In den folgenden Ausführungen stehen die Anbieter:innen von zivilgesellschaftlicher und behördlicher
Am Anfang stand … rechtsextreme Gewalt!
Die Geschichte der Ausstiegsprogramme ist eng mit der überbordenden rechtsextremen Gewalt der neunziger Jahre und der Jahrtausendwende verknüpft. Ausstiegsprogramme für Rechtsextreme wurden damals als eine Möglichkeit erkannt, der rechtsextremen Szene Personen zu entziehen, sie eventuell in Teilen zu verunsichern und so zu schwächen. Daneben eröffneten Ausstiegsprogramme die Möglichkeit der gezielten und spezialisierten Unterstützung für Menschen, die rechtsextreme Kontexte verlassen wollten – ausgerichtet an ihren spezifischen Bedarfen.
Das erste in Deutschland tätige Ausstiegsprogramm im Phänomenbereich Rechtsextremismus war ein zivilgesellschaftliches: EXIT-Deutschland (im Folgenden kurz: EXIT). EXIT ging 2000 an den Start. Die Organisation betreute und betreut bis heute Aussteiger:innen aus dem ganzen Bundesgebiet. Es ist dem Ausstiegsprogramm auch unter Nutzung kontinuierlicher und kreativer Öffentlichkeitsarbeit gelungen, sein Unterstützungsangebot innerhalb wie außerhalb rechtsextremer Kontexte bekannt zu machen. Es dürfte das bekannteste Ausstiegsangebot hierzulande sein.
Für viele Jahre blieb EXIT das einzige zivilgesellschaftliche Ausstiegsprogramm in Deutschland. Erst das zwischen 2009 und 2013 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) aufgelegte XENOS-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“ hat den Anschub gegeben für die, wenn auch nicht flächendeckende, so doch recht breit gestreute, zivilgesellschaftlich aufgestellte Ausstiegsberatung im Phänomenbereich Rechtsextremismus (Eichhorn/Goldkamp et al. 2012; BMAS o. J.). Dieses XENOS-Sonderprogramm eröffnete neben dem zwischenzeitlich etablierten EXIT elf weiteren Trägern die Möglichkeit, in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Hessen, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Niedersachsen Ausstiegsberatung anzubieten (Melzer 2012). Aktuell wird die zivilgesellschaftlich organisierte Ausstiegsarbeit in Deutschland maßgeblich über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert.
Die ersten Spuren der behördlichen Beschäftigung mit der Idee der Einrichtung von Ausstiegsprogrammen im Phänomenbereich Rechtsextremismus lassen sich in den Jahren 2000 und 2001 finden: Als Gründungsdokument behördlicher Ausstiegsarbeit in Deutschland kann das Protokoll der 165. „Ständige[n] Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder“ (IMK) gesehen werden. Darin erklären die Innenminister:innen und Senator:innen der Länder, sie erkennen in „Maßnahmen zur […] Ansprache von Gefährdern und zu Hilfen für Ausstiegsangebote eine geeignete Grundlage für die konsequente Bekämpfung rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Kriminalität“ (IMK 2000, S. 2). Im Nachgang wurde die Einrichtung von Ausstiegsprogrammen Gegenstand parlamentarischer Befassung in Bund und Ländern.
Aktuell sind in Deutschland je ein zivilgesellschaftliches und ein behördliches Programm mit bundesweiter Zuständigkeit aktiv. Darüber hinaus werden nahezu flächendeckend Ausstiegsangebote auf Länderebene vorgehalten. Im Gros der Länder existieren gar zivilgesellschaftliche und behördliche Ausstiegsangebote nebeneinander.
Wer setzt Ausstiegsarbeit in der Praxis um?
Nachfolgend sind die Ausstiegsprogramme in zivilgesellschaftlicher und behördlicher Trägerschaft aufgelistet, die sich recherchieren ließen.
Es wurde sich darauf beschränkt, bei den Kontaktdaten die URL aufzuführen. In Teilen gibt es noch weitere Kontaktangebote beispielweise über Hotlines, Messenger oder Online-Beratungsberatungstools. Diese sind im Bedarfsfall leicht über die angegebenen URLs selbst zu recherchieren.
Aus Gründen der Transparenz sind der jeweilige Träger der Ausstiegsangebote, die Adressat:innen und – sofern angegeben – die Qualifikationen der Ausstiegsberater:innen aufgeführt.
