Was ist Esoterik? Meine Antwort mag zuerst etwas enttäuschend wirken, und möglicherweise kommt sie Ihnen nicht ganz ernst gemeint vor. Tatsächlich jedoch meine ich sie sehr ernst und werde versuchen, Ihnen die Gründe dafür darzulegen. Was ist „Esoterik“? Nun, im Grunde genommen gibt es sie gar nicht! Damit meine ich, dass „die Esoterik“ Ihnen niemals im Alltag begegnen wird. Sie werden sie nur als Begriff in unseren Gesprächen zu Alltagsgeschehnissen finden, also in unseren Diskursen und in unserer kollektiven Vorstellungswelt. Der erste wichtige Punkt ist folgender: Esoterik ist nur ein Wort, nicht mehr.
Öffnet man die Kiste, so wird man nicht einen mysteriösen Gegenstand namens „Esoterik“ darin finden, sondern eine große Sammlung von historischen Traditionen und zeitgenössischen Praktiken, Ideen, Organisationen und sozialen Bewegungen, von denen viele eher unbekannte Namen tragen.
Esoterik wird gemeinhin als Sammelbegriff für eine Reihe von historischen Strömungen verstanden. Dazu gehören unter anderem der Gnostizismus, der Hermetismus, die Theurgie, die islamische Lehre einer mystischen Buchstabenauslegung [„lettrism“], die „okkulten Wissenschaften“ (Magie, Alchemie, Astrologie), die Kabbala, der Paracelsismus, das Rosenkreuzertum, die Theosophie, der Illuminismus, der Spiritualismus und Okkultismus, Tantra und Yoga, die Parapsychologie, der Traditionalismus, der Neopaganismus, alternative Spiritualität, Konspiritualität, Okkultur usw.
Wichtig sind hier das „usw.“ und „unter anderem“: die Herausgeber/-innen des Aries sind sich sehr wohl bewusst, dass ihre Liste weder vollständig ist noch es jemals sein wird. Die Grenzen des Feldes lassen sich nämlich nicht genau definieren, sondern sind unscharf und auch unter Spezialistinnen und Spezialisten umstritten. Es ist klar, dass jedes dieser Etiketten wiederum sorgfältig erklärt werden müsste. Oder, um bei meiner Metapher zu bleiben: Man müsste den Inhalt jeder der kleinen Kisten, auf denen sie kleben, auspacken und inspizieren. Macht man sich diese Mühe, dann wiederholt sich das Spiel: Man findet nichts als Worte oder Etiketten. Die Astrologiekiste enthält keine Astrologie, und in der Rosenkreuzerkiste sind keine Rosenkreuzer! Um in irgendeiner Form Klarheit und Genauigkeit (eine Form von verlässlichem Wissen) darüber zu erlangen, was diese Terminologie abdeckt, muss man sich in jedem einzelnen Fall sehr gründlich mit den einzigen Realitäten auseinandersetzen, die wirklich da sind: Nicht Worte oder irgendeine schwer greifbare Wesenheit der Esoterik, sondern konkrete Menschen (Individuen oder Gemeinschaften), die bestimme Dinge tun und sagen. Und warum tun sie was sie tun, und sagen sie was sie sagen? Ganz einfach (wie das für uns alle gilt) weil ihre persönlichen Erfahrungen im Laufe ihres Lebens sie dazu geführt haben, gewisse Dinge als wahr und wichtig anzusehen, andere hingegen nicht.
Mein erster Punkt ist ganz einfach: Das Thema soll aus der Sphäre des Abstrakten auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Wer sich mit Esoterik beschäftigt, kommt leicht dazu anzunehmen, dass „sie“ etwas sei, das „dort draußen“ in der weiten Welt wirklich existiere. Tatsächlich aber ist Esoterik nur ein Etikett in unseren Köpfen. Das heißt jedoch nicht, dass der Begriff unbedeutend ist. Unsere kollektiven Gedankengebilde haben sehr wohl einen Einfluss auf die reale Welt: Glauben wir fest genug, dass etwas existiert, so wird „es“ real für uns.
Erst zuhören, dann urteilen
Versucht man also herauszufinden, was es mit der sogenannten Esoterik eigentlich auf sich hat (indem man all die Kisten mit Bedacht und Geduld auspackt), so wird man stets auf ganz gewöhnliche Menschen und ihre Taten und Aussagen treffen. Wollen wir also Esoterik verstehen, müssen wir sie verstehen – was treibt sie an, was geht in ihnen vor? Wir müssen zuerst zuhören. Die größte Versuchung in der Esoterikforschung besteht darin, dass man ihre Vertreter/-innen oft gleich am Anfang schon kategorisiert und beurteilt (von verurteilen ganz zu schweigen), bevor man sich die Mühe gemacht hat, sie überhaupt zu verstehen.
Erlauben Sie mir, meine eigene Forschungsarbeit als Beispiel anzuführen: 1995 verteidigte ich meine Dissertation New Age Religion and Western Culture: Esotericism in the Mirror of Secular Thought [New Age Religion und Abendländische Kultur: Esoterik im Spiegel des säkularen Denkens] die ein Jahr darauf veröffentlicht wurde.
