Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ein Weg aus dem Rechtsextremismus | InfoPool Rechtsextremismus | bpb.de

InfoPool Rechtsextremismus Zielgruppen Schule Politische Bildung Jugendarbeit & Soziale Arbeit Sicherheitsbehörden Öffentliche Verwaltung Betroffene Themenschwerpunkte Grundlagen: Begriffe & Konzepte Ausstieg & Deradikalisierung Beratungsarbeit Weitere Themen Reichsbürger Materialsammlungen Fachdidaktische Publikationen Materialien und Methoden für die pädagogische Praxis Ausgewählte Publikationen für pädagogische Fachkräfte Service Anlaufstellen Angebote der bpb Über den InfoPool Rechtsextremismus

Ein Weg aus dem Rechtsextremismus Grundlagen von Ausstiegsarbeit als multiprofessionelle Beratungstätigkeit

Dr. Stefan Tepper

/ 14 Minuten zu lesen

Was bedeutet der Begriff „Ausstieg“ konkret? Wie und durch wen erfolgt die Ausstiegsberatung im Kontext Rechtsextremismus in der Praxis? Und was kennzeichnet einen erfolgreichen Ausstieg?

Beratungsarbeit zum Ausstieg aus dem Rechtsextremismus ist ein Betätigungsfeld, das sich aus der Praxis heraus entwickelt hat und sich eines umfassenden Methodenrepertoires aus vielen verschiedenen Professionen bedient. (© Adobe-Stock/blende11.photo)

Im folgenden Aufsatz wird ein Überblick über das Arbeitsfeld der Ausstiegsberatung im Kontext Rechtsextremismus gegeben. Zu Beginn erfolgt die Definition des Begriffs „Ausstieg“ in Abgrenzung zu „Distanzierung“, gefolgt von einer kompakten Darstellung, was Menschen erreicht oder geleistet haben müssen, um letztlich als „ausgestiegen“ gelten zu können. Anschließend wird dargelegt, auf welchen Wegen Ausstiegsangebote um Beratungsnehmer:innen werben beziehungsweise wie letztere zu ihnen finden können. Eine Skizze dessen, wie sich Ausstiegsberatung konkret darstellt und – sofern sich das herauslesen lässt – welche Personengruppen beziehungsweise Professionen diese Arbeit betreiben, schließt sich dem an. Nicht zuletzt wird beleuchtet, anhand welcher Merkmale und Hinweise sich feststellen lässt, ob Ausstiegsberatungen erfolgreich verlaufen oder möglicherweise gescheitert sind. Den Abschluss bildet ein Fazit zu den Ausführungen inklusive eines Plädoyers für eine weitere Professionalisierung von Ausstiegsarbeit.

Ausstieg: Was ist das eigentlich?

Bevor erklärt wird, was sich hinter dem Begriff „Ausstieg“ verbirgt, soll kurz beschrieben werden, was Ausstieg nicht ist. Die folgenden Ausführungen werden also mit einer Abgrenzung eingeleitet.

Hier wird dafür plädiert, zwischen Ausstieg und Distanzierung und demzufolge zwischen Ausstiegsarbeit und Interner Link: Distanzierungsarbeit zu differenzieren. Diese Unterscheidung ließe sich zweifelsohne mit der Förderlogik des Geldgebers der zivilgesellschaftlichen Ausstiegsprogramme begründen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019). Diese ist immerhin für ca. die Hälfte der in Deutschland tätigen Ausstiegsprogramme bestimmend. Vielmehr lassen fachliche Betrachtungen den Schluss zu, hier eine Unterscheidung vorzunehmen. Sowohl Ausstiegs- als auch Distanzierungsarbeit finden im Kontext von Abwendungsprozessen statt. Dabei nehmen sie jedoch ihren Ausgang in anderen Stadien von Szenezugehörigkeit, unter unterschiedlichen Voraussetzungen, in verschiedenen Mandatierungen und Beratungssettings, vor wechselnden motivationalen Hintergründen. Bestenfalls werden unterschiedliche Radikalisierungsbegriffe und -konzepte genutzt (Tepper 2024).