Die Tabellen offenbaren, dass nicht alle Programme einen Einblick in ihre Beschäftigtenstruktur geben. Wo diese einsehbar ist, können Beratungsnehmer:innen erste Einschätzungen vornehmen, ob die auf den Webauftritten regelmäßig skizzierten Hilfen auch vor entsprechendem fachlichem Hintergrund umgesetzt werden. Denn klar ist: In den Ausbildungen beispielsweise sozialwissenschaftlicher und nahestehender Professionen werden Inhalte zur Klient:innensicherheit beziehungsweise zur Vorbeugung und Abwehr von Gefahrenlagen nicht gelehrt. Und umgekehrt gilt: Polizeiliche, kriminologische oder verfassungsschutzliche Ausbildungen haben keine (sozial-)pädagogischen, wissenschaftlichen oder therapeutischen Beratungs-, Methoden- und Handlungsrepertoires zum Lehrinhalt.
Wenn jedoch Angaben zu den Professionen der Ausstiegsberater:innen gemacht werden, sind häufig Verweise auf verschiedene sozialwissenschaftliche Qualifikationen vorzufinden, vereinzelt auch auf polizeiliche. Das wird der Komplexität, Aufgabenstellung und -vielfalt des Arbeitsfeldes im Gros gerecht. Es ist erfreulicherweise festzustellen, dass sich augenscheinlich vereinzelt behördliche Ausstiegsangebote gemäß dem Anforderungsprofil der Praxis entsprechend breiter aufstellen und ihre Teams multiprofessionell gestalten (vgl. beispielhaft Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen 2024).
Die Tabelle legt auch offen, dass ehemals Rechtsextreme selten in diesem Arbeitsfeld anzutreffen sind. Zumindest in Bezug auf behördliche Ausstiegsprogramme ließe sich das noch damit erklären, dass eine Einstellungsvoraussetzung das Vorlegen eines einwandfreien Führungszeugnisses ist. Warum sich dies aber selbst bei zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangeboten nicht gänzlich anders darstellt, wird nicht klar. Ehemalige Angehörige rechtsextremer Kontexte sind grundsätzlich auskunftsfähig zu den Ausprägungen des Rechtsextremismus in den Szenestrukturen und Regionen, wo sie aktiv und vernetzt waren, bezogen auf die Zeit, in der sie sich engagierten. Eine Qualifikation zur praktischen Ausstiegsberatung ist dies noch nicht. Expert:innen weisen auf die Risiken hin, dass ehemalige Szeneangehörige eine Identität als „Berufsaussteiger:in“ entwickeln (RAN C&N/RAN Exit 2017, S. 6) oder dass diese ihre eigenen Biografien und Erfahrungen auf Klient:innen übertagen bzw. zu wenig Distanz zu Beratungsnehmer:innen einnehmen (RAN Exit 2017, S. 2). Der ergänzende Einsatz von ehemaligen Klient:innen in der Ausstiegsarbeit wird jedoch als möglich angesehen, wenn deren Ausstiegsberatung bereits länger zurückliegt und diese zudem eine umfangreiche Ausbildung absolviert haben (RAN C&N/RAN Exit 2017, S. 6; RAN Exit 2017, S. 4).
Es ist jedoch zu bedenken, dass die zitierten RAN-Papiere Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit phänomenübergreifend behandeln. Für den Phänomenbereich Islamismus mag der Einsatz von ehemaligen Szeneangehörigen in der Beratungsarbeit gut begründbar sein, denn dort geht es in der Ausstiegsberatung unter anderem auch darum, die Menschen in ihrem Glauben zu belassen. Das ist aber nicht der Fall bei der Abwendung von rechtsextremen Kontexten (Tepper 2020a, S. 113). Überspitzt ausgedrückt: Klient:innen der Ausstiegsarbeit muss kein lebendiges Beispiel vor Augen geführt werden, wie Nationalsozialismus oder Rechtsextremismus sozialverträglich zu interpretieren und auszuleben ist.
