeiten des Empowerments von Betroffenen einschließen und damit vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Wirkmächtigkeit juristischer Prozesse zudem eine politische Zielsetzung aufweisen, sofern dies von den Beratungsnehmer:innen gewünscht ist.

Parteiliche Haltung der Opferberatungsstellen

Die Perspektiven und Expertisen von Betroffenen müssen hier den Ausgangspunkt für eine politische Intervention der Beratungsstellen darstellen. Dies kann beispielsweise durch solidarische und kritische Prozessbeobachtung und darauf basierende fallbezogene und politische Öffentlichkeitsarbeit, lokale Interventionen und verstärkte Netzwerkarbeit geschehen. In dieser Hinsicht grenzt sich die Unterstützung durch die spezialisierten Opferberatungsstellen bewusst vom Prinzip der Neutralität gegenüber dem Ausgang des Verfahrens als wesentlicher Aspekt institutionalisierter psychosozialer Prozessbegleitung ab. Die nichtneutrale, parteiliche Haltung und Praxis der Beratungsstellen zielt somit neben der Entlastung und Unterstützung der Betroffenen im Zusammenhang mit belastenden juristischen Prozessen vor allem auf die Wahrnehmung von Strafprozessen als politisches Instrument in der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt ab (vgl. Köbberling 2018, S. 336). Die spezialisierten Beratungsstellen nehmen in dieser Hinsicht ein politisches Mandat Sozialer Arbeit wahr, indem nicht nur die Unterstützung bei der individuellen Problembewältigung, sondern ebenfalls die Veränderung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie die Veränderung gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen im Fokus der Intervention stehen (vgl. Anhorn et al. 2008, S. 38). Die juristische Aufarbeitung rechter Gewalt kann ein Mittel zu deren Bekämpfung darstellen, um Täter:innen zu sanktionieren und ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz zu entziehen. Dies muss jedoch mit einer gesellschaftspolitischen Perspektive und einer politischen Kritik an der Praxis von Strafverfolgungsbehörden einhergehen, die diese als gesellschaftliche Instanzen markiert, in denen Ideologien der Ungleichwertigkeit strukturell reproduziert werden (vgl. Köbberling 2018, S. 336).

Eine parteiliche und solidarische Unterstützung von Betroffenen im Rahmen juristischer Prozesse muss demnach immer auch im Kontext eines Kampfes um Anerkennung politischer Tatmotive und des erlittenen Unrechts von Betroffenen verortet werden, um an der Seite von Betroffenen und unter Vermeidung paternalistischer Vorgehensweisen rechter Gewalt als gesamtgesellschaftlichem Phänomen entgegenzutreten. Die Durchführung fallbezogener Öffentlichkeitsarbeit gemeinsam mit Betroffenen kann in dieser Hinsicht beispielsweise dazu beitragen, dass Betroffene den jeweiligen Verfahren und gemachten Gewalterfahrungen weniger ausgeliefert sind und dass ihre Perspektiven und Expertisen im gesellschaftspolitischen Diskurs über Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit wahrgenommen und in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt werden.

Quellen / Literatur

Anhorn, Roland; Bettinger, Frank; Stehr, Johannes; Schmidt-Semisch, Henning (Hg.) (2008): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden.

Camara, Ousmane (2023): Für mich ist das purer Rassismus. In: Hinsehen. Online-Halbjahresmagazin der Opferberatung Rheinland, Nr. 5, S. 3–6.

Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e. V. (2022): Rassistische Realitäten. Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Online (PDF-Download): Externer Link: https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Rassistische_Realit%C3%A4ten/DeZIM-Rassismusmonitor-Studie_Rassistische-Realit%C3%A4ten_Wie-setzt-sich-Deutschland-mit-Rassismus-auseinander.pdf (abgerufen am 22.5.2024).

Die Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen (o. J.): Justizportal Online, Nebenklage, Externer Link: www.justiz. nrw.de/BS/recht_a_z/N/Nebenklage/index.php (abgerufen am 25.3.2024).

Grünberger, Michael; Mangold, Anna Katharina; Markard, Nora; Payandeh, Mehrdad; Towfigh, Emanuel V. (2021): Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Ein Essay. Baden-Baden.