Zudem sollte unterschieden werden zwischen der Ausstiegsberatung als einer zeitlich befristeten und zwischen den am Beratungsprozess beteiligten Parteien vereinbarten Unterstützungsleistung sowie dem Abwendungsprozess, der bereits vor der Ausstiegsberatung beginnt und diese in der Regel auch überdauert.

Der Abwendungsprozesses beginnt mit dem individuellen Wunsch zur Abkehr von rechtsextrem orientierten Strukturen und Umfeldern (das kann zu diesem Zeitpunkt bereits eine Bereitschaft zur Überwindung rechtsextremer Haltungen beinhalten, muss es aber nicht notwendigerweise). Ein Abwendungsprozess hat kein (festgesetztes) Ende. Selbst lange nach einer Abkehr von rechtsextremen Kontexten können sich immer noch Anlässe ergeben, verbliebene rechtsextrem akzentuierte Haltungsfragmente und Ressentiments zu reflektieren und zu überwinden (Jende 2014, S. 44f.; Wesche 2014, S. 151). Die Ausstiegsberatung, also die fachliche und professionelle Unterstützung eines Abwendungsprozesses von rechtsextremen Strukturen, Umfeldern und Haltungszusammenhängen, beginnt, wenn die am Beratungsprozess beteiligten Parteien (Beratungsnehmer:innen und -geber:innen) die Aufnahme eines Beratungsverhältnisses vereinbaren. Das Ende dieses Prozesses kann einerseits markiert werden, wenn die beteiligten Parteien feststellen, dass die nachfolgend zitierten Merkmale von gelungenen Ausstiegen erfüllt sind und die Beratungsnehmer:innen keiner weiteren Unterstützung zur Gestaltung und Bewältigung ihres Lebensalltags durch Ausstiegsberater:innen bedürfen. Andererseits ist es möglich, dass Ausstiegsberatungen vorzeitig beendet werden. Häufige Gründe hierfür liegen beispielsweise darin, dass Beratungsnehmer:innen erneut (nicht zwangsläufig einschlägig) straffällig werden, eine Suchtproblematik die Beratungssituation erschwert oder auch Beratungsnehmende einseitig den Kontakt aufkündigen (Saß 2017). Es ist damit aber nicht ausgeschlossen, dass diese nunmehr ehemaligen Beratungsnehmer:innen ihren Abwendungsprozess nicht noch eigenverantwortlich fortführen und erfolgreich abschließen können. Kurz: Es ist komplex.

Ein gelungener Ausstiegsprozess beinhaltet in der Regel die Erfüllung folgender, nach Auffassung aller relevanten hiesigen Akteur:innen der Ausstiegsarbeit notwendigen Voraussetzungen:

  • Aufkündigungen von sozialen Beziehungen in rechtsextreme Kontexte

  • Aufarbeitung und Überwindung rechtsextremer Haltungen bei gleichzeitiger Hinwendung zu demokratisch akzentuierten Grundüberzeugungen

  • Verzicht auf gewaltförmige oder zumindest einschlägige, strafrechtlich relevante Handlungen (Buchheit 2014, S. 235f.; Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ 2014, S. 345; Sander et al. 2019, S. 10; ZDK 2023b)

Weil diese Merkmale in den zitierten Veröffentlichungen als relativ statische Konstruktionen erscheinen, gibt es Stimmen, die sich dafür aussprechen, statt absoluter Zielmarken, die es zu erreichen gilt, einen Korridor aus Maximal- und Minimalanforderungen zu beschreiben, der sich an die oben zitierten Parameter anlehnt und innerhalb dessen Abwendungsprozesse als erfolgreiche Ausstiege gelten können (Tepper 2020c, S. 65ff.; fa:rp 2024).

Unabhängig davon existieren natürlich auch selbstorganisierte Abwendungen von rechtsextremen Kontexten und Haltungszusammenhängen – wobei es hierzu ein großes Forschungsdefizit gibt. Schlussendlich müssen auch diese „Selbst-Ausgestiegenen“ prinzipiell dieselben Merkmale erfüllen, damit ihr Ausstieg als erfolgreich gilt.