Rahmenbedingungen der Ausstiegsarbeit
Unabhängig davon, ob es sich um behördliche oder zivilgesellschaftliche Angebote der Ausstiegsarbeit handelt, sind für ihre Praxis typisch:
die grundsätzliche Interpretation des Unterstützungsangebots als aufsuchende Arbeit, das heißt als Beratung und Begleitung am Wohnort der Beratungsnehmer:innen oder in unmittelbarer Nähe zu diesem,
die Prävention oder Bearbeitung von Gefährdungslagen,
die Reflexion der Biografien der Beratungsnehmer:innen,
die Identifikation von individuellen mittel- oder unmittelbaren biografischen Verknüpfungen mit rechtsextremen Weltbildern,
das Hinterfragen von Identitätsentwürfen und deren Redefinition,
das Herausarbeiten von individuellen Ressourcen und Zukunftsperspektiven, ohne dabei eigene Vorstellungen auf das Gegenüber zu projizieren oder ihm diese aufzudrängen,
sowie die Unterstützung zum Entwickeln und Erfahren von Selbstwirksamkeit und vieles mehr.
Die Praxis offenbarte recht zeitnah zur Gründung von Ausstiegsangeboten, dass die (sicherheits-)behördlichen Programme ihr Unterstützungsangebot zu erweitern hatten (Deutscher Bundestag 2002, S. 3). Im Ergebnis zeigt die behördliche Ausstiegsarbeit heute eindeutig eine grundsätzlich sozialpädagogische Akzentuierung (Buchheit 2014b). Gleichzeitig sahen und sehen sich Ausstiegsberater:innen, die keine sicherheitsbehördliche Ausbildung genossen haben, vor die Herausforderung gestellt, sich Fach- und Methodenwissen zu betreffenden Aspekten von Ausstiegsarbeit anzueignen und dieses umzusetzen. Das führt im Resultat dazu, dass sich Ausstiegsarbeit in zivilgesellschaftlicher und behördlicher Trägerschaft auf der Arbeitsebene über die Zeit vorwiegend angeglichen hat (Buchheit 2014b; Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ 2014; Sander et al. 2019; Anarchistisches Radio Berlin 2022). Prinzipiell werden auch weitgehend identische Kriterien genannt, die es zur erfüllen gilt, um einen Ausstiegsberatungsprozess als erfolgreich werten zu können – oder eben nicht.
Und doch gibt es gravierende Unterschiede. Diese sind hauptsächlich struktureller Natur, das heißt, sie sind eher in der Trägerschaft der Ausstiegsangebote begründet als in der Anlage, Ausgestaltung und Interpretation von Ausstiegsberatung:
Behördliche Ausstiegsangebote sind auf Dauer gestellt und ausfinanziert (Hohnstein/Greuel 2015, S. 26). Das eröffnet Möglichkeiten, Personal langfristig zu binden, und bietet nicht zuletzt auch für die Beratungsarbeit Planungssicherheit. Das sind zwei wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung von Ausstiegsberatung. Zivilgesellschaftliche Ausstiegsangebote sind in hohem Maße von Fördermittelgeber:innen abhängig. Der größte und bedeutendste unter ihnen ist das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Dieses legt das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ auf. Die aktuelle Förderperiode läuft von 2020 bis 2024 (BMFSFJ 2019). Die Mittel werden in der Regel jährlich durch zivilgesellschaftliche Ausstiegsangebote beantragt und auf Länderebene durch Landes-Demokratiezentren beziehungsweise Landeskoordinierungsstellen ausgegeben. Dadurch sind die Ausstiegsberater:innen der zivilgesellschaftlichen Angebote in der Regel fortlaufend befristet beschäftigt. Eine solche jährliche Finanzierung birgt für die Ausstiegsangebote immer das Risiko, dass sich ihre Mitarbeiter:innen perspektivisch nach einer anderen langfristigen Arbeitsstelle umsehen. Damit verbunden ist die Gefahr, dass den Ausstiegsangeboten wichtiges Erfahrungswissen, das über viele Jahre aufgebaut werden muss(te), verloren geht. Zudem bestehen Beziehungen in der Ausstiegsarbeit zwischen Beratungsnehmer:innen und den sie beratenden Personen, nicht zwischen Beratungsnehmer:innen und beratender Institution. Und in diesem Zusammenhang: Ausstiegsberatungen sind langfristig, das heißt in der überwiegenden Zahl überjährig angelegt. Streng genommen können zivilgesellschaftliche Ausstiegsangebote ihren Beratungsnehmer:innen nicht zusichern, sie über das Ende eines Kalenderjahres hinaus zu begleiten, weil sie nicht wissen, ob ihre Arbeit über das jeweilige Jahr hinaus gefördert wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben zivilgesellschaftliche Ausstiegsprogramme ein vitales Interesse an der Verabschiedung rechtlicher Normen, die längerfristige und verlässliche Planungen und Beschäftigungsverhältnisse zulassen (Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ 2023b).