Die moderne Forschung zur westlichen Esoterik als akademische Disziplin entwickelte sich ungefähr zur selben Zeit, Mitte der 1990er, und hatte das Ziel, etwas daran zu ändern. Das war durchaus von Erfolg gekrönt. Heute gibt es seriöse wissenschaftliche Zeitschriften wie Aries oder das online frei zugängliche Journal Correspondences.
Dieser Professionalisierungsprozess hat zur Folge, dass jene, die in anderen Kontexten als der Wissenschaft arbeiten, nun viel einfacher an zuverlässige und sachgerechte Informationen zu Esoterik gelangen als noch vor dreißig Jahren. Sieht man sich die Bücher und Veröffentlichungen auf dem allgemeinen Buchmarkt an, besteht kein Zweifel, dass sowohl Qualität als auch Quantität enorm zugenommen haben. Bis in die späten 1990er Jahre bestand der Buchmarkt zu Esoterik hauptsächlich aus meist unzuverlässigen Veröffentlichungen von nicht-akademischen, esoterischen Insidern oder Gegnern. Heute ist es leicht, an seriöse, gut recherchierte und durchdachte Informationen zu gelangen. Es gibt jedoch zugegebenermaßen immer noch eine stattliche Lücke zwischen den fundierten, wissenschaftlichen Werken aus der Spezialistenfeder und dem allgemeinen Lesepublikum, das für gewöhnlich den bequemen Weg wählt und zu Populärliteratur für den Massenmarkt greift.
Es ist vollkommen klar, dass Expertinnen und Experten in der politischen Bildung, in Schulen, der Sozialarbeit, dem Gesetzesvollzug oder anderen Bereichen ihren Arbeitstag nicht damit verbringen können, einen Kanon der wissenschaftlichen Esoterikliteratur zu erstellen; aber mir ist wichtig, dass Sie zumindest wissen, dass alles, was Sie brauchen, um sich mit Esoterik genauer zu beschäftigen, heute einfach zugänglich ist. Alles ist verfügbar und bereit zum Gebrauch, aber man muss kritisch und wählerisch sein. Das ist mein zweiter Punkt. Der Buchmarkt zu Esoterik ist leider immer noch überschwemmt mit wenig sachkundigen und unzuverlässigen Desinformationen; also machen Sie sich die Mühe und suchen Sie nach belastbaren und zuverlässigen Werken aus qualifizierter Hand. Es bleibt nur hinzuzufügen, dass die alle zwei Jahre stattfindenden ESSWE-Konferenzen nicht nur wissenschaftlichen Teilnehmenden offenstehen, sondern auch Menschen, die sich in anderen Kontexten mit Esoterik beschäftigen. Einige von Ihnen arbeiten vielleicht in Berufen (zum Beispiel im Gesetzesvollzug), in denen Ihre Annahmen und Ihr Wissen zu Bereichen wie Esoterik teils sehr ernste Folgen für das Leben echter Menschen haben kann. Deshalb bitte ich Sie, Ihre Annahmen auf der Basis von zuverlässigen Informationen zu treffen und nicht aufgrund der zahlreichen fragwürdigen Stereotypen und Fehlwahrnehmungen, die noch immer unsere Gesellschaft und die populären Medien beherrschen.
Verschmähtes Wissen
Das bringt mich zu einem dritten, in meinen Augen essenziellen Punkt. Die Erklärung wird etwas umfangreicher ausfallen, uns gleichzeitig aber zu einem besseren Verständnis von Esoterik führen. Zu Beginn habe ich erklärt, das Wort sei nur ein Etikett und nichts, was es „da draußen wirklich gibt“. Ich fand es ungemein wichtig, Ihnen klar zu machen, dass es keine versteckte Essenz der Esoterik gibt oder eine Checkliste mit klaren Kriterien dafür, was esoterisch ist. Wenn Sie aber meine Ausführungen dazu gelesen haben, hat sich Ihnen eine Frage sicher geradezu aufgedrängt: „Wenn das stimmt, was rechtfertigt dann überhaupt die Verwendung des Etiketts ‚Esoterik‘? Wir packen alle diese heterogenen Bewegungen, Ideen, Persönlichkeiten, Praktiken oder Überzeugungen in eine begriffliche Kiste und kleben das Etikett ‚Esoterik‘ darauf, da müssen sie ja wohl irgendetwas gemeinsam haben?“ Und das haben sie auch!
Aber wie ist das möglich? Habe ich Ihnen nicht gerade das Gegenteil erklärt? Nun ist folgender Punkt für das Verständnis wesentlich: Die Gemeinsamkeiten von „allem Esoterischen“ ergeben sich nur in geringem Maße aus den eigentlichen Charakteristika dessen, was sich in der Kiste befindet. Sie ergeben sich jedoch in großem Maße aus den Gründen, aus denen wir sie überhaupt in eine besondere Kiste packen. Mit anderen Worten: Diese Gemeinsamkeiten existieren vor allem in unseren Köpfen. Wir haben das Gefühl, dass „dieser ganze Kram“ irgendwie zusammenhängt, obwohl es uns schwerfällt, uns selbst oder anderen zu erklären weshalb. Das also ist mein dritter Punkt: Dieses Etikett gibt Auskunft über uns.