Wer sind die Adressat:innen und wie werden sie erreicht?

Die Zugehörigkeit zu rechtsextremen Kontexten und die freiwillige Bereitschaft, sich auf den Beratungsprozess einzulassen, erscheinen als einzige wesentliche Merkmale, die potenzielle Beratungsnehmer:innen aufweisen müssen, um eine Ausstiegsberatung in Anspruch nehmen zu können. Während die behördlichen Ausstiegsprogramme zudem zumindest eine Nähe zur Delinquenz voraussetzen (Buchheit 2014, S.236), ist dies für zivilgesellschaftliche Programme nicht notwendig (Sander et al. 2019, S. 10; ZDK 2023a). Gemein ist den meisten Adressat:innenbeschreibungen, dass keine Kriterien von rechtsextremer Szenezugehörigkeit (wie Organisationsmitgliedschaft, Ideologisierungs- oder Einbindungsgrad) vorgegeben werden oder erfüllt sein müssen, um eine Ausstiegsberatung in Anspruch nehmen zu können. Sowohl zivilgesellschaftliche als auch behördliche Programme begreifen darüber hinaus in unterschiedlicher Ausprägung Personen aus dem Umfeld von Rechtsextremen als mögliche Adressat:innen. Auch diese können Beratungsleistungen in Anspruch nehmen.

Trotz den in Teilen offen scheinenden Formulierungen und einer damit mutmaßlich niedrig angelegten Zugangsschwelle kann kritisiert werden, dass Ausstiegsangebote in Bezug auf die Adressat:innen zu eindimensional aufgestellt sind. So wird beispielsweise zu sehr auf männliche Rechtsextreme sowie deviante oder delinquente Szeneangehörige abgehoben (Tepper 2020b). Dabei scheint es angezeigt, Ausstiegsarbeit konzeptionell auch in Bezug auf andere Personengruppen zu denken, entsprechend weiterzuentwickeln und aufzustellen (Lindner 2021; Tepper 2024).

Grundsätzlich gibt es aus Perspektive der Anbieter von Ausstiegsberatung drei Wege, wie sich Ausstiegsberatungen anbahnen können: durch eine Kontaktaufnahme der Ausstiegsberater:innen, durch die öffentliche Bewerbung von Ausstiegsprogrammen und dadurch motivierte Kontaktaufnahme sowie durch angeordnete Maßnahmen.

Die erstgenannte Variante kann als „personalisierte Adressierung“ beschrieben werden. Dieses Label schließt alle Maßnahmen ein, bei denen Mitarbeiter:innen von Ausstiegsprogrammen von sich aus einmalig oder wiederholt gezielt den unmittelbaren Kontakt zu Einzelpersonen oder auch Gruppierungen des rechtsextremen Spektrums suchen, um diesen Unterstützung bei der Abwendung von rechtsextremen Umfeldern anzubieten (Tepper 2020b, S. 316; 2023, S. 89). Anlass für eine personalisierte Adressierung können zum Beispiel krisenhafte Situationen sein, die rechtsextreme Szeneangehörige durchleben, wie Haftstrafen, der Verlust von Schul- oder Arbeitsplatz oder das Scheitern partnerschaftlicher Beziehungen. Zwar sind dies bekannte Anlässe, rechtsextreme Szenelaufbahnen zu beenden. Die Forschung zeigt aber, dass bislang lediglich eine Korrelation zwischen Krisen und der Manifestation von Abwendungsmotiven beziehungsweise -vorhaben festgestellt wurde (Tepper 2021). Der Nachweis der Kausalität steht bislang noch aus.

