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Mehr als nur „Extremismusprävention“ Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen politischer Bildung und Beratungsstrukturen im Themenfeld Rechtsextremismus

Heiko Klare

/ 8 Minuten zu lesen

Politische Bildung und Beratung gegen Rechtsextremismus werden oft in einem Atemzug als Präventionsansätze genannt. Welche Schnittmengen und Abgrenzungen beider Ansätze gibt es?

Politische Bildung und Beratung im Themenfeld Rechtsextremismus sind zwei Ansätze, die trotz mancher Gemeinsamkeiten auch grundlegende Unterschiede aufweisen. (© Adobe-Stock/yj)

„Bildung und Beratung gegen Rechtsextremismus“ werden oft in einem Atemzug genannt – und das dann häufig im Rahmen von Forderungspapieren oder Maßnahmenplänen, mit denen auf Rechtsterrorismus, Gewalt gegen Politiker:innen oder andere akute Herausforderungen reagiert werden soll. Damit werden zwei Ansätze in Stellung gebracht, die präventiv gegen „Extremismus“ wirken sollen. Aber kann das überhaupt funktionieren? Sind Beratung und Bildung nicht auf Freiwilligkeit und Ergebnisoffenheit angewiesen? Wo liegen zudem die Schnittmengen und Abgrenzungen dieser Ansätze, die auch im Rahmen der Förderprogramme von Bund und Ländern zu diesem Themenfeld häufig benannt und mit Mitteln bedacht werden – dabei aber womöglich sogar in Konkurrenz um eben diese stehen?

Bildung und Beratung: Abgrenzungen und Schnittmengen

Die Ansätze von Beratung im Themenfeld „Rechtsextremismus und Demokratiegefährdung“ sind vielfältig und in den letzten mehr als 20 Jahren maßgeblich über Bundes- und Landesförderprogramme ausgebaut worden. Zentrale Strukturen wie die Interner Link: Opferberatung, die zivilgesellschaftliche Interner Link: Ausstiegs- und Distanzierungsberatung sowie die Mobile Beratung haben sich in dieser Zeit professionalisiert, eigene Standards und Grundsätze etabliert und entwickeln sich so schrittweise zu eigenen Berufsfeldern. Sie beziehen sich dabei einerseits auf die sie fördernden Programme, die durch die Mittelgeber zunehmend als „Extremismusprävention“ gerahmt werden. Andererseits verorten sie sich selbst im Kontext von Beratungswissenschaft und -praxis und orientieren sich an Sozialer Arbeit. Handlungsleitend sind dabei die Grund- und Menschenrechtsorientierung, die Förderung einer auf Teilhabe und Gleichwertigkeit ausgerichteten demokratischen Kultur sowie eine Stärkung der Handlungskompetenz der Beratungsnehmenden („Empowerment“). Dabei kommt vor allem in der Mobilen Beratung dem Sozialraum, also dem Lebens- oder Arbeitsumfeld der Beratungsnehmenden, eine große Bedeutung zu. Hier gilt es anzusetzen, um Probleme nicht allein individualisierend zu betrachten, sondern Möglichkeiten für Unterstützung, Vernetzung und Selbstwirksamkeit zu finden. Dafür ist eine macht- und hierarchiekritische Perspektive auf die jeweiligen Gegebenheiten wichtig: Wer kann hier überhaupt sprechen, wem wird zu gehört? Und wem (warum) nicht?

Politische Bildung in Deutschland ist breit gefächert und blickt auf eine weit längere Geschichte und Fachdebatte zurück, die vor allem im Bereich der formalen politischen Bildung in Schulen auch universitär verankert ist. Neben der formalen beschäftigt sich insbesondere die nonformale Interner Link: politische Bildung mit gesellschaftlichen Herausforderungen wie Rechtsextremismus. Aber sie erschöpft sich nicht in Wissensvermittlung, sondern will lebensweltorientierte Angebote machen, damit möglichst viele Menschen teilhaben, sich ein eigenes Urteil bilden und selbst einmischen können – und dabei auch die Positionen anderer anerkennen und wertschätzen (vgl. adb 2019). Damit fokussiert sie auf die Potenziale der Adressat:innen und sieht sie nicht als mögliche Problemträger:innen. Für die Beschäftigung mit Rechtsextremismus bedeutet dies, dass politische Bildung sich nicht als Primärprävention dagegen versteht, sondern „Mündigkeit und Emanzipation in einer offenen Gesellschaft“ zu fördern versucht (Achour/Gill 2020, S. 11). Auch die politische Bildung bezieht sich dabei konkret auf die Grund- und Menschenrechte (Lösch 2019, S. 19).