Zivilgesellschaftliche Ausstiegsangebote verfügen nicht über finanzielle Ressourcen, wichtige Veränderungen des äußeren Erscheinungsbilds ihrer Beratungsnehmer:innen zu bezuschussen oder übernehmen zu können. Tätowierungen zu entfernen oder zu überdecken, ist jedoch ein elementarer Bestandteil der Ausstiegsarbeit. Hierdurch wird nicht nur Stigmatisierungspotenzial reduziert, das eine gesellschaftliche Reintegration deutlich zu erschweren vermag. Es wird auch, sobald es sich um strafrechtlich relevante Tätowierungen handelt, einer erneuten Straffälligkeit vorgebeugt. Denn jedes (auch politisch nicht motivierte) Zeigen einer strafrechtlich relevanten Tätowierung ist als neue Straftat zu behandeln und zu ahnden. Daraus folgt: Werden strafrechtlich relevante Tätowierungen nicht entfernt, führt dies dazu, dass Beratungsnehmer:innen fortwährend straffällig werden – mit den bekannten Folgen. Und schließlich sind Tätowierungen geeignet, ehemalige Szeneangehörige zu beschreiben und zu identifizieren, was für diese auch Gefahren bergen kann. Dergleichen gilt für die rechtsextreme Garderobe: Auch sie ist geeignet, die gesellschaftliche Reintegration von Beratungsnehmer:innen zu unterlaufen und sie für Szenekontexte identifizierbar sein zu lassen. Rechtsextreme Kleidung sollte im Verlauf der Ausstiegsberatung abgelegt und im besten Fall ausgetauscht werden. Viele behördliche Ausstiegsangebote verfügen über ein entsprechendes Budget zur Finanzierung derartiger Maßnahmen (Möller/Wesche 2014, S. 36; Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus 2023; Ambulanter Justizsozialdienst Niedersachsen o. J.; Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt 2023). Von zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangeboten ist nicht bekannt, dass sie über die Eigenmittel verfügen, um entsprechende Maßnahmen umsetzen zu können. Und von deren Fördermittelgeber:innen sind derartige Budgets bislang nicht vorgesehen. Wenn es Ausstiegsangeboten ohne entsprechendes Budget nicht gelingt, die benötigten Mittel auf anderem Wege einzuwerben (ZDK 2023), sind sie nicht in der Lage, elementare Aspekte der Ausstiegsarbeit abzudecken – mit entsprechenden drohenden negativen Konsequenzen für ihre Beratungsnehmer:innen.
Behördliche und zivilgesellschaftliche Ausstiegsangebote verfügen über trägerspezifisch unterschiedliche Feldzugänge. Selbstverständlich können beide mögliche Beratungsnehmer:innen über Social Media, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit oder Ähnliches in gleicher Weise generalisiert adressieren (Tepper 2020b). Ihr Zugriff auf Multiplikator:innen-Netzwerke ist aber aufgrund ihrer organisatorischen Zugehörigkeit und Anbindung unterschiedlich. Multiplikator:innen werden für die Anbahnung von Ausstiegsberatungen als enorm wichtig angesehen (Koch/Saß 2015, S. 215). Grundsätzlich können behördliche Ausstiegsangebote zur Adressierung von Beratungsnehmer:innen auf ein breit aufgestelltes Netzwerk innerhalb behördlicher Zusammenhänge zurückgreifen und gezielt beispielsweise über Polizeidienststellen, Justizvollzugsanstalten und Bewährungshilfen für ihre Angebote werben (lassen). Diese Möglichkeiten stehen zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangeboten nur unter Umständen offen. Sie sind dafür in der Regel besser als behördliche in zivilgesellschaftlichen Strukturen vernetzt. So verfügen sie über Zugänge von relativer Exklusivität wie beispielsweise zu Angeboten der Mobilen Beratung, der Betroffenenberatung oder zu Bündnissen gegen Rechts.