Was landläufig unter Öffentlichkeitsarbeit verstanden wird, kann im Fall der Ausstiegsarbeit als „generalisierte Adressierung“ zusammengefasst werden. Gemeint sind Maßnahmen, die dazu dienen, ein Ausstiegsprogramm zu bewerben, ohne dass unmittelbar mit möglichen Adressat:innen in Beziehung getreten werden muss. Vielmehr wird entweder die rechtsextreme Szene insgesamt oder eine ausgewählte Personengruppen wie zum Beispiel Frauen in rechtsextremen Kontexten oder Teilnehmer:innen einer ausgewählten Veranstaltung oder auch inhaftierte Rechtsextreme auf Angebote der Ausstiegsarbeit aufmerksam gemacht. Grundsätzlich können zur generalisierten Adressierung diverse Maßnahmen genutzt werden, die von Social-Media-Auftritten über Werbekampagnen, Fachaufsätze bis zu Presseberichten reichen können. Ebenfalls von Bedeutung ist die Einbindung von Multiplikator:innen, die potenziell in Kontakt mit Angehörigen rechtsextremer Kontexte stehen und diese bei Gelegenheit auf die Existenz von Ausstiegsangeboten hinweisen (Tepper 2020b, S. 316). Häufig handelt es sich dabei um Fachkräfte aus verschiedensten Hilfesystemen, Schule, Vereinen, Justiz oder Strafverfolgung. Bisweilen wird ehemaligen Angehörigen rechtsextremer Kontexte das Potenzial zugesprochen, mit ihrer Geschichte als Multiplikator:innen in Szenekontexte hineinwirken zu können. Die dazu hilfreichen Kennverhältnisse scheinen jedoch aufgrund szeneimmanenter Fluktuation nur vorübergehend zu bestehen (Reitz 2021). Einen Glaubwürdigkeitsvorsprung bei der Zielgruppe genießen ehemalige Szeneangehörige gemäß aktueller Forschung zudem nicht per se (Köhler et al. 2023) – nicht zuletzt auch aufgrund von intraszenischen Gegennarrativen (Tepper 2020c, S. 293f.).

Ein dritter Weg besteht darin, Ausstiegsberatung in einen Zwangskontext zu setzen und diese zu verordnen, also zum Beispiel per Weisung im Rahmen eines Gerichtsverfahrens oder einer vorzeitigen Haftentlassung aufzuerlegen. Dies steht im Widerspruch zum eingangs angeführten Merkmal der freiwilligen Bereitschaft, sich auf den Beratungsprozess einzulassen (Buchheit 2014, S. 237; Sander et al. 2019, S. 10). Ob und wie diese Diskrepanz aufgelöst werden kann, ist derzeit noch nicht abschließend festzustellen. Aktuell wird in behördlichen und zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen diskutiert, ob und wie Ausstiegsberatungen in einem Weisungskontext umgesetzt werden können (AG Strafvollzug und Bewährungshilfe o. J.; Niedersächsisches Justizministerium 2023b). Die Auflösung (oder gar Nichtauflösbarkeit?) sowie der Umgang mit der zuvor beschriebenen Diskrepanz werden Gegenstand dieser und zukünftiger Diskussionen sein müssen.

Wie stellt sich Ausstiegsberatung in der Praxis dar und wie lange dauert sie?

Ausstiegsberatungen dauern in der Regel von einigen (wenigen) Monaten bis zu mehreren Jahren. Die Dauer ist im Wesentlichen von der Integrationstiefe der Beratungsnehmer:innen in rechtsextreme Szenekontexte abhängig. Darüber hinaus ist relevant, ob die Beratungsnehmer:innen noch außerszenische Beziehungsangebote nutzen können und welche individuell zu bewältigenden Aufgaben sie in die Ausstiegsberatung einbringen.

Zuvor wurde Freiwilligkeit als wichtige Voraussetzung für das Eingehen von Ausstiegsberatungen betont. Das gilt ebenso für die konkrete Umsetzung der Ausstiegsarbeit. Es ist schwer vorstellbar, dass das im Folgenden Skizzierte erfolgreich unter Zwang umgesetzt werden kann. Und mehr noch: Die vom Erziehungswissenschaftler Franz Josef Krafeld (2007) einst getroffene Feststellung, dass sich Menschen dann ändern, wenn sie einen Sinn darin sehen, besitzt auch für Ausstiegsberatungen ihre Gültigkeit. Fehlt eine Problemeinsicht beziehungsweise die Selbsterkenntnis, etwas ändern zu müssen, muss sie im Beratungsprozess erst erlangt werden. Darüber hinaus stellt die Stabilität der Beziehung zwischen den Beratungsnehmer:innen und -geber:innen einen wichtigen Gelingensfaktor für Ausstiegsberatungen dar – neben der fachlichen Eignung der Ausstiegsberater:innen natürlich.

