Hintergrund
Veranstaltungen mit ehemaligen Rechtsextremen finden an Schulen in Deutschland seit den frühen 2000er-Jahren statt. In der (Fach-)Öffentlichkeit werden diese Schulmaßnahmen mehrheitlich positiv besprochen (ausführlich siehe Gansewig/Walsh 2020; Gansewig 2023). Kritische Stimmen aus Praxis und Wissenschaft sind nur selten öffentlich zu hören (z. B. Milke 2016; Koehler 2020). Den normativen Positivzuschreibungen liegen hauptsächlich die Annahmen zugrunde, Aussteiger:innen seien aufgrund ihrer „authentischen Erzählungen aus erster Hand“ besonders „glaubwürdig und wirksam“. Einige führen gar an, „dass beim Thema Radikalität und Extremismus Ausgestiegene in der Regel zu Jugendlichen einen besseren Zugang finden als Lehrkräfte oder Referenten der politischen Bildung“ (Krause et al. 2021, S. 15). Im Beitrag sind mit Aussteiger:innen all diejenigen Personen gemeint, die über sich selbst sagen, dass sie aus rechtsextremen Bezügen ausgestiegen wären bzw. sich von ihnen distanziert hätten.
Trotz der etablierten Anwendungspraxis fanden sich bis Mitte der 2010er-Jahre wissenschaftliche Beschäftigungen zum Einsatz von ehemaligen Rechtsextremen in Schulen nur randständig. Umfassende Befragungen der Schüler:innen und fundierte Untersuchungen zu den Wirkungen dieser Maßnahmen gab es nicht. Zusätzlich existiert eine besorgniserregende Kenntnislage aus der Sucht- und Gewaltprävention zu biografiebasierten Angeboten. So liefern zahlreiche Studien die belastbare empirische Befundlage, dass diese vermeintlichen Präventionsmaßnahmen entweder keine Effekte nach sich ziehen oder sogar das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich erreichen sollen (z. B. Petrosino et al. 2013; EUSPR 2019).
In Anbetracht dessen begannen die Autorinnen 2016 das Thema intensiv wissenschaftlich zu untersuchen. Hierbei lag das Hauptaugenmerk auf den Schüler:innen. Um einen gleichermaßen tiefen wie auch breiten Einblick in den Untersuchungsgegenstand zu erhalten und darauf aufbauend Praxisempfehlungen generieren zu können (z. B. Gansewig/Walsh 2019), erfolgte die Auseinandersetzung aus verschiedenen Blickwinkeln und multimethodisch. Gegenstand der empirischen Analysen waren bis dato:
eine Evaluationsstudie der Schulmaßnahme eines ehemaligen Rechtsextremen und kriminellen Rockers (Walsh/Gansewig 2019);
eine Analyse des YouTube-Kanals dieses Aussteigers, der laut Selbstbezeichnung als Online-Präventions-, Deradikalisierungs- und Antigewaltarbeit fungieren soll und von ihm während der Schulmaßnahmen beworben wird (Gansewig/Walsh 2021/22);
Interviews zum Beispiel mit Vertreter:innen von Ausstiegshilfen, die solche Maßnahmen anbieten (Gansewig/Walsh 2020);
eine schriftliche Befragung der Landespräventionsgremien, Landesdemokratiezentren und Bildungsressorts der Länder (Gansewig/Walsh 2020);
eine Medienanalyse basierend auf Zeitungsartikeln und anderweitigen Meldungen, die zwischen 2001 und 2019 zu entsprechenden Maßnahmen erschienen sind (Gansewig/Walsh 2020);
Sekundäranalysen auf Grundlage von wissenschaftlichen Studien zum Thema und Veröffentlichungen aus der Praxis (z. B. Gansewig/Walsh 2022).
Nachstehend werden wesentliche Forschungsergebnisse zusammenfassend dargestellt (ausführlich siehe Gansewig/Walsh 2020; Gansewig 2023).
Wer führt die Schulmaßnahmen wo, wie und für wen durch?
Die zumeist männlichen Aussteiger:innen aus rechtsextremen Bezügen sind im schulischen Setting bundesweit aktiv – mit den Schwerpunkten in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Zwischen Januar 2001 und April 2019 konnten im Rahmen der Medienanalyse 27 in Schulen tätige ehemalige Rechte und circa 424 Maßnahmen identifiziert werden.
Die Schulveranstaltungen werden zumeist als
Angebunden sind die Aussteiger:innen dabei häufig an
Welche Inhalte werden vermittelt und wie präsentiert?
