Dimensionen des Begriffs „Rechtsextremismus“
Bereits die Frage, wann man von Rechtsextremismus spricht, wird zum Teil sehr unterschiedlich beantwortet. Die Vertreter:innen der vergleichenden Extremismusforschung definieren Rechtsextremismus als eine spezifische Ausprägung eines den demokratischen Verfassungsstaat ablehnenden „Extremismus“. Dabei betonen sie vermeintlich strukturelle Gemeinsamkeiten eines Rechts- und eines Linksextremismus, die sie mit dem Bild eines Hufeisens illustrieren (vgl. Jesse 2015). Diese Herangehensweise wird in der Fachwissenschaft (vgl. Neugebauer 2000; Kopke/Rensmann 2000; Forum für kritische Rechtsextremismusforschung 2011), aber auch in der politischen Bildung (vgl. Baron et al. 2018) häufig kritisch gesehen. Kritiker:innen monieren vor allem, dass dieses Modell die Existenz einer relativ homogenen Mehrheitsgesellschaft unterstellt, die von den „politischen Extremist:innen“ an den Rändern der Gesellschaft bedroht werde und dieser diametral entgegenstünde. Damit werde suggeriert, dass diese homogene Mehrheitsgesellschaft einen gemeinsamen Bezugsrahmen habe, der von den als „extremistisch“ bezeichneten Gruppen nicht geteilt werde (vgl. Dölemeyer/Mehrer 2011, S. 7). Tatsächlich vernachlässigt die extremismustheoretische Perspektive politische Entwicklungen im Zentrum der Gesellschaft und deren Auswirkungen auf die Formierung extrem rechter Einstellungen und Handlungsmuster (vgl. Neugebauer 2000, S. 19).
Funktionale Gleichsetzung mit Linksextremismus
Problematisch ist auch, dass Rechts- und Linksextremismus in diesem Modell häufig als funktional gleichartige Bedrohung der demokratischen Mehrheitsgesellschaft eingestuft werden (vgl. Dölemeyer/Mehrer 2011, S. 11), obwohl sie bezüglich ihrer Einstellung zur Gleichheit der Menschen ein elementarer Gegensatz unterscheidet. Die Argumentation, mit welcher der Linken antidemokratische Ziele unterstellt werden, ist ebenso zweifelhaft wie es fragwürdig erscheint, den Eindruck zu erwecken, bei „Rechtsextremismus“ und „Linksextremismus“ handele es sich um zwei in gleichem Maße gesellschaftlich relevante Probleme. Verdeutlichen lässt sich die Kritik an zwei Beispielen. Zum einen wurde – bevor die Alternative für Deutschland (AfD) durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zum Verdachtsfall erklärt wurde – einer Thematisierung von AfD-Positionen teils mit dem Argument begegnet, die Partei werde von den Verfassungsschutzbehörden nicht als verfassungsfeindlich eingeordnet. Wenn aber rassistische Argumentationen im migrationspolitischen Diskurs hinterfragt werden, sollte es eher ein Argument für eine kritische Auseinandersetzung sein, wenn eine Partei prominent in den Parlamenten vertreten ist wie die AfD, anstatt als Vorwand dafür zu dienen, sich stattdessen mit ebensolchen Positionen der für politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse irrelevanten, aber vom Verfassungsschutz bereits seit Langem als verfassungsfeindlich eingeordneten Die Heimat (vormals: NPD) zu beschäftigen. Zum anderen entfaltet die im Begriffspaar Rechts- und Linksextremismus angelegte Perspektive ihre Wirkung durch das von den Vertreter:innen des Extremismusansatzes vorgebrachte Äquidistanzgebot (vgl. Jesse 2015), demzufolge sich „die Mitte“ ständig von beidem abzugrenzen habe. In der Schule führt dies teilweise dazu, dass Lehrkräfte gedrängt werden, im Kontext von Rechtsextremismus immer auch Linksextremismus zu thematisieren – ungeachtet der sehr unterschiedlichen Relevanz (unbedeutende Parteien, wenige Hassverbrechen) des letzteren in Gesellschaft und damit auch Schule.