Ausstiegsangebote in öffentlicher Trägerschaft verfügen über einen Zugriff auf behördliche Datenbanken. Durch dieses Alleinstellungsmerkmal haben sie potenziell Kenntnis davon, wer wann und wie (behördlich registriert) rechtsextrem in Erscheinung getreten ist. Dieses Wissen kann genutzt werden, um (vermeintliche) Rechtsextreme gezielt anzusprechen (Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport 2010; Landtag von Sachsen-Anhalt 2013; Deutsche Presse-Agentur 2020). Die Variante der personalisierten Adressierung, also die unmittelbare Ansprache von rechtsextremen Szeneangehörigen zur Bewerbung von Ausstiegsangeboten, wird von (sicherheits-)behördlichen Ausstiegsangeboten seit Jahren häufig angewendet. In zivilgesellschaftlichen Kontexten wird sie aktuell in einem Modellprojekt in Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden unter dem Stichwort „aufsuchende Deradikalisierungsarbeit“ erprobt (Violence Prevention Network 2023).
Der Umgang mit nicht geahndeten Straftaten unterscheidet sich in Abhängigkeit von der Trägerschaft eines Ausstiegsangebots. Straftaten, auch solche, die bis dato nicht geahndet wurden, sind für Ausstiegsberatungen von Bedeutung: um zum Beispiel Hin- und Abwendungsprozesse nachvollziehen zu können, um Handlungsmuster erkennen und bearbeiten zu können; um Eskalationsabläufe und -automatismen, insbesondere aber eigene Anteile daran herausausarbeiten und diesen entgegenwirken zu können. Polizist:innen, die in Ausstiegsprogrammen arbeiten, unterliegen ebenso wie ihre ermittelnden Kolleg:innen dem sogenannten Legalitätsprinzip, das heißt, sie haben bei Kenntniserlangung nicht geahndete Straftaten zur Anzeige zu bringen und zu verfolgen (§ 163 StPO). Das Legalitätsprinzip steht an dieser Stelle dem Arbeitsauftrag der Ausstiegsberatung entgegen und führt zu Schwierigkeiten und Interessenkonflikten (Landtag von Baden-Württemberg 2017). Mitarbeiter:innen des Verfassungsschutzes hingegen unterliegen dem Opportunitätsprinzip, das heißt, der Verfassungsschutz kann „wegen einer zu erwartenden relevanten Erkenntnissteigerung auf ein unmittelbares Einschreiten verzichten“ (Bundesamt für Verfassungsschutz o. J.). Der Einsatz von Klient:innen der Ausstiegsarbeit als sogenannte V-Leute ist übrigens nur im Ausnahmefall rechtlich zulässig (HmbVerfSchG). Mitarbeiter:innen von zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangeboten unterliegen weder dem Legalitäts- noch dem Opportunitätsprinzip. Sie müssen keine:n Beratungsnehmer:in anzeigen, wenn sie von nicht geahndeten Straftaten erfahren. Unabhängig davon gilt aber für jede Person, unbeachtet der behördlichen oder zivilgesellschaftlichen Anbindung, dass bestimmte geplante Straftaten bei Kenntniserlangung unmittelbar zur Anzeige gebracht werden müssen (§ 138 StGB).
Der Schutz von Mitarbeiter:innen ist ein ebenso bedeutendes Thema der Ausstiegsarbeit wie der Schutz der Beratungsnehmer:innen. Es wird verschiedentlich betont, dass Mitarbeiter:innen von Ausstiegsangeboten sowohl zum Schutz der Klient:innen als auch ihrer selbst nicht mit Gesicht und Namen in der Öffentlichkeit bekannt sein sollten (Uden 2023, S. 178f.). Grundsätzlich ist es möglich, beides vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Das erlaubt es den Ausstiegsberater:innen, ihre Beratungsnehmer:innen unerkannt im öffentlichen Raum (zum Beispiel bei Ämtergängen) zu begleiten. Eine weitergehende, zusätzliche Maßnahme zum Schutz der Mitarbeiter:innen ist die Verwendung von Tarnnamen. Behördliche Ausstiegsprogramme können ihre Mitarbeiter:innen mit Arbeitsidentitäten ausstatten (Möller et al. 2015, S. 77; Tepper 2020a, S. 154). Zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangeboten steht ein solch weitreichendes Instrumentarium zum Schutz ihrer Mitarbeiter:innen bislang nicht zur Verfügung.
