Ausstiegsberatung und Distanzierungsarbeit: Diese beiden Bezeichnungen werden oft als gemeinsam stehendes Begriffspaar genannt, um die Arbeit von Trägern der Ausstiegsberatung zu beschreiben. Dabei stellt Distanzierungsarbeit im Kontext der Rechtsextremismusprävention
Distanzierungsarbeit im Verhältnis zur Ausstiegsberatung
Die Distanzierungsarbeit
Die begriffliche Verortung
Zwar weisen Distanzierungsarbeit und Ausstiegsberatung
Der Eingriff in Radikalisierungsprozesse wird auch als „Einstiegsprävention“ oder „Radikalisierungsprävention“ beschrieben. Distanzierungsarbeit wird im Feld der Rechtsextremismusprävention oftmals als
Eine mögliche Unterscheidung von „Ausstiegsberatung“ und „Distanzierungsarbeit“ lässt sich auf den ersten Blick am Organisationsgrad betreffender Personen festmachen: Distanzierungsarbeit vermittelt den Anspruch, Prozesse bereits vor einer offenkundigen Organisiertheit in den Blick zu nehmen und den Hinwendungsprozess kritisch zu begleiten. Nicht allein die Verortung in einer erkennbar extrem rechten Szene, das Tragen von extrem rechten Codes oder der Eintritt in eine Kameradschaft kann als Kriterium für eine problematische Radikalisierung dienen. Denn so geriete ein Personenkreis aus dem Blick, der in seinen Handlungen und Haltungen bereits menschenverachtend agiert und andere gefährdet. Das Spektrum von Distanzierungsfällen setzt damit deutlich früher an als bei der Ausstiegsberatung. Die Adressat:innen der Distanzierungsarbeit grenzen sich meist sogar von Strukturen mit hohem Organisiertheitsgrad ab und teilen zugleich Einstellungsfacetten mit der extrem rechten Szene. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Floskel: „Ich bin kein Nazi, aber …“ In zunehmend komplexer werdenden Hinwendungsprozessen ist es also durchaus herausfordernd, zu analysieren, wann ein „Einstieg“ als vollzogen bewertet werden kann. Die Ausdifferenzierung extrem rechter Identifikationsangebote erschwert diese Einordnung zusätzlich.
Junge Menschen als Zielgruppe
Distanz e. V., als ein Träger im Feld, begreift Distanzierungsarbeit als das Eingreifen in einen Hinwendungsprozess zu extrem rechten Ideologiefragmenten, das heißt vor einer fortgeschrittenen Radikalisierung und dem klar erkennbaren Anschluss an extrem rechte Organisationen. Die Zielgruppe wird als heterogenes Spektrum begriffen. Distanzierungsarbeit beginnt dort, wo junge Menschen vermehrt visuell (durch szeneaffine Marken beispielsweise) und/oder durch diskriminierende Handlungen oder diskriminierende Äußerungen auffallen. Distanzierungsarbeit adressiert jene, die gefährdet sind, den Einstieg in extrem rechte Weltbilder oder Szenen zu vollziehen, oder die angeworben werden könnten. Zugleich können auch Personen adressiert werden, die an extrem rechten Denkmustern bereits orientiert sind. Es werden junge Menschen in den Blick genommen, die in ihrer (adoleszenten) Identitätsentwicklungsphase stecken und bei denen die Suche nach der eigenen Identität noch Sphären der Auseinandersetzung beinhaltet.
Distanzierung als Ziel
Wie bereits erwähnt, ist die Bezugnahme von Trägern der Ausstiegsberatung auf „Distanzierung“ als Zielanspruch zu bewerten. Die Aussteiger:innen-Initiative EXIT etwa definiert in ihrem Online-Glossar Distanzierung auf zwei Ebenen:
„Prozess der inneren Entfernung und Entbindung von Personen, Gruppen und Bewegungen von den Dimensionen der Radikalität (Ideologie/Religionsmodus; kollektives Missionshandeln; ideologisch intendierte Aggression und Gewalt)
Tätigkeit der unmittelbaren Einflussnahme nichtradikaler Personen und Organisationen auf radikale Personen, Gruppen und Bewegungen zum Zwecke der ausstiegsorientierten inneren Entfernung und Entbindung von den Dimensionen der Radikalität“ (EXIT o. J.)