Die konkrete Ausstiegsarbeit kann grob in drei Stränge aufgeteilt werden, die sich zwar analytisch trennen lassen, jedoch in der Praxis meist miteinander verwoben sind, sich wechselseitig beeinflussen, teils parallel verlaufen und nicht zwingend der nachstehend abgebildeten Reihung folgen:

  • die Bearbeitung/Vorbeugung von Gefährdungslagen,

  • die Aufarbeitung und Dekonstruktion rechtsextremer Szenezugehörigkeiten sowie

  • der Aufbau und die Förderung von Kompetenzen zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung.

Ein bedeutender Aspekt der Ausstiegsberatung ist die Bearbeitung/Vorbeugung von Gefährdungslagen. Unter bestimmten Umständen können Abwendungen vollzogen werden, ohne dass diese Übergriffe oder Bedrohungen durch rechtsextreme Kontexte nach sich ziehen (Tepper 2020c, S. 306ff.). Allerdings treten Bedrohungslagen im Ausstiegskontext immer wieder auf. Diesen angemessen zu begegnen, ist Teil von Ausstiegsarbeit (Buchheit 2014, S. 238; Sander et al. 2019, S. 17; ZDK 2023a). Ausstiegsprogramme leisten in unterschiedlichem Maße Unterstützung. Während Programme, die bei Sicherheitsbehörden angedockt sind, naturgemäß breitere Unterstützungsangebote bereithalten können, sind zivilgesellschaftliche Ausstiegsprogramme hier unter Umständen auf Kooperationen mit Sicherheitsbehörden angewiesen (Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ 2014, S. 346f.; Sander et al. 2019, S. 17). Das wäre zumindest in den Bereichen anzunehmen, die das Gewaltmonopol des Staates betreffen. Weitere Kooperationen sowohl mit Sicherheitsbehörden als auch innerhalb der Landschaft der Ausstiegsangebote können zum Beispiel im Rahmen (länderübergreifender) Wohnortwechsel von Klient:innen notwendig werden (Tepper 2020a, S. 71). Grundsätzlich ist bei allen Kooperationen in der Einzelfallarbeit zu bedenken, dass diese stets unter dem Einwilligungsvorbehalt der Beratungsnehmer:innen stehen. Ohne deren Zustimmung können diese nicht zustande kommen, schon allein aus datenschutzrechtlichen Gründen.