Behördliche Mitarbeiter:innen von Ausstiegsprogrammen müssen nicht zwingend vor Gericht zu Gegenstand und Inhalten einer Ausstiegsberatung aussagen (Uden 2023). Diese Möglichkeit der Wahrung der Vertraulichkeit wird von behördlicher Seite als ein großer Vorteil gegenüber zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangeboten gewertet. Vergleichbare Instrumente zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zu ihren Beratungsnehmer:innen stehen Ausstiegsprogrammen in freier Trägerschaft nämlich nicht zur Verfügung. Diese setzen sich aber zum Teil bereits seit Jahren dafür ein, dass entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden (Meilicke/Weilnböck 2018; Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ 2022).
Netzwerke der Ausstiegsarbeit
In der bundesdeutschen Landschaft der Ausstiegsprogramme im Phänomenbereich Rechtsextremismus gibt es verschiedene Netzwerke: solche von zivilgesellschaftlichen Ausstiegsberatungen, Netzwerke der behördlichen Ausstiegsangebote wie auch solche zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen der Ausstiegsarbeit.
Netzwerke der zivilgesellschaftlichen Ausstiegsarbeit
Auf zivilgesellschaftlicher Ebene werden zwei maßgebliche Netzwerke gepflegt, die unterschiedliche Ausstiegsangebote zusammenbringen: die Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ e. V. und der Nordverbund Ausstieg Rechts.
Im Nordverbund Ausstieg Rechts sind die zivilgesellschaftlichen Ausstiegsangebote der Länder Bremen, Niedersachsen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zusammengeschlossen. Ein leitender Gedanke bei der Gründung des Nordverbunds war ein praktischer: der Wunsch, sich gegenseitig in der Arbeit zu unterstützen und voneinander lernen zu wollen. Daneben stand die Erkenntnis Pate, dass sich Rechtsextremismus und Rechtsextreme nicht an Länder- und Zuständigkeitsgrenzen halten. Die Konsequenz daraus ist, Ausstiegsberatung so aufzustellen, dass auch sie über Ländergrenzen hinweg wirken kann und in der Lage ist, sich schnell an veränderte Rahmenbedingungen wie etwa Erscheinungsformen des Rechtsextremismus anzupassen. Das bildet sich nicht zuletzt in der AG Kaderausstieg des Nordverbunds ab. Dieses bundesweit einmalige Konstrukt wurde ins Leben gerufen, um kooperativ Führungspersonen rechtsextremer Kontexte länderübergreifend im Ausstiegsprozess begleiten zu können und sich wechselseitig fachlich zu unterstützen (Gary 2020). Daneben verschriftlicht und veröffentlicht der Nordverbund regelmäßig eigene Erfahrungen und Erkenntnisse, betreibt Öffentlichkeitsarbeit und engagiert sich für die Qualitätsentwicklung in der Ausstiegsarbeit. Zudem unterhält der Nordverbund für seine Mitglieder eine Plattform, auf der Klient:innen der Ausstiegsarbeit anonym beraten werden können (Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands 2023).
Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ e. V. (im Folgenden kurz: BAG) versteht sich als Interessenvertretung der zivilgesellschaftlichen Ausstiegsarbeit im Bundesgebiet. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zum (namensgebenden) XENOS-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“.
Netzwerke der behördlichen Ausstiegsarbeit
Bereits seit 2003 kommen die Ausstiegsangebote des Bundes und der Länder regelmäßig zu einer „Bund-Länder-Arbeitstagung der staatlichen Ausstiegsprogramme im Phänomenbereich Rechtsextremismus“ zusammen (Buchheit 2014a, S. 227). In diesem Format werden beispielsweise aktuelle Entwicklungen des Rechtsextremismus reflektiert und diskutiert, es wird sich über grundsätzliche und spezifische Problemstellungen der Ausstiegsarbeit sowie Methoden der Ausstiegspraxis ausgetauscht und Möglichkeiten der Erschließung neuer Zugänge zu potenziellen Adressat:innen werden erörtert (Niedersächsisches Justizministerium 2023). Aus dem Kreis der behördlichen Ausstiegsangebote werden aber auch Fortbildungen angeregt und organisiert, um eine qualitative Weiterentwicklung der Ausstiegsberatung zu gewährleisten (Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz o. J.). Daneben bilden die in diesem Kontext gestifteten Beziehungen zwischen den Ausstiegsangeboten immer wieder eine Grundlage für länderübergreifende Kooperationen (Buchheit 2014a, S. 227).