Die Distanzierung als Entwicklungsprozess im Hinblick auf kognitive und sozialräumliche Faktoren ist demnach zentraler Aspekt in einem Ausstiegsprozess. Im Wesentlichen unterscheiden sich die Werkzeuge für dieses Ziel nicht erheblich von denen der Distanzierungsarbeit. Doch die Ausstiegsberatung wirkt in einem gänzlich anderen Kontext und muss nicht als pädagogische Querschnittsaufgabe gedacht werden.
Die Distanzierungsarbeit ist durch ein pädagogisches Setting gerahmt und nimmt selbst Anlässe zur Auseinandersetzung wahr. Der Initiative solcher Interventionen im Sinne der Distanzierungsarbeit kann ein Vorfall (beispielsweise diskriminierende Äußerungen oder das Tragen extrem rechter Codes) zuvorkommen. Diese Anlässe brauchen einerseits eine klare Grenzsetzung und andererseits auch ein Angebot zur kritischen Reflexion. Hier haben konkrete lebensweltorientierte, beziehungsgestützte Ansprachen das Potenzial, zu einer persönlichen Auseinandersetzung zu motivieren. Der Unterschied zur Ausstiegsberatung wird deutlicher, wenn Distanzierungsarbeit als Handlungsfeld wie folgt definiert wird:
als Aufgabe von pädagogischen Berufen, die sich mit einstiegsgefährdeten Menschen entsprechend ihren Ressourcen und Kontexten auseinandersetzen;
als Aufgabe von spezialisierten Trägern, die spezifische Angebote der Distanzierungsarbeit machen und für Pädagog:innen beratend tätig sind sowie Regelstrukturen unterstützen.
Der entscheidende Unterschied zum Handlungsfeld der Ausstiegsberatung besteht also im konsequent aufsuchenden Charakter der Distanzierungsarbeit. Beratungskontexte sind in der Regel Kontexte, in denen die Beratungsnehmenden selbstinitiierte (oder durch Impulse gestützte) Beratungssettings aufsuchen. Ein Ausstieg und die vorangestellte Zugewandtheit zur extrem rechten Szene gehen mit dem Entschluss einher, „dem bisherigen Kontext der radikalen/extremistischen Gruppe, Bewegung nicht mehr anzugehören“ (EXIT o. J.). Diese Begleitung erfordert Maßnahmen im Bereich der Sicherheitsvorbeugung und -intervention, der sozialen Integration und der Reflexion einer meist längeren Episode im Erwachsenenalter. Distanzierungsarbeit richtet sich jedoch an Menschen, die ihre Einstellungen und Handlungen nicht problematisieren und noch kein Anliegen formuliert haben. Diese Personen waren nicht jahrelang in Szenezusammenhängen aktiv. Der selbstinitiierte Ausstieg aus einer extrem rechten Szene hat gänzlich andere Rahmenbedingungen. Die entscheidende Herausforderung der pädagogischen Fachkraft im Kontext der Distanzierungsarbeit ist daher zunächst, einen Hinwendungsprozess (auch im Frühstadium) zu erkennen. Weiterhin muss diese Hinwendung im weiteren Verlauf kritisch fachlich gespiegelt und reflektiert, ein konstruktiver Zugang hergestellt, eine kritikgetragene Beziehung entwickelt und die gewonnene Motivation zur Auseinandersetzung aufrechterhalten werden.
Distanzierungsarbeit als Handlungsfeld
Distanzierungsarbeit vermittelt die Überzeugung, dass die Arbeit mit extrem rechts einstiegsgefährdeten und orientierten jungen Menschen nötig und möglich ist, wenn sie klar definierten Qualitätsstandards folgt. Sie benötigt dafür ausreichend Ressourcen und Fachlichkeit, kollegiale Reflexion und eine demokratisch wie menschenrechtsorientierte Ausrichtung der eigenen Haltung.
Junge Menschen, die kontinuierlich mit diskriminierenden Aussagen und Handlungen auffallen, laufen Gefahr, durch das Raster präventiver oder allgemeinbildender Angebote zu fallen. Häufig stören oder unterlaufen sie sogar diese Angebote und gefährden den Mehrwert für andere. Diese Dynamik stellt Pädagog:innen vor große Herausforderungen. Junge Personen, die durch diese Angebote nicht erreicht werden, benötigen eine grundsätzlichere Auseinandersetzung im Sinne der Distanzierungsarbeit. Dies bedeutet meist ein intensiveres und ressourcenaufwendigeres Setting für die Arbeit mit ihnen. Wird der Weg der Abwertung oder gar Ausgrenzung bereits bewusst gewählt, gilt es, verantwortungsvoll Wege auszuloten, um nachhaltig klare Grenzen vermitteln zu können und gegebenenfalls auch ihr Umfeld zu schützen.