Die Aufarbeitung und Dekonstruktion rechtsextremer Szenezugehörigkeiten beinhaltet zum einen die Überwindung rechtsextremer Haltungen. Die individuellen Begründungen für die jeweilige Hinwendung zum Rechtsextremismus gilt es zu verstehen und herauszuarbeiten. Szenehinwendungen passieren nicht „einfach so“. Menschen entscheiden sich dafür – möglicherweise in vielen kleinen Schritten und unter dem Eindruck begünstigender Faktoren, die in ihrer Umwelt angelegt sind, sowie unter dem Einfluss gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Entwicklungen. Die Gründe dafür sind in der Regel in den jeweiligen Biografien der Beratungsnehmer:innen zu finden. Es ist daher von Bedeutung, Kenntnis darüber zu erlangen, wie die Beratungsnehmer:innen Erfahrungen, die als relevant für Szenehinwendungen identifiziert werden können, verarbeitet oder interpretiert haben. Gelingt dies, kann gezielt mit den Beratungsnehmer:innen darauf hingearbeitet werden, alternative Strategien zu entwickeln und diese Erfahrungen zu bearbeiten. Dabei werden dann außerszenisch und sozialverträglich funktionale Äquivalente beispielsweise zu Anerkennungs-, Sinnstiftungs-, Bedürfnisbefriedigungs-, Selbstwirksamkeits- und anderen Angeboten, die rechtsextreme Szenekontexte auf individueller Ebene bereithalten mögen, erschlossen. Dergleichen gilt für rechtsextreme Haltungen. Auch hier sind die individuellen Wege in die Ideologie nachzuvollziehen, sind subjektive individuelle Bedeutung und Gestalt rechtsextremer Weltbilder herauszuarbeiten, um diesen mittels Gesprächen unter Nutzung verschiedener Medien und mit den Instrumenten politischer Bildung zu begegnen und sie zu dekonstruieren – und gleichzeitig auf die Übernahme demokratischer Haltungen hinzuarbeiten. Geschieht all dies erfolgreich, kann Ausstiegsberatung einen wertvollen Beitrag zur Prävention sowohl der erneuten Hinwendung zu rechtsextremen Umfeldern als auch zu anderen menschenfeindlichen, delinquenten oder auch devianten Umfeldern leisten. Die Aufarbeitung und Dekonstruktion von rechtsextremer Szenezugehörigkeit schließt auch die Thematisierung und Aufarbeitung von Straftaten ein. Die eigenen Anteile der Klient:innen an ihren Taten werden herausgearbeitet und gemeinsam mit ihnen im Sinne von Carl R. Rogers (2007) Wege, Strategien und neue Handlungsrepertoires entwickelt, die dabei helfen können, zukünftig nicht mehr straffällig zu werden. Die Rolle von Ausstiegsarbeit in diesem Zusammenhang ist also, Rückfallprävention zu leisten. Dass sie dies vermag, zeigt eine Evaluation eines behördlichen Ausstiegsprogramms, die ergeben hat, dass 94 Prozent der Personen, die durch das Programm betreut wurden, nicht erneut straffällig wurden (Möller et al. 2015, S. 38f.).

Unabhängig davon müssen sich Klient:innen der Ausstiegsarbeit strafrechtlichen Verfahren stellen, wenn diese angestrengt werden. Inwiefern ihre Abwendung von rechtsextremen Kontexten bei einer Strafbemessung berücksichtigt wird, liegt grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Gerichte.

Unter Aufbau und Förderung von Kompetenzen zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung sind Unterstützungshilfen zu fassen, etwa die Integration in den Bildungs- oder Arbeitsmarkt, die Bewältigung behördlicher Angelegenheiten oder die Suche sicherer Wohnumfelder beziehungsweise Wohnraum an sich, aber auch spezialisierte Angebote wie Schulden- und Suchtberatung oder verschiedenste Therapieangebote. Darunter sind aber auch die Erweiterung des Spektrums sozialer Kompetenzen, Aspekte der (nichtdevianten/-delinquenten) Freizeitgestaltung, die Förderung individueller szeneunspezifischer Interessenlagen, die Erschließung von alternativen Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation und die Sozialintegration in außerszenische Umfelder zu subsumieren. Hier kommt ein breit aufgestelltes Instrumentarium der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik zum Einsatz. Ziel ist es, die Beratungsnehmer:innen darin zu befähigen und zu bestärken, ein eigenverantwortliches Leben in einer pluralistischen und demokratisch gesinnten Gesellschaft anzustreben und zu gestalten. Die hier nur holzschnittartig angedeutete Einbindung von externen Fachkräften ist in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Ausstiegsberatung bedarf eines Netzwerks an unterschiedlichen Spezialist:innen und Fachstellen. Über deren Einbezug kann ein individuelles und an den Problemlagen und Bedarfen der Beratungsnehmer:innen ausgerichtetes multiprofessionelles Helfer:innen-Netzwerk geknüpft werden. Dieses soll neben der Bereitstellung von konkreten Unterstützungsleistungen auch dazu beitragen, einer möglichen sozialen Abhängigkeit der Beratungsnehmer:innen von ihren Berater:innen vorzubeugen. Netzwerkarbeit ist vor diesem Hintergrund ein bedeutendes Qualitätsmerkmal von Ausstiegsberatung.