Grüter, Lisa (2023): Rechtslücken und Reformationsbedarf hinsichtlich der angemessenen Berücksichtigung der Perspektive von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Ermittlungs- und Gerichtsprozess. In: Hinsehen. Online-Halbjahresmagazin der Opferberatung Rheinland, Nr. 5, S. 9–12.

Köbberling, Gesa (2018): Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention. Bielefeld.

Püschel, Hannes (2023): Erlebnisse von Betroffenen rechter Gewalt mit der Justiz. In: gesicht zeigen! (Hg.): Ringvorlesung Rechtsextremismus und Justiz — Sammlung interdisziplinärer Perspektiven. Berlin, S. 29–37.

Quent, Matthias; Geschke, Daniel; Peinelt, Eric (2014): Die haben uns nicht ernst genommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei, hg. von ezra – mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Neudietendorf.

Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) e. V. (2023): Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2022 – Jahresbilanzen der Opferberatungsstellen. Online: Externer Link: https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2022-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/ (Abruf am 25.3.2024).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Verwendung von „rechter“ statt bspw. „rechtsextremer“ Gewalt betont, dass die Ausübung rechts motivierter Gewalttaten kein ausschließliches Phänomen des „rechten Randes“ ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Problematik darstellt, die ebenfalls in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft verortet ist. Die Bezeichnung „rechte Gewalt“ verdeutlicht, dass Ideologiefragmente rechter Gewalt tief in der Gesellschaft verankert sind und dass Menschen, die rechte Gewalttaten begehen, nicht zwangsläufig der extremen Rechten angehören oder ein ideologisch gefestigtes rechtes Weltbild aufweisen müssen. Somit wird wiederum die alltägliche Bedrohungslage potenziell betroffener Menschen zum Ausdruck gebracht. Für eine tiefergehende kritische Betrachtung des Rechtsextremismus-Begriffes siehe bspw.: Externer Link: https://www.vielfalt-mediathek.de/rechtsextremismus?gad_source=1&gclid=EAIaIQobChMIk-mojsDChgMVRJWDBx21hQDPEAMYASAAEgLJ3PD_BwE

  2. Am unabhängigen Monitoring beteiligten sich im Jahr 2022 Beratungsstellen aus folgenden Bundesländern: Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen.

  3. Es gibt drei Stufen der Viktimisierung: Die primäre Viktimisierung „[…] bezieht sich auf den Zeitpunkt der Tat und wird beeinflusst durch verschiedene Opfer- und Täter_innenfaktoren [sic!] und Situationsmerkmale. Sekundäre Viktimisierung ist eine Verschärfung der primären und entsteht durch Fehlreaktionen des sozialen Umfelds und öffentlicher Institutionen – vor allen der Polizeikontakt ist in der Regel einer der wichtigsten Faktoren in diesem Prozess. Die dritte Stufe ist die tertiäre Viktimisierung, die zu einer Verfestigung der Opferidentität und damit zu einem veränderten Selbstbild führt. Die verschiedenen Stufen müssen dabei nicht zwangsläufig aufeinanderfolgen.“ (Quent et al. 2014, S. 18)

  4. Hierbei soll es nicht darum gehen, jegliche behördliche Vorgehensweisen infrage zu stellen. Vielmehr geht es um die Sichtbarmachung von teilweise kollidierenden Ansprüchen und Erwartungshaltungen zwischen Justiz und Geschädigten.

  5. Die Inanspruchnahme der Nebenklage ermöglicht den Betroffenen, durch eine anwaltliche Vertretung bei „bestimmten Straftaten […] ein besonderes schutzwürdiges Interesse durch eine umfassende Beteiligungsbefugnis am gesamten Verfahren“ wahrzunehmen und ungebunden von staatsanwaltschaftlichen Bemühungen „persönlichen Interessen“ Raum zu geben (vgl. Die Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, o. D.).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autoren/-innen: Asal Kosari, Fabian Reeker für bpb.de

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Asal Kosari (sie/ihr) ist Sozialarbeiterin und Trainerin/Referentin mit gesellschaftspolitischem/ -transformierendem Schwerpunkt. Sie arbeitet seit 2021 als Beraterin für Betroffene rechter Gewalt bei der Opferberatung Rheinland in NRW.

Fabian Reeker ist Projektleiter der Opferberatung Rheinland (OBR) in Düsseldorf. Er ist Sozialarbeiter und hat zusätzlich den interdisziplinären Master "Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen" studiert.