Mit diesem „uns“ meine ich nun nicht Sie und mich im Besonderen. Ich meine damit einen breiten Konsens, der ganz typisch ist für unsere moderne westliche kulturelle, gesellschaftliche und intellektuelle Mehrheitsmeinung. Dieser Konsens hat tiefe geschichtliche Wurzeln, denn er hat sich seit Beginn unserer Zeitrechnung über etliche Jahrhunderte hinweg entwickelt. Es mag uns gefallen oder nicht, es mag uns bewusst sein oder auch nicht, aber wer in der westeuropäischen oder nordamerikanischen Kultur geboren, aufgezogen und ausgebildet wurde, wird unweigerlich von fast allen der grundlegenden Ideen, Muster und Annahmen – inklusive deren Schattenseiten und tiefsitzenden Vorurteilen – beeinflusst, die typisch sind für die lange und komplexe kulturelle und intellektuelle Geschichte „des Westens“. Das bringt mich zum folgenden Punkt, auf den ich gesondert aufmerksam machen möchte:
Unsere ganze Vorstellung einer kulturellen Identität des Westens wurde über Jahrhunderte auf Mustern der Kritik und polemischen Ablehnung einer Reihe von Weltanschauungen, intellektuellen Traditionen oder spirituellen Praktiken errichtet, die als inkompatibel mit den Grundwerten und -annahmen der westlichen Zivilisation wahrgenommen und so weitergetragen wurden.
Das ist der Grund, warum „wir“ alles in eine Kiste stecken. Diese Kiste ist gefüllt mit einer Vielfalt an Dingen, bei denen „wir“ über lange Zeiträume hinweg stets beschlossen haben, dass wir sie nicht akzeptieren oder ernst nehmen wollen – mit anderen Worten, es ist eine Kiste voll mit verschmähtem Wissen.
Ihre erste Reaktion könnte nun sein: „Na gut, dann sagen Sie uns doch bitte nun genau, welche Art Wissen das ist, damit wir endlich verstehen, worum es in der ‚Esoterik‘ geht!“ So einfach ist das aber nicht, um es vorsichtig auszudrücken. Warum? Um wirklich zu verstehen, worum sich die Forschung der Esoterik dreht, müssen Sie hinterfragen, auf welchem Boden Sie stehen oder welche Luft Sie atmen! Soll heißen: Die Grundfesten unserer Überzeugungen und Weltanschauungen, die wir alle als Teil unserer Bildung und unserer Sozialisierung in der westlichen Gesellschaft erlernt haben. Statt die grundlegendsten Annahmen (so funktioniert die Welt, das ist wahr und das ist falsch, das ist gut und das ist schlecht, das ist „seriös“ und das nicht) als selbstverständlich anzusehen, müssen Sie bereit sein, ein paar Schritte Abstand zu schaffen und Ihre Kernüberzeugungen und Weltansicht mit größerem kritischen Abstand als gewöhnlich zu betrachten.
Ich kann diesen Punkt gar nicht genug unterstreichen, so radikal er auch sein mag: Wenn Sie auch nur in Grundzügen verstehen wollen, worum es bei Esoterik geht, müssen Sie zumindest die Möglichkeit miteinbeziehen, dass einige Ihrer sich selbsterklärenden Ansichten vielleicht gar nicht so offenkundig wahr sind. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Alle menschlichen Ideen entspringen der Geschichte und alles in der Geschichte hätte genauso gut ganz anders passieren können als es sich zugetragen hat. Wir alle halten tagtäglich viele Dinge für selbstverständlich, schlicht weil wir aus einer gewissen Kultur und intellektuellen Tradition kommen, die uns sagt, dass manches natürlich richtig ist und gleichzeitig alles, was mit diesen Überzeugungen in Konflikt steht, als natürlich falsch festlegt – und das dementsprechend in die Kiste mit „verschmähtem Wissen“ gehört.
Um diesen Punkt zu untermauern, möchte ich Ihnen zwei Beispiele aus der Geschichte aufzeigen. Sie fragen sich womöglich gleich, was das mit Esoterik zu tun hat, aber haben Sie etwas Geduld. Sie werden sehen, die Verbindung ist da.
Erstes Beispiel. An einem Tag ungefähr 450 Jahre vor der Geburt Christi heirateten in Athen zwei junge Menschen aus vornehmen Familien. Die Braut hieß Periktione und ihr Bräutigam war Ariston. Diese Namen sind Ihnen wahrscheinlich unbekannt. Der Name ihres Sprösslings jedoch dürfte bekannt sein: Platon! Nun stellen Sie sich einmal kurz vor, was passiert wäre, hätten sich Periktione und Ariston niemals kennengelernt – aus irgendeinem Grund heirateten sie jemand anderen, eine/-r der beiden wird krank und stirbt vor der Hochzeit oder ein anderer Zufall ereignet sich. Zahllose kleine Umstände in ihren Leben hätten dazu führen können, dass Platon niemals geboren worden wäre. Ich kann Ihnen aber versichern, wenn dieser Mann nicht vor zweieinhalbtausend Jahren geboren worden wäre, so säßen wir sicherlich nicht hier und diskutierten über Esoterik. Warum? Weil es unmöglich ist, sich auch nur vorzustellen, welche Richtung die Entwicklung der Welt ohne Platons Schriften eingeschlagen hätte. Denken Sie darüber nach. Es gäbe die griechische Philosophie, das Fundament der sogenannten westlichen Geistesgeschichte, nicht. Es wäre den Jüngern Jesu unmöglich gewesen, das zu entwickeln, was wir heute als christliche Theologie kennen, denn so viele der grundlegenden Annahmen, die das europäische Geistesleben bestimmt haben, finden ihre Grundlage nicht etwa in der Bibel, sondern in der Philosophie des Platonismus und seiner Nachfolger. Auch die arabische Philosophie aus der islamischen Welt gäbe es nicht, was im Gegenzug hieße, dass auch die Wissenskultur des christlichen Spätmittelalters nicht vorhanden wäre, die den arabischen Gelehrten vieles verdankt.