Berührungspunkte und Zusammenarbeit

Zunächst bleibt festzuhalten: Es handelt sich um zwei unterschiedliche Ansätze, die auf unterschiedlichem Weg teils ähnliche Ziele verfolgen – wenn auch die Beratungsarbeit einen stärkeren Zuschnitt auf ein Problemfeld hat, das aber wiederum in gesellschaftliche Kontexte und Verhältnisse eingebettet wird. Die Beratungsstrukturen verstehen sich damit in der Regel nicht als Teil der politischen Bildung, auch wenn sie entsprechende Methoden nutzen. Aus der Perspektive der politischen Bildung sind beide Ansätze „Handlungsfelder, die sich in ihrem Arbeitsauftrag klar voneinander trennen lassen“. Es könnten daher „aus Mobiler Beratung Interventionen der politischen Bildung entwickelt werden. Und andersherum können aus Maßnahmen der politischen Bildung neue und weitere Bedarfe der Unterstützung durch Mobile Beratung entstehen“ (Widmaier 2019, S. 15).

Zwischen beiden Ansätzen gibt es somit auch vielfältige Berührungspunkte und Überscheidungen: In einigen Bundesländern sind Bildungsstätten Träger von Opfer- oder Mobilen Beratungsteams (zum Beispiel „Arbeit und Leben“ in Hamburg, das Adolf Bender Zentrum im Saarland oder das LidiceHaus in Bremen). Einige Träger der Beratungsangebote sind ihrerseits anerkannter Träger der politischen Bildungsarbeit, so etwa das Kulturbüro Sachsen. Die Zusammenarbeit vor Ort ist häufig intensiv und erfolgt sowohl anlassbezogen als auch themengebunden in längerfristigen Partnerschaften. Nicht zuletzt entstehen aus Angeboten der politischen Bildung Anlässe für Beratungsprozesse – und umgekehrt. Die Mobile Beratung bezieht „Methoden politischer Bildungsarbeit“ in ihren „Inhaltlichen und methodischen Grundsätzen“ als möglichen Teil von Beratungsprozessen mit ein: In Qualifizierungsangeboten für Engagierte und Verantwortliche sei es das Ziel, „die Teilnehmenden zur Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Veränderungsdynamiken und Konflikten zu befähigen.“ Dazu gehöre „immer auch die Reflexion eigener Standpunkte sowie derjenigen Machtverhältnisse, die den Herausforderungen vor Ort zugrunde liegen“ (BMB 2024, S. 39).

Gemeinsame Fragen und Herausforderungen

Daraus ergeben sich Fragestellungen, die trotz vergleichbarer Ziele und institutioneller Nähe zuletzt eher getrennt voneinander diskutiert worden sind. Sie haben praktische Auswirkungen auf die Angebote politischer Bildung, die Unterstützung durch Beratung und die Zielgruppen beider Ansätze. Im Folgenden sollen zentrale Herausforderungen kurz dargestellt werden:

  • Sowohl Beratungsarbeit als auch politische Bildung kritisieren seit vielen Jahren eine vor allem von Sicherheitsbehörden und Innenministerien geprägte Perspektive auf Gesellschaft, die von einer demokratischen Mitte und problematischen Rändern ausgeht. In diesem breit akzeptierten „Extremismuskonstrukt“ erscheinen die Herausforderungen vor allem individuell, die Radikalisierung einzelner Menschen und Gruppen wird zum Problem. Damit werden gesellschaftliche Hintergründe und Strukturen systematisch ausgeblendet. Die Realität ist komplexer und komplizierter. Sie erfordert eine breitere Perspektive, die Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen in der gesamten Gesellschaft bearbeitbar macht. Eine Verengung auf „Extremismusprävention“ wird daher aus beiden Arbeitsfeldern problematisiert: Beratung und Bildung können nicht allein Instrumente der inneren Sicherheit sein (Widmaier 2022, S. 3).

  • Damit einher geht eine Kritik an einer stark staatszentrierten Problembeschreibung, die vor allem in den Förderprogrammen des Bundes und der Länder durchscheint. Hier ist der Bezugspunkt vor allem die Interner Link: freiheitliche demokratische Grundordnung. Der Blick richtet sich weniger auf Emanzipationsprozesse und Selbstwirksamkeit von Teilnehmenden und Beratungsnehmenden, sondern vorrangig auf potenzielle Risiken für die Gesellschaft, vor allem aber für den Staat. So werden aber emanzipatorische Perspektiven sowie macht- und hierarchiekritische Problemanalysen verstellt oder sogar verunmöglicht: weil nicht mehr gesellschaftliche Prozesse und Zusammenhänge in den Blick genommen, sondern im Sinne eines formalistischen Demokratieverständnisses lediglich Bedrohungen für die Sicherheit des Staates und seiner Bürger:innen bekämpft werden (vgl. Klare 2023, S. 41).

  • Im Gegensatz dazu erfordern politische Bildung und Beratung eine Ergebnisoffenheit, die den Teilnehmenden und Beratungsnehmenden eigene Wege und Erkenntnisse zugesteht. Wenn aber im Sinne einer „staatlich verordneten“ Interner Link: Primärprävention das Ergebnis gewissermaßen vorweggenommen wird, können solche offenen Prozesse nicht mehr entstehen. Beratung im Themenfeld Rechtsextremismus ist auch zu verstehen als „Möglichkeitsraum für Gegenentwürfe“ (Mayer 2023, S. 198), mit der nonformalen politischen Bildung teilt sie die Voraussetzung der Freiwilligkeit.