Begriffliche Schärfung
Als Alternative zum Begriff „Rechtsextremismus“ verwenden viele stattdessen „extreme Rechte“ und „extrem rechts“ – so auch dieser Beitrag. Dabei ist nicht der „Extremismus“ primärer Bezugsrahmen, sondern eine weiter zu fassende „politische Rechte“, die gesellschaftliche Hierarchien und Ungleichheit als naturgegeben und unvermeidlich versteht. Bezug genommen wird auf eine weit verbreitete Definition Hans-Gerd Jaschkes, die das betreffende Phänomen definiert als
Ideologie der Ungleichheit
Damit ist der Kern extrem rechten Denkens benannt: die Ablehnung der prinzipiellen Gleichheit der Menschen und ihre Hierarchisierung nach rassistischen Kriterien, Geschlecht, Religion, sozialer Herkunft oder kulturellem Ausdruck. Bestimmendes Element ist eine Ideologie der Ungleichheit, das heißt eine essentialistische Einteilung von Menschen in natürlich und unabänderlich unterstellte Kollektive (Salzborn 2020, S. 21), die ihnen ihre Individualität und Subjektivität abspricht, sich gegen die Werte der Aufklärung richtet und die Errungenschaften der Emanzipation rückgängig machen will. Dieses Denken eint unterschiedliche Ausprägungen und Akteure der extremen Rechten. Liberalen, pluralistischen Gesellschaftsmodellen und demokratischen Werteordnungen stellt sie die Vorstellung einer wahlweise stärker biologistisch-rassistisch (z. B. Neonazis) oder kulturalistisch-rassistisch (z. B. „Neue Rechte“, AfD) begründeten, völkisch-homogenen Gemeinschaft gegenüber, was auch die Ablehnung von Migration erklärt. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich verschiedene Strömungen identifizieren, für deren Erfolgsbedingungen unter anderem die Verbreitung politischer Einstellungen bedeutsam ist, an die sie andocken können.
Einstellungen
Dass die Vorstellung einer von extremistischen Rändern bedrohten Mitte wenig hilfreich ist, zeigt ein Blick auf die Verbreitung extrem rechter Einstellungen. Bereits die Langzeitstudie (2002 bis 2011) zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) (vgl. Groß et al. 2012) hat nachgewiesen, dass entsprechende Positionen von Menschen aller politischen Milieus und sozialen Schichten geteilt werden. Auskunft über deren Verbreitung geben auf Basis einer repräsentativen Befragung alle zwei Jahre die sogenannten Mitte-Studien. Im Zentrum stehen Fragen zu sechs Ideologiedimensionen (Befürwortung einer Diktatur, nationaler Chauvinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus). Ergänzend werden weitere Komplexe Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untersucht sowie populistische Einstellungen erhoben. Im Kontext multipler Krisen sind rechte Einstellungen 2022/23 erheblich gestiegen, sodass inzwischen jede zwölfte Person in Deutschland (8,3 Prozent) im Durchschnitt allen Aussagen zustimmt und entsprechend ein deutliches, extrem rechtes Weltbild besitzt. Ähnliche Befragungen, die mit anderer Methodik mit geringerem direktem Kontakt zu den Interviewer:innen arbeiten, haben in der Vergangenheit höhere Zustimmungswerte zum Ergebnis gehabt. Gewachsen ist auch der Graubereich zwischen Ablehnung und Zustimmung: Viele lehnen nicht alle Aussagen ab, sondern ihre Bewertung ist durch „Teils-teils“-Positionierungen unklar oder sie stimmen einzelnen Elementen zu.
Akteur:innen
Die extreme Rechte ist ein heterogenes Geflecht. Die Strömungen und Akteure stehen für unterschiedliche ideologische Richtungen, verfolgen differente, langfristige Ziele und bedienen sich dazu verschiedener Strategien. Doch allen Differenzen in ideologischen Fragen wie auch gewählten Aktionsformen zum Trotz teilen sie grundlegende Überzeugungen im Hinblick auf zentrale politische Themenfelder, kurz- und mittelfristige Ziele sowie Deutungsmuster, die einen gemeinsamen Handlungszusammenhang strukturieren (Benthin 2004, S. 56). Dazu zählen vor allem die bestimmenden Ideologien der Ungleichheit und des völkischen Nationalismus sowie die der extremen Rechten immanente, radikale gesellschaftliche, politische und kulturelle Exklusionspraxis (ebd., S. 51f.). Strömungsübergreifende Einigkeit besteht dabei längst nicht nur hinsichtlich der Zentralität der Migrationsfrage, sondern ebenso teilt man grundlegende Überzeugungen etwa in puncto Gender- oder Klimagerechtigkeit. Die bedeutendsten Strömungen sind Neonazismus, „Neue Rechte“ und Rechtspopulismus.