Es hätte niemals eine Renaissance gegeben, denn sie hing ganz entscheidend von der Wiedergeburt des Platonismus im fünfzehnten Jahrhundert ab. So könnte ich noch endlos weitermachen. Zusammenfassend: Hätten Periktione und Ariston nicht geheiratet, und wäre so Platon nicht geboren worden, wäre beinahe nichts so geschehen, wie es geschehen ist. Wir könnten uns die heutige Welt kaum vorstellen. Und zu guter Letzt: Viele der Gedanken, die wir als esoterisch ansehen, haben ihre Wurzeln tatsächlich im Platonismus. Kein Platon, keine Esoterik. Zweites Beispiel. Wären Sie im vierten Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung geboren, so hätten Sie vielleicht im Jahr 363 n. u. Z. die Schlacht von Maranga im heutigen Irak miterlebt. Am frühen Morgen des 26. Juni 363 griff überraschend der Feind an, und der römische Kaiser Julian (331–363 n. u. Z.), hastete aus seinem Zelt. Nun war zu diesem Zeitpunkt ein kleines Lederband an seinem Brustpanzer abgerissen und es fehlte die Zeit, es zu reparieren. Wahrscheinlich aufgrund der schlechtsitzenden Rüstung starb Julian – und zwar durch einen Speer, der eigentlich an seinem Brustpanzer abgeprallt wäre. Sein Tod bereitete den drei Jahren ein jähes Ende (361–363 n. u. Z.), in denen er versucht hatte, die Christianisierung des Römischen Reiches zu unterbinden und die Menschen zurück zum Heidentum zu führen. Wir werden nie erfahren, was passiert wäre, wenn dieses kleine Lederband nicht gerissen oder rechtzeitig genäht worden wäre. Tatsache ist, dass Julian, im Herzen zwar Philosoph, ein bemerkenswert tatkräftiger Kaiser war. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass ihm die Repaganisierung gelungen und so die Verbreitung des Christentums aufgehalten worden wäre. Wäre das geschehen, dann säßen wir ebenfalls nicht hier und würden über Esoterik diskutieren! Statt Konstantin „den Großen“ in den Geschichtsbüchern zu finden, würden wir uns vielleicht an Julian „den Großen“ erinnern – der weltbekannte Kaiser, der diese seltsame, nun in Vergessenheit geratene Religionsströmung des „Christentums“ aufgehalten hatte und unsere Kultur auf den rechten Weg zurückführte
…
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichten? Wozu dient das? Erstens möchte ich Sie überzeugen, dass viele unserer fundamentalen Ansichten, Überzeugungen und Werte, die sie wahrscheinlich tagtäglich für selbstverständlich halten, es ganz und gar nicht sind. Sie sind letztlich nichts anderes als zufällige Produkte spezifischer historischer Entwicklungen, die zwar auf eine gewisse Weise passiert sind, aber genauso gut auch eine völlig andere Richtung hätten nehmen können. Zweitens können wir das, was wir heute Esoterik nennen, nur von diesem Standpunkt aus verstehen.
Mit anderen Worten: Man kann Esoterik nicht greifen, ohne den weiteren Kontext zu betrachten – die Geschichte der westlichen Kultur selbst. Auf simpelster Ebene enthält die Kiste mit diesem Aufkleber mehr oder minder alles, was Sie (und wir alle) gelernt haben, als „anders“, „komisch“, „problematisch“, „fragwürdig“ und sogar „gefährlich“ wahrzunehmen, und zwar weil es nicht in die vorherrschenden, mehrheitlich akzeptierten intellektuellen Muster passt, auf denen unsere gesamte Gesellschaft beruht. Man kann auch sagen: Unsere Wahrnehmung von Esoterik ist das Ergebnis eines langen Prozesses polemischer Ablehnung, in dem „wir“ „unsere“ „westliche“ Identität gegen alles abgegrenzt und verteidigt haben, was „wir“ als inkompatibel mit unseren Vorstellungen davon, wer wir sind oder wer wir sein wollen, zurückgewiesen haben. Es ist unmöglich, diese geschichtlichen Entwicklungen in einem einzigen Aufsatz auch nur grob zu umreißen; wenn Sie also mehr wissen wollen, muss ich auf eine monographische Darstellung verweisen.
Interner Eurozentrismus
Der erste dieser Bestandteile kann als heidnisch-hellenistisch bezeichnet werden.
Mir ist natürlich klar, dass diese Denkweise viele gängige Haltungen zum Islam, dem Orient und so weiter konterkariert, doch genau darum geht es mir: Ich möchte, dass Sie diese Annahmen hinterfragen. Die abrahamischen oder radikal-monotheistischen Religionen definierten ihren Wesenskern stets gegen die „heidnischen“ Bräuche der sie umgebenden Kulturen. Judentum, Christentum und Islam waren sich in einer Sache sehr einig – und zwar in ihrer radikalen Ablehnung der für sie inakzeptablen „heidnischen Götzenverehrung“.