Es drängt sich die Frage auf: Wo findet all das statt? Ausstiegsberatung wird wesentlich als aufsuchende Arbeit beschrieben. Die Beratenden treffen also die Beratungsnehmer:innen an ihrem oder in der Nähe ihres Wohn- oder Aufenthaltsortes. Das ermöglicht die Realisierung von alltagsnaher Sozialer Arbeit. Beobachtungen der Interaktion von Klient:innen mit Dritten oder ihr Bewegen im Alltag geben weitere Hinweise und Anlässe zu Reflexion und Bearbeitung von Haltungen und Handlungsrepertoires oder Konflikt- und Problemlösungsstrategien. Daneben bieten einige Ausstiegsangebote ausdrücklich die Möglichkeit einer auch anonym in Anspruch zu nehmenden Online-Beratung an (Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands 2023; Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport – Verfassungsschutz 2023).

Die vorangegangenen Ausführungen machen deutlich, dass Ausstiegsarbeit eine herausfordernde und anspruchsvolle Tätigkeit ist, die hohe Anforderungen an die Kompetenzen, das Methodenrepertoire und die Reflexivität der Ausstiegsberater:innen stellt. Insofern wundert es nicht, dass Ausstiegsarbeit für gewöhnlich nicht im „Nebenamt“ von Fachkräften oder von ehrenamtlich Tätigen umgesetzt wird. Ausstiegsberatung ist ein vollwertiges und eigenständiges Berufsfeld. Sie wird in der Regel von professionell Helfenden umgesetzt, die an entsprechend spezialisierte institutionelle Angebote angebunden sind. Diese Rahmung scheint sich fast schon zwangsläufig aus den skizzierten Aufgabenstellungen zu ergeben.

Lassen sich Ausstiege verifizieren oder falsifizieren?

In Bezug auf konkrete Handlungen ist die Frage einfach zu beantworten: Ja, und zwar durch den erkennbaren sozialen Bruch mit rechtsextremen Umfeldern, durch das Ausbleiben mindestens einschlägiger Straftaten und – sofern dafür eigene oder Mittel eines Aussteigerprogramms zur Verfügung stehen – durch das Ändern des äußeren Erscheinungsbilds, sprich: das Ablegen szenischer Kleidung und die Entfernung oder Überdeckung zumindest von szenerelevanten Tätowierungen.

Schwieriger ist die Frage in Bezug auf das Ablegen rechtsextremer Haltungen zu beantworten. Eine Methode zur Feststellung von Einstellungsänderungen besteht darin, die Beratungsnehmer:innen turnusmäßig Fragebögen nach dem Vorbild der sogenannten Autoritarismus- beziehungsweise Mitte-Studien (Decker et al. 2022; Zick et al. 2023) oder aus dem Sammelband „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2012) ausfüllen zu lassen. Trotz des Risikos, dass die Beratungsnehmer:innen lediglich sozial erwünscht antworten, bieten diese doch Möglichkeiten, mit den Klient:innen ins Gespräch und darüber in die Reflexion und Dekonstruktion rechtsextremer Haltungen zu kommen. Über die Zeit lassen sich mithilfe solcher Fragebögen recht differenziert Haltungen und Haltungsveränderungen dokumentieren und nachvollziehen.

Darüber hinaus können Falldokumentationen, sofern vorhanden, zur Beurteilung des Fortschritts von Abwendungsprozessen zurate gezogen werden. In diesen könnte abgelesen werden, in welchen Dimensionen und mit welcher Intensität sich rechtsextreme Haltungen zu Beginn einer Beratungsaufnahme abgebildet und welche Entwicklung diese im Laufe der Ausstiegsberatung genommen haben. Die persönlichen Eindrücke der Ausstiegsberater:innen sind für eine Beurteilung von Entwicklungen über einen langen Zeitraum ebenfalls von Bedeutung. Die unmittelbare Begegnung mit den Klient:innen über den gesamten Beratungszeitraum hinweg schafft weitere Wahrnehmungsgelegenheiten und -ebenen, die helfen, das Bild ihrer Veränderungsprozesse schärfer zu zeichnen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Ausstiegsarbeit personelle Kontinuität aufseiten der Ausstiegsberater:innen erfordert. Ein:e Berater:in, die in einen laufenden Beratungsprozess einsteigt, wird es schwerer haben, eine Entwicklung einzuschätzen, deren Anfang bis vor ihre Einbeziehung zurückreicht.