Eine aufsuchende Querschnittsaufgabe
Ein relevanter Ansatz in der Praxis stammt von der Sozialarbeitswissenschaftlerin Silvia Staub-Bernasconi, wonach Soziale Arbeit eine Menschenrechtsprofession ist (vgl. 2009: S. 10ff.). Davon ausgehend wird Distanzierungsarbeit als Querschnittsaufgabe pädagogischer Auseinandersetzung begriffen. Je weiter ein Radikalisierungsprozess fortschreitet, umso schwerer wird es, die Hinwendung zu bremsen. Pädagog:innen und Multiplikator:innen aus diversen Feldern der Jugendhilfe, Jugend(sozial)arbeit sowie Schule spielen eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, da gerade in den Anfängen eines Hinwendungsprozesses die erste irritierende Wirkung ein großes Potenzial entfalten kann. Diese Früherkennung erfordert eine aufsuchende Arbeit. Stefan Tepper führt hierzu aus:
„Es sollten vielmehr darüber sowohl Personen adressiert werden, die sich noch im Hinwendungsprozess befinden, als auch solche, die bis dato nichts haben verlauten lassen, sich von rechtsextrem orientierten Szene- und Haltungszusammenhängen abzuwenden zu gedenken.“ (Tepper 2021, S. 399).
Und weiter führt er aus, dass es wichtig ist:
„… über aufsuchende Arbeit – sowohl in virtuellen wie auch in der gegenständlichen Welt – in Kontakt mit Assoziierten rechtsextrem orientierter Szene- und Haltungszusammenhänge zu treten, eine Beziehung aufzubauen, gezielt Abwendungsmotive befördern zu können oder aber bereits bestehende aufzunehmen und Hilfe bei der Transformation von Abwendungsideen zu Abwendungshandeln anzubieten“ (ebd.).
Erfolgen frühe Formen der Interventionen nicht, besteht im weiteren Verlauf der Entwicklung die Gefahr, dass sich Jugendliche mit einem Hang zur Abwertung und Gewalt ein entsprechendes Angebot suchen, in dem sie Anerkennung finden und in ihren destruktiven Haltungen bestärkt werden. Eine pädagogische Intervention im Frühstadium der Hinwendung ist zentral, um Entwicklungstendenzen in menschenverachtende Einstellungen und Handlungen sowie eine extrem rechte ideologische Rechtfertigung und Verfestigung zu verhüten. Dies dient zugleich dem präventiven Schutz (zukünftiger) Betroffener von Gewalt und Abwertung.
Pädagogische Ziele, Methoden und Techniken
Distanzierungsarbeit nimmt folgende Ziele in den Blick:
die Distanzierung von menschenverachtenden Einstellungen und Verhalten: Gruppenzuschreibungen und kollektive Abwertungen werden infrage gestellt und alternative, menschenrechtsorientierte Perspektiven angeboten. Menschenfeindliche Aussagen werden bewusst gemacht und die Pluralität der Lebensentwürfe diskriminierter Menschen thematisiert. Es müssen in diesem Prozess Hinwendungsfaktoren berücksichtigt werden, die die Einstellung des jungen Menschen bedingt haben.
die Reduktion von Gewalt befürwortenden Einstellungen und gewalttätigen Handlungen sowie das Aufzeigen von Konsequenzen für die eigene Biografie und die möglicher Betroffener: Adressat:innen werden so in die Lage versetzt, eigene Konfliktmuster zu erkennen und konstruktivere Strategien im Umgang mit dem eigenen Konfliktverhalten zu entwickeln.
die Stärkung von Selbstreflexion und die Entwicklung eines konsistenten Selbstwerts: Es werden soziale Kompetenzen gefördert, die resilient gegen Abwertungsmuster wirken, wie beispielsweise Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeitsempfinden und die Ausbildung von Ambiguitätstoleranz.
Die Entwicklung von eigenen individuellen Lebensperspektiven und sinnstiftenden Alternativen
zur extrem rechten Orientierung unterstützt die Adressat:innen beim Finden einer konstruktiven Arbeits-, Familien- und Freizeitgestaltung.
Der BRAKE-Ansatz von Distanz e. V.
Distanz e. V. hat im Rahmen der Distanzierungsarbeit den BRAKE-Ansatz
Beziehungsgestützt: Distanzierungsarbeit benötigt eine pädagogische und professionelle Beziehung, um eine nachhaltige und konflikttragende Interventionsberechtigung zu etablieren.