Das ist es nun aber genau, was die christlichen Intellektuellen versuchten. Man könnte sagen, dass sie im Grunde die „heidnisch-hellenistische“ Tradition in zwei Lager teilten. Die komplexe Entwicklung der „westlichen Kultur“ von der Antike bis in die Gegenwart basiert so auf der sehr unbequemen, aber unvermeidlichen Koexistenz von nicht zwei, sondern drei Kulturkomponenten, jede mit ihrer eigenen inhärenten Logik und Dynamik. Den ersten Teil bildet der exklusive Monotheismus der abrahamischen Religionen, der sich aus den Büchern Mose, dem Alten und Neuen Testament sowie dem Koran speist. An zweiter Stelle stehen die als seriös wahrgenommenen „heidnischen“ Traditionen des griechischen Rationalismus und der Wissenschaft. An dritter Stelle folgt dann „der ganze Rest“ oder „das Übriggebliebene“ – sprich alles, was nicht einfach in die sorgsam gepackten Kisten „Monotheismus gemäß den Schriften“ oder „Wissenschaft und Rationalismus“ passte. Sie haben es erraten: Wir sind nun am Entstehungspunkt unserer Reliktkiste: das „verschmähte Wissen“, das wir heute meist als Esoterik bezeichnen.
(© Wouter J. Hanegraaff)
(© Wouter J. Hanegraaff)
Ich möchte darauf hinaus, dass das Standard-Schulbuch, das der Großteil von uns in der Hand hatte, uns glauben machen will, dass die westliche Kultur im Kern auf die ersten beiden Elemente reduziert werden kann: Religion (sprich: Monotheismus) und Wissenschaft und Vernunft (sprich: die Griechen). Der „Rest“ ist nicht ernst zu nehmen. Hinzu kommt, dass uns seit der Reformation und der Aufklärung häufig ein noch reduzierteres Bild präsentiert wird, aus dem der Islam entfernt wurde. Damit entsteht die populäre, aber hochproblematische Auffassung, dass eine „jüdisch-christliche Tradition“ (Monotheismus minus Islam) der Wissenschaft und Vernunft gegenübersteht.
(© Wouter J. Hanegraaff)
(© Wouter J. Hanegraaff)
Was sich hier abzeichnet, ist nichts weniger als die tiefgehend eurozentrische oder (um einen hässlichen Neologismus zu bemühen) westzentrische Ideologie der Überlegenheit des Christentums und des Rational-Wissenschaftlichen – im obigen Bild ist alles oberhalb der Trennlinie „gut“, während alles unterhalb „schlecht“ ist. Seit Beginn der Neuzeit hat diese normative Ideologie unser Bildungssystem und unsere sozialen Institutionen durchdrungen und folglich wurden wir alle von ihr beeinflusst.
Ich hoffe, Ihnen wird klar worauf ich hinaus will. Seit der frühen Neuzeit ist die eurozentrische Version der westlichen Überlegenheit ein wichtiges Werkzeug der imperialistisch-kolonialistischen Anstrengungen, christliches und rational-wissenschaftliches Gedankengut in den Rest der Welt hinauszutragen und es nicht-westlichen Menschen und Kulturen aufzuzwingen. Die normativen Ideologien, die die Eroberung und Herrschaft im Kolonialismus zu legitimieren versuchten, wurden in den letzten Jahrzehnten überaus scharf kritisiert – und das völlig zu Recht. Doch trotz der offensichtlichen Bedeutung dieser politischen Debatten übersehen sogar die lautesten Stimmen der postkolonialen Kritik am „Westen“ etwas Entscheidendes, und zwar, dass die Wurzeln der eurozentrischen Ideologie westlicher Überlegenheit viel älter sind. Sie beruhen auf einer stetigen und systematischen Anstrengung, viel mehr als nur externe Andersartigkeit wie den Islam, Indien und andere nicht-europäische oder nicht-nordamerikanische Kulturen zu marginalisieren, auszuschließen und zu diskreditieren.
Entstanden in und weiterentwickelt seit der Spätantike, zielt diese Anstrengung auch auf jedwede interne Andersartigkeit, die mit dem „Heidentum“ und der „Götzenverehrung“ verknüpft und häufig hochdramatisiert als existenzielle, „dämonische“ Bedrohung dargestellt wurde.
Das ist meine Antwort auf die anfangs gestellte Frage: „Was ist Esoterik?“ Es mag nicht die Antwort sein, die Sie erwartet hatten, ich finde jedoch, dass Sie eine ernsthafte Antwort und keine einfache, aber oberflächliche Lösung verdienen. Es ergeben sich einige weitreichende Folgen:
Zuerst und nach den eben erfolgten Ausführungen vielleicht recht offensichtlich: Man kann Esoterik nicht umfänglich verstehen, ohne die versteckten oder expliziten Ideologien westlicher Überlegenheit zu hinterfragen, die das gesamte Projekt Neuzeit definieren, zu dem auch die imperialistische Expansion und die Kolonialisierungsbemühungen der restlichen Welt gehören. Wenn Sie daran Zweifel hegen, denken Sie nur einmal an die beliebte Annahme, dass „wir bei uns hier“ die Wissenschaft haben, während „die da drüben“ nichts als primitive Magie vorweisen können.