Netzwerke zwischen Staat und Zivilgesellschaft
In Niedersachsen wird seit 2015 eine Tagung ausgerichtet, auf der Ausstiegsangebote in behördlicher und zivilgesellschaftlicher Trägerschaft zu einem Fachaustausch zusammenkommen. Regelmäßig beteiligen sich daran Ausstiegsprogramme aus Bund und bis zu 13 Bundesländern. Über dieses Format wird kontinuierlich der fachliche Diskurs zwischen behördlichen und zivilgesellschaftlichen Ausstiegsprogrammen gepflegt.
Entwicklungspotenziale
Das Feld der Ausstiegsarbeit im Phänomenbereich Rechtextremismus hat sich seit Beginn der 2000er-Jahre etabliert. Sie wird in Deutschland nahezu flächendeckend auf Landesebene angeboten. Zudem sind je ein zivilgesellschaftliches und ein behördliches Beratungsangebot mit bundesweitem Einzugsgebiet aktiv. Die Organisation auf Landesebene zeigt nicht nur, dass das Arbeitsfeld von Zivilgesellschaft und Staat gleichermaßen als relevant erachtet wird. Mit dem Unterhalt von Ausstiegsangeboten in den Ländern wird vielmehr auch eine Voraussetzung geschaffen, dem stark ausgeprägten aufsuchenden Charakter von Ausstiegsarbeit gerecht werden zu können.
Das sind positive Entwicklungen, keine Frage. Trotzdem lassen sich noch Potenziale erkennen, Ausstiegsarbeit voranzubringen. Das parallele Angebot von behördlichen und zivilgesellschaftlichen Ausstiegsprogrammen, wie es in einigen Bundesländern existiert, hat sich als vorteilhaft erwiesen und sollte auf alle Bundesländer ausgeweitet werden. Denn mit einer solchen Träger- und Angebotsdiversität haben Beratungsnehmer:innen die Möglichkeit, eine für sie passende Auswahl zu treffen. Zudem lassen sich die unterschiedlichen Adressat:innenzugänge von zivilgesellschaftlichen und behördlichen Beratungsangeboten als einander ergänzend verstehen. So können diese zusammengenommen mehr Menschen erreichen als jeweils einzeln für sich.
Es wäre weiter zu prüfen, ob die vorgehaltenen Ausstiegsangebote der Diversität rechtsextremer Umfelder und Strukturen in ihrer Ausrichtung gerecht werden. Es scheint nicht ausreichend, allein grundsätzlich für alle Menschen aus rechtsextremen Kontexten „da sein“ zu wollen. Es ist vielmehr zu hinterfragen, ob die Beratungsangebote, das Unterstützungsportfolio, die Außendarstellung oder die Adressierungsverfahren – um nur einige Punkte zu nennen – geeignet sind, alle potenziellen Adressat:innen anzusprechen und abzuholen. Oder ob es am Ende notwendig erscheint, das Beratungsportfolio entweder durch zusätzliche Inhalte oder durch weitere spezialisierte(re) Beratungsangebote zu ergänzen (Tepper 2024).
Auch wäre es wünschenswert, wenn die Rahmenbedingungen zivilgesellschaftlicher Ausstiegsarbeit an die von behördlicher Seite angeglichen würden:
Es braucht die langfristige, mindestens mehrjährige Förderung zivilgesellschaftlicher Ausstiegsarbeit.
Ausstiegsberatung muss als geschützter Raum betrachtet werden, in dem auch strafrechtlich relevante Sachverhalte thematisiert werden können, ohne diese der Strafverfolgung zuzuführen (selbstverständlich mit Ausnahme der im oben zitierten § 138 StGB angeführten Tatbestände). Deshalb braucht es Wege, behördliche Ausstiegsberater:innen vom Strafverfolgungszwang auszunehmen. Auch eine gesetzliche Grundlage für ein Zeugnisverweigerungsrecht für Ausstiegsberater:innen wäre zu diskutieren.
Zivilgesellschaftliche Ausstiegsangebote brauchen Etats zur Beseitigung von rechtsextremen Tätowierungen und zum Austausch rechtsextremer Bekleidung.
Auch zivilgesellschaftliche Ausstiegsberater:innen würden von der Ausstattung mit Arbeitsidentitäten und entsprechenden Legitimationspapieren profitieren. Hier ist zu prüfen, wie entsprechende Regelungen gestaltet sein müssen und getroffen werden können, damit auch Mitarbeiter:innen zivilgesellschaftlicher Ausstiegsangebote besser geschützt werden.