Reflexionsanregend: Die Reflexion wird durch gezielte Fragetechniken sowie biografische und systemisch-lösungsorientierte Methoden zur Aufarbeitung und zur Setzung neuer Ziele gestärkt.
Aufsuchend: Die Zielgruppe wird proaktiv erschlossen, angesprochen und in einen Prozess der Auseinandersetzung involviert.
Kritikgetragen: Kritische Interventionen sind von einer klaren und offenen demokratischen, antidiskriminierenden und humanistischen Haltung getragen und setzen Grenzen.
Entwicklungsprozess: In der Summe wird ein Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, der eine (weitere) Radikalisierung verhindern soll und neue Perspektiven für ein respektvolles Miteinander eröffnet.
Distanz e. V. vermittelt u. a. als Zentrum für Distanzierungsarbeit in Thüringen seine Expertise in Form von Fortbildungen, Beratungen und Coachings für diverse Fachkräfte der Jugendhilfe, Jugend(sozial)arbeit und Schule. So können kontext- und ressourcenabhängig Methoden der Distanzierungsarbeit Eingang in die pädagogische Handlungspraxis finden.
Für die Zielgruppe der extrem rechts einstiegsgefährdeten und orientierten jungen Menschen hält Distanz e. V. die intensivpädagogische Maßnahme der Distanzierungstrainings vor.
Zudem sucht Distanz e. V. auch junge Menschen in Form von Workshops und Schulprojekttagen direkt auf. Der Fokus liegt hier insbesondere auf extrem rechts belasteten Regionen und Institutionen. Dieser Erstkontakt dient als Auftakt für ein mögliches Distanzierungstraining oder einen Beratungsprozess. Eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem professionellen und bestenfalls auch familiären Umfeld des jungen Menschen ist in allen Fällen wichtig und unausweichlich.
Fazit
Im Handlungsfeld der Distanzierungsarbeit liegt der Fokus vor allem auf Personen im Frühstadium einer möglichen Radikalisierung, bevor eine offenkundige Organisiertheit erkennbar wird. Es gilt, diese Situation zu erkennen sowie eine lebensweltorientierte Ansprache durchzuführen, um den kritischen Begleitungsprozess der Personen zu fördern. Die Ausstiegsberatung bezieht sich wiederum auf Maßnahmen, die ergriffen werden, um Personen bei einem Ausstieg aus extremen Ideologien zu unterstützen. Diese Personen haben bereits eine Motivation zur Loslösung und fragen Beratung an.
Die Zielgruppe der Distanzierungsarbeit wird in Zeiten des grassierenden Rechtspopulismus immer größer. Das Arbeitsfeld eröffnet sich bereits bei Menschen mit starken Vorurteilen und endet bei Personen, die sich stark menschenfeindlich äußern beziehungsweise verhalten, allerdings keiner Organisation zuzuordnen sind. Das Handlungsfeld für diese letzteren Personen wird durch das Internet nochmal um ein Vielfaches erweitert und erschwert besonders hier die Einschätzung eines Organisationsgrades beziehungsweise einer hohen gewaltbereiten Radikalisierungsstufe gänzlich ohne organisierten Hintergrund.
Mit der Zunahme des Rechtspopulismus weiten sich auch die Grenzen des Sagbaren. Nahezu alle Multiplikator:innen und Pädagog:innen – mithin alle Menschen, die ehrenamtlich oder professionell mit anderen Menschen in Kontakt treten – haben verstärkt mit Konfrontationen und Vorurteilen Einzelner und/oder aus einer Gruppe heraus zu rechnen.
Was es braucht? Ansätze der Distanzierungsarbeit müssen in der Breite an alle Pädagog:innen vermittelt werden, sodass diese mit mehr (Selbst-)Sicherheit eine Grenze ziehen und/oder eine Intervention führen können. Das Handlungsfeld der Distanzierungsarbeit avanciert somit zum Querschnittsthema für die Soziale Arbeit. Daraus resultiert der Arbeitsauftrag, relevante Kompetenzen möglichst breit in diversen pädagogischen Feldern zu schulen.
Um zudem von einer reaktiven in die proaktive Position zu kommen, bedarf es der Unterstützung durch Träger der Distanzierungsarbeit, die zum einen die Zielgruppe aufsuchend und lebensweltorientiert ansprechen, um dann durch geeignete Maßnahmen mit ihr in die Distanzierungsarbeit zu kommen.
Um diese Zielgruppe zu erreichen, arbeitet Distanz e. V. eng mit Signalgeber:innen (meist Pädagog:innen) mit Hilfe einer Multiplikator: innen-basierten Ansprache zusammen.