Und schließlich sind (teaminterne) anonymisierte Fallkonferenzen oder Fallsupervisionen hilfreich bei der Beurteilung eines Entwicklungsprozesses. Der kollegiale „Blick von außen“ kann helfen, Perspektiven zu wechseln, neue Anhaltspunkte zu entwickeln, Haltungsentwicklungen zu hinterfragen oder zu bewerten oder gar bislang nicht bemerkte Indizien für Haltungsänderungen – in die eine wie die andere Richtung – aufzudecken.

Dazu kann abgeglichen werden, ob die hinwendungsrelevanten Motivlagen erfolgreich bearbeitet wurden, ob es also beispielsweise gelungen ist, außerszenische Gelegenheiten zu erschließen, Selbstwirksamkeit zu erfahren, Selbstwert zu generieren, Anerkennung, Sinnstiftung und Zugehörigkeit zu erfahren oder Orientierung zu erhalten. Auch die Feststellung, ob es den Beratungsnehmer:innen gelungen ist, sich zum Beispiel alternative und sozialverträgliche Konflikt- und Problemlösungsrepertoires anzueignen, kann zur Bewertung von Abwendungsprozessen und -begleitungen herangezogen werden. Dies ist wichtig, um einer erneuten Hinwendung zu rechtsextremen Kontexten und gegebenenfalls auch zu anderen devianten oder delinquenten Umfeldern vorzubeugen.

Fazit

Ausstiegsarbeit stellt sich als Beratungstätigkeit dar, die sich im Laufe der Zeit aus der Praxis heraus entwickelt hat. Sie hat davon profitiert, dass sich Angehörige vieler verschiedener Professionen auf ihre Klientel und die Aufgabenstellungen, die diese in den Beratungsprozess eingebracht hat, eingelassen haben und ihre berufsbiografischen Hintergründe in die Entwicklung und Adaption eines umfassenden Methodenrepertoires haben einfließen lassen. Mit der Ausstiegsberatung hat sich seit Anfang 2000 ein neues und eigenständiges Arbeitsfeld entwickelt und etabliert.

Mit den Erfahrungen von mehr als zwei Jahrzehnten praktischer Ausstiegsberatung im Hintergrund erscheint es nicht mehr notwendig, dass sich Ausstiegsberater:innen allein auf die in ihrer Berufsbiografie angelegten Erfahrungen verlassen müssen oder sich das für ihre tägliche Arbeit notwendige Instrumentarium nach der Methode „Trial and Error“ aneignen oder von der Existenz erfahrener Kolleg:innen abhängig sind. Es gibt zwischenzeitlich erste Ansätze, die Erfahrungen und das Methodenrepertoire der Ausstiegsberatung systematisch zu erfassen und in Ausbildungen zu überführen (Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ o. J.; Niedersächsisches Justizministerium 2020, 2023a). Die Vielfältigkeit, die Herausforderungen und die Anspruchsfülle des Arbeitsfeldes rechtfertigen die Entwicklung spezifischer Ausbildungen allemal. Es wird spannend sein zu beobachten, ob diese Ausbildungen den Weg an die Hochschulen finden werden.

Weitere Inhalte

Dr. Stefan Tepper ist im Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen u. a. zuständig für die Beratung von Akteur:innen der Ausstiegsarbeit, Behörden und Institutionen. Er arbeitet seit mehr als 20 Jahren zu Ausstiegsprozessen aus rechtsextremen Kontexten und hat zur Entwicklung von Ausstiegsmotiven geforscht.