  • Auch wenn Ergebnisse von Bildungs- und Beratungsprozessen offen sind, ist die Haltung beider Berufsfelder stark an Menschenrechte und die Idee der möglichst breiten Teilhabe gekoppelt. Damit stellen beide Ansätze Fragen nach Macht- und Hierarchieverhältnissen und nehmen diese Strukturen auch konkret in den Blick. Die Finanzierung von Bildungs- und Beratungsträgern ist in Deutschland allerdings stark von staatlichen Förderprogrammen abhängig. Trotzdem betonen beide Strukturen ihre inhaltliche Unabhängigkeit und stehen dafür auch in Debatten um die Zukunft der Förderung immer wieder ein. Hier entsteht also ein Dilemma zwischen notwendiger Kritik an staatlichem Handeln und damit auch staatlichen Akteur:innen auf der einen Seite sowie dem Eingebundensein in staatliche Förderprogramme und deren Vorgaben auf der anderen.

  • Schlussendlich führt die beschriebene Abhängigkeit aktuell zu Konkurrenzen um Fördermittel zwischen „alten“ Trägern der politischen Bildung und „neuen“ Trägern aus der „Extremismusprävention“ – zu denen auch die Träger der Beratungsstrukturen aufgrund ihrer Förderung gehören. Aus der politischen Bildung gibt es seit einigen Jahren neben den oben beschriebenen inhaltlichen Punkten eine starke Kritik am deutlichen Aufwuchs der Förderung im Rahmen der „Extremismusprävention“, insbesondere im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), im Vergleich zu den stagnierenden Mitteln für politische Bildung im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes sowie die Befürchtung einer staatlich „gelenkten Zivilgesellschaft“ (Widmaier 2022, S. 5). Diese Befürchtung teilt sie mit den Beratungsstrukturen, die eine „demokratische Zivilgesellschaft“ in der Krise sehen – aber ebenso als Antwort auf aktuelle Krisen im Gegensatz zu autoritären Versuchungen (vgl. Mehrer/Lorenz 2023).

Politische Bildung im Kontext Mobiler Beratung

Die beiden Berufsfelder haben also unterschiedliche Aufgabenbeschreibungen, verfolgen dabei aber ähnliche Ziele und haben gemeinsame Fragestellungen und Kritik formuliert – wenn auch bisher selten gemeinsam diskutiert. Wie sieht nun die Verknüpfung von politischer Bildung und Beratungsarbeit konkret in der Praxis aus?

„Wir leisten politische Bildungsarbeit“, heißt es dazu in den inhaltlichen und methodischen Grundsätzen Mobiler Beratung (BMB 2024, S. 38). Ein beispielhafter Blick in die Arbeitsrealität der Beratungsstellen ermöglicht eine genauere Beschreibung von Einbindung und Verschränkung der Ansätze:

Vor allem in der längerfristigen Begleitung von Organisationen oder Initiativen nutzen Mobile Beratungsteams unterschiedliche Methoden politischer Bildung. Zukunftskonferenzen, Workshops oder Moderationen mit der oben beschriebenen Ergebnisoffenheit und den Zielen von Selbstermächtigung und Teilhabe der Teilnehmenden können dann Bausteine der Unterstützung von beispielsweise zivilgesellschaftlichen Bündnissen oder großen Trägern aus der Wohlfahrt sein, die sich mit der eigenen Strategie oder ihrem Leitbild auseinandersetzen.

In unterschiedlicher Intensität und abhängig von den regional vertretenen Akteur:innen bietet sich – gerade vor dem Hintergrund massiv steigender Anfragen – für die Mobile Beratung die Zusammenarbeit mit Projekten und Anbietern politischer Bildung zu konkreten Fragestellungen oder Zielgruppen an. So verweisen zum Beispiel viele Beratungsteams im Kontext der Beratung von Schulen an das Netzwerk Demokratie und Courage oder ähnliche Angebote, die dann anknüpfend an den Beratungsprozess mit der Institution Schule in einzelnen Klassen oder Stufen thematisch weiterarbeiten können.

Häufig erreichen die Mobile Beratung Anfragen, die ohne konkreten Beratungsanlass oder -auftrag vor allem Interesse an der Auseinandersetzung oder Thematisierung von Rechtsextremismus signalisieren. Hier ergibt sich immer wieder die Möglichkeit, auf die in den Regionen tätigen Träger der politischen Bildung mit ihren – in der Regel über die bloße Wissensvermittlung hinausgehenden – Angeboten im Themenfeld zu verweisen. Daraus können sich wiederum Anlässe für Beratungs- und Unterstützungsprozesse ergeben, die dann an die Mobile Beratung zurückgekoppelt werden können.

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Heiko Klare (1981) ist Diplom-Pädagoge und hat ab 2008 die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in NRW mit aufgebaut. Neben seiner Beratungsarbeit hat er ab 2015 den Bundesverband Mobile Beratung als Sprecher mitgegründet und -gestaltet. Er ist Grundsatzreferent des Verbands und beschäftigt sich mit fachlichen und strategischen Fragen des Arbeitsfeldes.