Eine zweite Folge: All das „komische Zeug“, das wir bisher in die Esoterikkiste gestopft haben, damit es schön getrennt bleibt von allem, was wir als reine „westliche Kultur“ wahrnehmen, muss nun wieder aus dieser Kiste herausgeholt werden. Alles muss ernsthaft und vorurteilslos studiert werden, wie jede andere Facette der westlichen Kultur. Dann muss es zurücksortiert werden an seinen rechtmäßigen Platz in unserem Narrativ der komplexen Geschichte, die sich seit zweieinhalbtausend Jahren in unseren Teilen der Welt abspielt. Das ist der Kern dessen, worum es in der wissenschaftlichen Esoterikforschung geht.
Nehmen wir dieses Vorhaben ernst, ist eine dritte Folge, dass wir nicht länger so über „westliche Kultur“ denken können, wie wir es bisher getan haben. Unsere traditionellen Erzählungen oder Metanarrative über „den Westen“ müssen entlarvt werden als das was sie sind und schon immer waren: ideologische Fiktionen. Die altbekannten triumphalistischen Geschichten über die westliche Überlegenheit müssen von völlig anderen, aber – hoffentlich – genaueren und gerechteren historischen Narrativen der „westlichen Kultur“ ersetzt werden.
Kritische Theorie und unkritische Fantasien
Sie sehen also, dass ich die eurozentrischen Ideologien scharf kritisiere. Sie zeichnen ein beschränktes Bild von der angeblichen Überlegenheit der westlichen Kultur, indem sie die „griechische“ Rationalität und die „monotheistische“ (oder vielmehr „jüdisch-christliche“) Moral allem angeblich „Irrationalen“ und „Unmoralischen“ gegenüberstellt, das mit „Heidentum“, „Götzenverehrung“, „Magie“, „Aberglaube“, „dem Okkulten“ oder der „Unvernunft“ verbunden ist – kurzum, allem, was zuvor in die „Esoterikkiste“ gesteckt wurde.
Trotzdem bleiben etliche Ausformungen und Variationen von Theodor W. Adornos berüchtigter These, Okkultismus [sei] die Metaphysik der dummen Kerle
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihr berühmtes Werk Dialektik der Aufklärung (1944). Das erste Kapitel zum „Begriff der Aufklärung“ ist geprägt von Max Webers Konzept der Entzauberung der Welt und basiert auf einer absolut extremen Form der bekannten Stereotypen „Vernunft gegen Magie“, die ich hier diskutiere und kritisiere: „Magie gegen Vernunft“, „Mythos gegen Logos“, „Heidentum gegen Monotheismus“ und dergleichen.
Liest man das Werk allerdings aus der Perspektive der modernen kritischen Forschung in den Bereichen Magie, Entzauberung oder westliche Esoterik, erscheinen sogar seine grundlegenden Annahmen und Argumente so dermaßen veraltet, dass man sie schlicht nicht mehr ernst nehmen kann. Jason Ā. Josephson Storms Aussage ist so milde wie nur möglich formuliert: Der Inhalt ist kaum mehr als „eine späte Ausformulierung alter Mythen“.
Ein anderer marxistischer Philosoph, Georg Lukács, veröffentlichte zehn Jahre später sein Buch Die Zerstörung der Vernunft (1955), das auf einer ganz ähnlichen Hintergrundlogik mit weitreichenden politischen Folgen basiert.
Lukács’ Gedanke besagt nicht nur, dass der Marxismus rational und der Faschismus irrational seien. Seine Absichten waren weitaus radikaler: Er nahm an, dass der Fortschritt der „Vernunft“ nur zum Marxismus führen konnte, während „Unvernunft“ in all ihren Formen (philosophischer oder esoterischer Natur) unweigerlich zum Faschismus und Antisemitismus führen würde. Wieder ist das fundamentale Argument – trotz Lukács’ unbestreitbarer Belesenheit – kaum mehr als politische Propaganda, deren Kern die eurozentrische Ideologie der westlichen Überlegenheit bildet. Es begegnet uns wieder dasselbe Narrativ: Die wahre Moral kommt aus dem Judentum und Christentum und die wahre Vernunft und Wissenschaft von den Griechen. Diese beiden Kerntraditionen der westlichen Kultur stehen dann ihrer ewigen (und mutmaßlich nicht wirklich westlichen, daher „orientalischen“) Widersacherin gegenüber, dem Ursprung aller Irrationalität und Unmoral: dem Heidentum, der Magie, dem Okkultismus, der Unvernunft – kurz gesagt: der Esoterik. Sollten immer noch Zweifel daran bestehen, wie furchtbar all diese Dinge sind, erklärt Lukács, dass diese „Genealogie der Dunkelheit“ letztlich zum absoluten Schrecken des Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus führt.
Klare, rationale Argumente für diese Pauschaldämonisierung der „Irrationalität“ (also Mythos, Magie, Heidentum, das Okkulte und Esoterik) sucht man vergebens. Das Fundament der politischen Ideologie Lukács‘ wird schlicht als unbestreitbar behauptet. Nach den Schrecken der Shoah war es leicht verständlich, dass solch dramatische Folgerungen im Sinne einer reductio a hitlerum („es führt alles zu Hitler“) das damalige Bewusstsein stark beeinflussten.