Wie die Untersuchungsergebnisse zeigen, dominieren – trotz der Angebotsdiversität – individuelle biografische Erzählungen über das Leben in rechtsextremen Bezügen die Maßnahmen. Dabei überwiegt weitestgehend das monologische Sprechen den interaktiven Einbezug von Schüler:innen. Der Schwerpunkt der Narrationen liegt vorrangig auf Gewaltdarstellungen. Ergänzend sind die Schulveranstaltungen oftmals von Szenevokabular sowie zum Teil fragwürdigem und diskriminierungsunsensiblem Sprachgebrauch geprägt. Sie katapultieren die jungen Zuhörer:innen schonungslos in die Lebensrealität einer rechtsextremen Person. Der oder die Aussteiger:in gibt – teils unter Verwendung privaten Foto- oder Videomaterials – einen detaillierten Eindruck von seiner/ihrer damaligen Lebenswelt. Die Berichte stellen dabei partiell Reproduktionen dar und wirken aufgrund der Darstellungsweise „teils wie eine ‚Eventisierung‘ […] des Szenelebens“ (Walsh/Gansewig 2023, S. 61).
Die Narrationen der Aussteiger:innen sind außerdem vor dem Hintergrund ihrer Einseitigkeit bedenklich. So kann das Berichten über eine einzelne Biografie Stereotypisierung fördern. Die Schwerpunktsetzung auf Gewalt führt ebenfalls zu einer Komplexitätsreduktion. Dabei sind Rechtsextreme doch weitaus vielfältiger als gewaltausübende Personen. In der Konsequenz kann ein verkürztes Bild von Rechtsextremismus bei den Schüler:innen entstehen oder sich verfestigen. Gansewig (2023) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Nebelassoziation“ (S. 107). Es besteht zudem die Gefahr, dass Schüler:innen durch dieses Format kein umfassendes und klares Verständnis von Rechtsextremismus als gesamtgesellschaftliches und strukturelles Phänomen erlangen, sondern dieses als Problem von Einzelpersonen einordnen.
Ferner werden die Schulveranstaltungen oftmals als Werbefläche genutzt, um etwa die eigenen Autobiografien und/oder Social-Media-Präsenzen zu bewerben. Da in einer digitalisierten Gesellschaft die Grenzen zwischen Klassen- und Kinderzimmer verschwimmen, gehen die Schulmaßnahmen von Aussteiger:innen häufig mit dem Konsum von deren Online-Angeboten durch die Schüler:innen einher. Dies birgt auch Risiken: Social-Media-Auftritte von ehemaligen Rechtsextremen können zahlreiche kritische Aspekte aufweisen, was etwa die Ergebnisse der YouTube-Kanal-Analyse der Autorinnen verdeutlichen (Gansewig/Walsh 2021/22). Analog zur untersuchten Schulmaßnahme lag auch hier der Schwerpunkt auf ausführlichen Schilderungen und Visualisierungen der – gewaltreichen – rechtsextremen und kriminellen Vergangenheit des Aussteigers. Eine präzise Differenzierung zu rechtsextremen und kriminellen Inhalten war bei zahlreichen Videonamen und nutzergenerierten Vorschaubildern (Thumbnails) nicht zu erkennen. Darüber hinaus waren weitere Darbietungen nicht jugendgerechter Inhalte und Verhaltensweisen festzustellen (z. B. Alkohol- und (E-)Zigarettenkonsum). Diese Faktoren sind nicht nur aus kinder- und jugendschutzrechtlichen Aspekten bedenklich, sondern auch vor dem Hintergrund, dass durch Empfehlungsalgorithmen einschlägige Inhalte angezeigt werden können. Die Forschungsbefunde deuten außerdem darauf hin, dass solche Social-Media-Präsenzen als Geschäftsmodell fungieren können.
Werden die projizierten Ziele erreicht?
Anbietende der Formate und die mediale Berichterstattung zeichnen seit Jahren überwiegend ein positives Bild von den Effekten dieser Schulveranstaltungen auf die Schüler:innen. Sie sind der unverrückbaren Überzeugung, dass die direkte Begegnung mit einer oder einem Aussteiger:in und deren bzw. dessen Narrationen politische Bildungsprozesse initiieren sowie präventiv wirken würden. Diese Annahmen begründen sie insbesondere mit authentischer Wissensvermittlung, Erzeugung von Betroffenheit, Abschreckung und Aufklärung. Diese Beharrlichkeit ist vor allem insofern bemerkenswert, als vorliegende Studien (z. B. Lobermeier 2014; Figlestahler et al. 2019) keine fundierten Erkenntnisse generierten, um diese Zuschreibungen zu untermauern.
Ebenso lieferte die von den Autorinnen als Prozessevaluation und Wirkungsuntersuchung durchgeführte Studie keine Anhaltspunkte dafür, dass die untersuchte Maßnahme ihre Ziele (wie Wissenszugewinn, Reduzierung von rechten Einstellungen, Delinquenz und Gewalt) erreichen konnte (Walsh/Gansewig 2019). Zugleich war das Stimmungsbild der befragten 490 Schüler:innen heterogen und wies auf kritische Aspekte hin: Die mehrheitlichen Positivbewertungen bezogen sich hauptsächlich auf die Person des Aussteigers statt auf das Lernthema. Einige der Befragten äußerten sich ablehnend gegenüber der verwendeten Sprache des ehemaligen Rechtsextremen und seinen Gewalterzählungen. Ferner fühlten sich Schüler:innen unwohl aufgrund des Auftretens des Aussteigers und/oder seiner detaillierten Gewaltdarlegungen. Bei vier Schüler:innen lösten der Aussteiger und/oder das Gehörte Angst aus.