Neonazist:innen
Die positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus zeichnet die neonazistische Strömung aus, der rund 6.000 Personen zugerechnet werden können. Neben einer Handvoll bundesweit aktiver Parteien und Organisationen existiert eine große Zahl unabhängiger, in der Regel lokal oder regional aktiver Kleingruppen. Ebenfalls dem Neonazismus zugeordnet werden kann der Großteil extrem rechter Jugendkulturen. Neonazis stehen grundsätzlich in Fundamentalopposition zum politischen System der Bundesrepublik. Ihre Ziele sind ein Umsturz und die Wiedererrichtung einer am Nationalsozialismus ausgerichteten politischen Ordnung. Sie nutzen ihre Aktionen zwar zur öffentlichen Raumnahme, wollen damit aber nicht ihre Positionen und Forderungen einem breiten Publikum vermitteln, sondern richten sich primär nach innen, stiften Gemeinschaft, ermöglichen Selbstvergewisserung und Vernetzung. Gleichzeitig setzen Neonazis zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele auf Gewalt und sind bereit, diese gegen Minderheiten oder den politischen Gegner einzusetzen. Viele Jahrzehnte wurde die Bewegung von Die Heimat/NPD dominiert. Die in den 2000ern noch in mehreren Landtagen vertretene Partei stürzte sogar in ehemaligen Hochburgen wie Thüringen und Sachsen in die Bedeutungslosigkeit ab. Ihren letzten Parlamentssitz verlor sie 2016 nach den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern. Zum einen hat Die Heimat/NPD Wähler:innen an die AfD verloren, von der sie sich erfolglos abzugrenzen sucht. Zum anderen hat die NPD, deren Verfassungsfeindlichkeit nach dem zweiten gescheiterten Verbotsverfahren 2017 festgestellt wurde, Einfluss und Mitglieder (2022: 3.000; 2007: 7.200) eingebüßt. Verantwortlich dafür sind neben parteiinternen Streitigkeiten die Kleinstparteien Die Rechte (DR) und Der III. Weg, in denen sich nach diversen Organisationsverboten seit 2013 viele neonazistische Gruppen reorganisiert haben (vgl. Schedler 2021). Ihr Ziel ist nicht der elektorale Erfolg, sondern die rechtliche Absicherung durch das Interner Link: Parteienprivileg.
Die Parteiarbeit dieser Parteien besteht zum großen Teil in der Organisation von Demonstrationen (2022: 116), aber auch von jugendkulturell anschlussfähigen Veranstaltungen wie Rechtsrock-Konzerten. Rechtsrock ist ein zentrales Element extrem rechter Lebenswelten, das ideologisch durch Liedtexte und Bilder, lebensweltlich durch Gemeinschaftserlebnisse bei Konzerten ein kollektives „Wir“ reproduziert und bestätigt (vgl. Raabe 2019, S. 19). Neben der Organisierung in Parteien hat sich zuletzt ein bedeutender Teil der Neonazis stärker informellen, kulturell geprägten Formen wie „Bruderschaften“ zugewandt. Nach dem Vorbild sogenannter Outlaw Motorcycle Clubs organisiert, inszenieren sich einige als elitäre militante Vereinigungen und sind nicht selten auch in allgemeinkriminelle Aktivitäten verstrickt.