Noch beklagenswerter (und wirkmächtiger als die Kritische Theorie) ist die Tatsache, dass diese einfache Verknüpfung von Faschismus, Nazismus und Antisemitismus mit Esoterik, Magie und Okkultismus sich seit den 1960ern zu einem überaus erfolgreichen Genre für populäre Verschwörungserzählungen entwickelt hat. Man findet hier die effekthascherische Fantasie, dass Hitler und die Nazis eigentlich Okkultisten waren Mitglieder eines unheilvollen Geheimbunds, der sich mit schwarzer Magie beschäftigte und von dämonischen Kräften getrieben wurde. Nichts davon ist historisch belegt,
Leider erhält dieser Argwohn ein gewisses Maß an Plausibilität und Legitimität von genau den vorherrschenden intellektuellen Traditionen, die ich hier kritisiere. Das zeigt sich auch in der Tatsache, dass ähnliche ideologisch befeuerte Muster der Desinformation zu Esoterik sich nicht nur in den Massenmedien finden, sondern auch in den Werken einflussreicher Universitätsprofessorinnen und -professoren, die sich als Expertinnen und Experten gerieren, aber selten die Forschung kennen oder sich die Mühe machen, sich einzulesen.
Rechte Esoterik
Meine Überlegungen laufen natürlich nicht darauf hinaus, dass der Zusammenhang zwischen Esoterik und Demokratie völlig problemfrei ist. Damit komme ich zu meinem fünften Punkt: Es ist wichtig, genau zu sein – nicht alles über einen Kamm scheren, sondern präzise und sorgfältig unterscheiden. In einer liberalen Demokratie und einer offenen Gesellschaft mit dem Grundwert der Religionsfreiheit gibt es keinen Grund, warum die Gegenwart von esoterischen Bewegungen oder Vorstellungen als Problem wahrgenommen werden sollte. Das eigentliche Problem ist das weit verbreitete Unwissen über Esoterik und die dazugehörige Geschichte. Das Gegenmittel hierfür sind zuverlässige Informationen aus legitimer Forschung. Die erste Lehre aus der Esoterikforschung ist also, keinen Generalisierungen anheimzufallen und jede Forschungsfrage stets auf spezifische esoterische Trends, Bewegungen oder Organisationen zuzuschneiden.
Geschichte und Soziologie zeigen, dass viele der Phänomene unter dem Dachbegriff Esoterik kaum mit politischen Fragen zu tun haben. Andere wurden seit dem 18. Jahrhundert mit linkem, sozialistischem und progressivem Gedankengut in Verbindung gebracht. Es gibt beispielsweise einen geschichtlich erwiesenen Zusammenhang zwischen Esoterik und Sozialismus im 19. Jahrhundert
Im zeitgenössischen Kontext gibt es selbstverständlich eine ganze Reihe esoterischer Trends, die zweifellos problematisch sind, weil sie die grundlegenden Werte einer liberalen Demokratie ablehnen. Die Esoterik hat ihre Grundüberlegungen aus dem „verschmähten Wissen“ des Westens und hat so schon immer ein großes Potenzial für gegenkulturelle Kritik am Status Quo. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert schlugen sich viele esoterische Strömungen auf die Seite der Aufklärung und anderer progressiver sozialer Gegenvorschläge zum noch mächtigen Einfluss der Kirche und des christlichen Dogmatismus.
Diese immer besser sichtbaren und populären Trends rechter Esoterik dürfen nicht als Kausalfaktoren herangezogen werden, die den Aufstieg des rechtsextremen Populismus in den letzten zwei Jahrzehnten erklären sollen. Sie sind vielmehr Symptome der allgemeinen Krise der liberalen Demokratie, in der wir uns gerade befinden.
Hier bedarf es einer kurzen Exkursion, um das meiner Analyse zugrunde liegende Argument zu erklären. Der Neoliberalismus, basierend auf den Theorien Friedrich Hayeks und seiner Mont Pélerin-Society, begann seinen Aufstieg in den 1980ern zur Zeit von Reagan und Thatcher und verbreitete sich als politisch-wirtschaftliche Ideologie nach dem Zerfall der Sowjetunion 1989 und der Zeit von Clinton und Blair weltweit. Damit einher ging eine grundlegende Veränderung der Bedeutung des Begriffs „Liberalismus“. Es ist mir nicht möglich, die Gründe hier ausführlich zu diskutieren, sie wurden jedoch von Spezialistinnen und Spezialisten im Detail
Gegenwärtig sehen wir eine flächendeckende populäre Revolte gegen die Tatsache, dass das globale Streben nach radikaler Neoliberalisierung ganz offensichtlich nicht zu Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und einer Blütezeit der Menschheit geführt hat, sondern zu den jeweiligen Gegenteilen Autoritarismus, unpersönlicher Technologie zur bürokratischen Überwachung und Kontrolle, ausgeprägter sozialer Ungerechtigkeit, extremer wirtschaftlicher Ungleichheit und einer immer tiefer werdenden Krise der Demokratie. Tragisch daran ist, dass sich die Anhängerschaft des Neoliberalismus stets die Verteidigung des „Liberalismus“ und der „Demokratie“ auf die Fahnen geschrieben, jedoch (wie Spezialistinnen und Spezialisten sowie Insider/-innen schon immer wussten) eigentlich das Gegenteil bewirkt hat. Da dieser feine, aber alles entscheidende Unterschied von der breiten Öffentlichkeit nicht bemerkt wurde, bekommt nun die „liberale Demokratie“ die Schuld an all jenen Gebrechen, die in Wahrheit vom Tauschkonstrukt verursacht wurden, das ihren Platz eingenommen hat: dem Neoliberalismus.