Zweifellos kann bei Maßnahmen, die bewusst emotionalisieren sollen und sensible Inhalte präsentieren, die Erzeugung negativer Emotionen keinesfalls ausgeschlossen werden. Hierbei handelt es sich um eine diesen Schulveranstaltungen inhärente und nicht auflösbare Herausforderung. Eine weitere solche Herausforderung ergibt sich durch die persönliche Begegnung. Diese kann etwa mit der Hemmung einhergehen, die Darbietung sowie den Inhalt kritisch zu hinterfragen, und somit die Schüler:innen an einer eigenständigen politischen Urteilsbildung hindern. Vor diesem Hintergrund scheinen Maßnahmen mit ehemaligen Rechtsextremen mit den drei relevanten didaktischen
Die benannten Faktoren liefern bereits Ansatzpunkte dafür, warum bisher kein überzeugendes empirisches Indiz für ein Erreichen der anvisierten Ziele vorliegt. Eine weitere mögliche Erklärung erscheint verblüffend simpel: Es fehlt diesen Schulmaßnahmen an einer fundierten theoretischen Grundlage. Die theoretischen Wirkannahmen und Zuschreibungen, die mit Maßnahmen von Aussteiger:innen verknüpft werden, sind nicht nur ausufernd, sondern halten auch einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. So ist etwa hinlänglich bekannt, dass Abschreckung nicht in die intendierte Richtung wirkt – vor allem dann nicht, wenn sie in Verbindung mit Informationsvermittlung steht.
Fazit
Auch jenseits von lern- und leistungsbezogenen Aspekten stellten Schüler:innen zu keiner Zeit eine homogene Einheit dar. Immer schon sahen sich Lehrkräfte einer heterogenen Gruppe gegenüber, die etwa aufgrund ihres Aufwachsens in unterschiedlichen Lebenslagen sowie ihrer diversen Zugehörigkeiten und Identitäten verschiedene Erfahrungshintergründe und Lebenswelten vereinen. Das bedeutet: Die Wirkung von Schulmaßnahmen mit ehemaligen Rechtsextremen kann bei den Zuhörer:innen unterschiedlich ausfallen. Die Annahme einer linearen Wirkungskausalität im gewünschten Sinne greift nicht nur aufgrund der generellen Offenheit von (politischen) Bildungsprozessen zu kurz. So können sich unter den Schüler:innen etwa sowohl rechtsaffine Personen befinden als auch Kinder und Jugendliche, die aus Motiven gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angegriffen wurden oder potenziell betroffen sein könnten. Das Risiko von Begeisterung oder (Re-)Traumatisierung bei Schüler:innen ist nicht auszuschließen. Diese Punkte gilt es seitens der Lehrkräfte bei der äußerst anspruchsvollen Aufgabe mitzudenken, den Einsatz von Aussteiger:innen pädagogisch und fachlich angemessen vor- und nachzubereiten. Gleichermaßen gilt es in diesem Rahmen eine Lernumgebung herzustellen, die sozial-emotionales, politisches und kognitives Lernen ermöglicht. Wesentlich ist hierbei, sowohl eine freiwillige Teilnahme zu gewährleisten als auch eine informierte Einwilligung der Erziehungsberechtigten einzuholen.
Kurzum: Die Forschungsergebnisse konsolidieren nicht das seit über 20 Jahren weit verbreitete „tradierte Narrativ“, dass die schulische Einbeziehung von ehemaligen Rechtsextremen „gute Praxis“ sei (Gansewig 2023, S. 138). Es handelt sich hierbei um ein eklatantes Missverhältnis zwischen der vorherrschenden einseitigen Positivbewerbung der (Fach-)Öffentlichkeit sowie den damit einhergehenden Zuschreibungen und der gegenwärtigen, empirisch gestützten wissenschaftlichen Befundlage. Vor diesem Hintergrund ist es angezeigt, das Wohlbefinden der Schüler:innen und (potenziell) Betroffenen (rechter, rassistischer oder antisemitischer) Gewalt in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Ebenfalls sollten ethische und kinderrechtliche Gesichtspunkte fokussiert werden. Eine mögliche resozialisierende und reintegrative Wirkung dieser Tätigkeiten für die Aussteiger:innen hingegen sollte nicht handlungsleitend sein.
In diesem Sinne gilt es, die verfügbare wissenschaftliche Informationsgrundlage als Impuls zur kritisch-konstruktiven Praxisreflexion zu nutzen. Sie kann eine Chance zur zielgruppengerechten Modifikation und Weiterentwicklung der politischen Bildungs- und Präventionsarbeit sein. Gleichermaßen verdeutlichen aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich den grundsätzlichen Bedarf an kritischer Reflexion und Sensibilisierung: So erwägt offenbar auch die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschäpe, die sich derweil selbst als Aussteigerin bezeichnet, sich zukünftig präventiv in der Jugendarbeit zu betätigen.