„Neue Rechte“
Charakteristisch für die „Interner Link: Neue Rechte“ (NR) ist ihr Ansatz einer „Kulturrevolution von rechts“ und der sogenannten Metapolitik (vgl. Weiß 2017). Ausgehend von der Prämisse, dass ein geistiger Wandel einem politischen Wandel vorausgehen müsse, tritt sie für eine geistige Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates ein. Im Mittelpunkt steht weniger eigene parteipolitische Arbeit oder Protest, sondern das Bestreben, durch extrem rechte Ideologieproduktion die metapolitische Besetzung und Umdeutung von Begriffen im gesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen und eine Radikalisierung des Konservatismus zu bewirken. Zentrale Akteure der „Neuen Rechten“ in Deutschland sind das Institut für Staatspolitik (IfS) und die Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) (vgl. Langebach/Raabe 2021, S. 108). Im Mittelpunkt stehen für die NR Fragen der kulturellen und nationalen Identität. Grundlage ist dabei die „ethnische Substanz“ (vgl. Weiß 2017, S. 22) des Landes, weshalb sich die NR massiv gegen Einwanderung ausspricht. Ihr Hauptfeind sind die politische Moderne und der ihr als individualistisch und hedonistisch verpönte Liberalismus (vgl. ebd., S. 18ff.). Seit 2014 konnte die NR die Dynamik in der Migrationsfrage für sich nutzen. Leitfiguren wie Götz Kubitschek (IfS) traten bei PEGIDA auf, berieten Politiker:innen und die Junge Freiheit entwickelte sich zur inoffiziellen Parteizeitung der AfD (vgl. ebd., S. 26). Auch zwischen dem vom Verfassungsschutz beobachteten IfS und der AfD gibt es enge Verbindungen: Deren Partei- und Fraktionsvorsitzende hielten Reden bei Veranstaltungen des IfS, andere AfD-Mitglieder ließen sich für die IfS-Zeitschrift Sezession interviewen. Durch ihren Einfluss auf die AfD kann die „Neue Rechte“ inzwischen ihre politischen Vorstellungen auch in die Parlamente hineintragen (vgl. Weiß 2017, S. 26), wo die Partei die geistige Metapolitik in reale Politik überführen soll (ebd., S. 57).
Rechtspopulist:innen
Im Zentrum des Rechtspopulismus steht die Gegenüberstellung eines homogenen „Volkes“ und einer als korrupt stilisierten „Elite“. Während das Volk als ehrlich, anständig und fleißig gilt, wird dem politischen Establishment unterstellt, nur den eigenen Interessen zu folgen und korrupt und inkompetent zu sein (vgl. Lewandowsky 2017, S. 5).
Rechtspopulistische Parteien versuchen, dieses „Volk“ gegen das politische Establishment zu mobilisieren. Dabei ziehen sie Nutzen aus Widersprüchen repräsentativer Demokratien: In liberalen Demokratien setzen verfassungsmäßige Rechte und Schutzpflichten in letzter Konsequenz der Volkssouveränität Grenzen – etwa indem sie Minderheiten schützen. Dem rechtspopulistischen Demokratieverständnis nach ist jedoch ein tatsächliches oder angenommenes Mehrheitsinteresse unmittelbar durchzusetzen. Angesichts dessen und angesichts einer Skepsis gegenüber dem Kompromiss als Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse liegt mindestens implizit eine Ablehnung verfassungsrechtlicher Schranken vor. Problematisch ist auch, dass Rechtspopulist:innen unter „Volk“ in bewusster Abgrenzung vom Terminus der Bevölkerung eine Art homogene Interessengemeinschaft verstehen, weshalb der Ausschluss von Menschen befürwortet sowie politische und soziale Teilhaberechte auf die eigene, autochthone Bevölkerung begrenzt werden sollen (vgl. ebd., S. 5ff.). Verantwortlich dafür ist mit dem sogenannten Nativismus das Kernelement des Rechtspopulismus: eine Ideologie, der zufolge Staaten nur von den Mitgliedern einer ethnisch definierten Nation bewohnt werden sollten und in deren Verständnis ein vermeintlich homogener Nationalstaat durch „fremde“ Personen und Ideen fundamental bedroht sei (vgl. Mudde 2007, S. 22).
In der politischen Praxis konstruiert man mit einer „Politik der Angst“ (Wodak 2016, S. 18) ein doppeltes Bedrohungsszenario: das einer Bedrohung von außen durch Migration bzw. ethnische und religiöse Minderheiten sowie einer Bedrohung von innen durch eine Pluralisierung der Lebensformen. Ergebnis sind dystopische Gegenwartsbeschreibungen einer dem Niedergang geweihten angestammten Kultur. Die Wiederherstellung von Identität – ethnisch, kulturell, religiös – wird aus dieser Perspektive zur Staatsaufgabe, die man primär in den Parlamenten umzusetzen sucht.
In Deutschland wurde das Etikett „rechtspopulistisch“ in den ersten Jahren nach ihrer Gründung 2013 häufig der AfD angedient. Dafür spricht vor allem ihre ideologische Konstruktion eines „wahren Volkswillens“ mit einer antipluralistischen und identitären Dimension (vgl. Pfahl-Traughber 2019, S. 33) sowie die Inszenierung als Vertreterin der „schweigenden Mehrheit“ gegenüber als korrupt stilisierten Eliten (Bebnowsky 2016, S. 27; Häusler 2018). Tatsächlich vereint die 2021 mit 10,3 Prozent der Zweitstimmen in den Bundestag gewählten und in nahezu allen Landesparlamenten vertretene Partei verschiedene politische Strömungen und Milieus rechts der Unionsparteien, die eine grundlegende Ablehnung von und Wut auf Liberalisierung, gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Anerkennung von Minderheitenrechten sowie ethnische Vielfalt eint (vgl. Häusler 2018, S. 9). Empirische Studien bestätigen diese politische Verortung auch für deren Wähler:innen (bspw. Arzheimer/Berning 2019). Die Radikalisierung der Partei seit 2015 und insbesondere der Machtzuwachs des Rechtsaußenflügels sprechen inzwischen eindeutig für eine Einstufung als extrem rechts. Speziell gilt dies für einzelne Landesverbände sowie ihre Jugendorganisationen (vgl. Cremer 2021; Salzborn 2020, S. 44; Pfahl-Traughber 2020, S. 91). Zu dieser Einschätzung kommen auch Vertreter:innen des Extremismusansatzes (vgl. Pfahl-Traughber 2019, S. 35), da Rechtsextremismus nicht erst mit direkter Systemverneinung beginne, sondern bereits mit einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit, politischem Autoritarismus, identitärem Gesellschaftsverständnis sowie dem Absprechen von Grundwerten für Individuen und der Negierung von Grundprinzipien der Demokratie (vgl. ebd., S. 3f.).
„Ja, neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein groß angelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein. Und bei dem wird man, so fürchte ich, nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘, wie es Peter Sloterdijk nannte, herumkommen.“ (Björn Höcke, Landessprecher und Fraktionsvorsitzender der AfD Thüringen, 2018 in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“, S. 254)
Gewalt
Dass sich die Bedrohung der Gesellschaft durch die extreme Rechte nicht allein an Wahlergebnissen oder Umfragedaten messen lässt, zeigt ein Blick auf die Gewalt. Seit 1990 sind mindestens 219 Menschen durch rechte Gewalt gestorben (vgl. Amadeu Antonio Stiftung 2023), die politisch motivierte Kriminalität (PMK) befindet sich auf dem höchsten Stand seit Einführung der Erhebung 2001 (vgl. Bundeskriminalamt 2023a, S. 4). Die Zahl der Straftaten lag 2022 im Bereich PMK-rechts bei 23.493 (vgl. ebd., S. 4). Dabei entfällt rund ein Viertel der PMK auf Propagandadelikte, im Bereich PMK-rechts sind es mehr als die Hälfte. Mit 1.170 gezählten Taten ist der Bereich der Gewalt, insbesondere Körperverletzungen und Tötungsdelikte, im Vergleich zu 2021 um 12 Prozent gewachsen (vgl. ebd., S. 7).
Betrachtet man explizit Hasskriminalität, das heißt politisch motivierte Straftaten, die aufgrund gruppenbezogener Vorurteile begangen werden, so waren dies im Bereich PMK-rechts 8.408 Taten im Jahr 2022 (PMK-links 215), davon 925 Gewalttaten (PMK-links 19) (vgl. Bundeskriminalamt 2023b). Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hingegen kommen im gleichen Zeitraum allein in zehn Bundesländern auf eine Zahl von 2.093 entsprechenden Gewalttaten (vgl. VBRG 2023a) und kritisieren, dass einschlägige Taten seitens der Polizei der Kategorie „PMK – nicht zuzuordnen“ zugerechnet würden (vgl. VBRG 2023b).
Der Großteil der Gewalt fällt in den Bereich situativer Straßengewalt. Die Morde des NSU und die Vielzahl terroristischer Anschläge der letzten Jahre zeigen aber, dass zusätzlich eine Bedrohung durch geplante Anschläge existiert. Dabei gilt zu beachten: Alle rechten Gewalttaten sind Botschaftsverbrechen, das heißt, die konkreten Opfer werden stellvertretend für eine größere soziale Gruppe angegriffen. Die Gewalt schüchtert auch jene ein, die der gleichen gesellschaftlichen Gruppe wie die Opfer zugerechnet werden könnten, und kann so in der Gesellschaft ein Klima der Angst entstehen lassen (vgl. Schedler 2019).