Eine gewisse Anzahl esoterischer Trends reagiert auf diese Situation oder hat von ihr profitiert, indem sie sich als Alternativen anbietet. Manche davon sind deutlich nach rechts oder extrem rechts gerückt. Ohne ins Detail zu gehen, würde ich diese als die Wichtigsten nennen:
Beginnen wir mit der Strömung des sogenannten Traditionalismus.
Sie definiert sich durch ihre aggressive Ablehnung der „Moderne“ in all ihren Facetten, wodurch sie selbstverständlich auch der Demokratie und liberalen Werten selbst höchst kritisch gegenübersteht. Der Traditionalismus entspringt den Werken des französischen Esoterikers René Guénon (1886–1951) und hier sei angemerkt, dass viele seiner Sympathisantinnen und Sympathisanten sich deutlich mehr auf spirituelle als auf politische Fragen konzentrieren. Die zeitgenössische, anti-demokratische und rechtsextreme Ausprägung dieser Esoterikform fußt vor allem auf den Gedanken des italienischen Traditionalisten Julius Evola (1898–1974), der die Nähe zu Mussolini und Hitler suchte und seine rassistischen und antisemitischen Meinungen glasklar darstellte. Heute verbindet sich diese Art von Traditionalismus bei „spirituellen“ neurechten Verlagen wie Arktos Media oder den einflussreichen „weiß-nationalistischen“ Internetseiten und Netzwerken mit explizit rassistisch und antisemitischen Haltungen wie sie z. B. bei Greg Johnsons Counter-Currents anzutreffen sind. Wenig überraschend findet man in denselben Milieus eine Faszination für gewisse esoterische Trends wie die Ariosophie, die bekannte, rassistisch-antisemitische Mutation der Theosophie, oder mit Neonazi-Ikonen wie Savitri Devi (Maximiani Julia Portas, 1905–1982), die glaubte, Hitler sei ein göttlicher Avatar , und nicht zuletzt mit verschiedenen mehr oder weniger „heidnischen“ Formen der Esoterik, beliebt auch bei Alain de Benoists Nouvelle Droite oder dem russischen Philosophen Aleksandr Dugin, die beide eine große, internationale Anhängerschaft vorweisen können. Das Neuheidentum (auch bekannt als Neopaganismus) ist der zweite Hauptbereich, in dem man – zumindest dieser Tage – auf reges Interesse an konservativ-traditionalistischen Gedanken mit rechter oder rechtsextremer Orientierung stoßen wird. Erwartungsgemäß sind hier interne Kontroversen innerhalb der heidnischen Gemeinschaft entstanden, da viele Heidinnen und Heiden liberal eingestellt sind, eher nach links neigen und sich stark für progressive Themen wie die Emanzipation der Frau und den Umweltschutz interessieren. Andere Ausformungen des gegenwärtigen Heidentums stellen aber nordische und germanische heidnische Gottheiten oder „maskuline“ Kriegerwerte in den Mittelpunkt, was leicht – wenngleich nicht zwingend
– zu einer Hinwendung zu Blut-und-Boden-Ideologien führt. Darüber hinaus kann auch die Nietzscheanische Kritik der „weichen“, angeblich jüdisch-christlichen Werte der westlichen Gesellschaft, die verantwortlich gemacht werden für die Desakralisierung der Welt und ihre Verwandlung in eine geistlose neoliberale Konsumgesellschaft, weitere Blüten in Form rechter Ausprägungen des Neopaganismus treiben (obwohl dieses Argument auch aus linksheidnischer Perspektive kommen könnte, da das Heidentum dem Christentum von Natur aus kritisch gegenübersteht). Die dritte und letzte Richtung ist völlig anderer Natur. Wer Umberto Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel (1988) gelesen hat, weiß, dass Verschwörungserzählungen ein wichtiger Teil der modernen und zeitgenössischen Esoterik sind; ihre umfassende Einbettung in moderne spirituelle Milieus hat einen neuen Begriff hervorgebracht: Konspiritualität.
Historisch entwickelten sich konspirative Strömungen zuerst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in erzkonservativen, römisch-katholischen Kreisen, die glaubten, die Freimaurer und der deutsche Orden der Illuminaten seien Ausgeburten des Teufels und verantwortlich für die Französische Revolution. Im neunzehnten Jahrhundert entwickelten sie sich auf vielfältige Weise weiter und brachten zahlreiche, immens populäre Verschwörungsfantasien hervor, in denen Freimaurer, Okkultisten, Satanisten, Jesuiten und Juden die Hauptrollen spielten. Die beliebte Verschwörungserzählung über „Nazi-Okkultisten“ habe ich bereits erwähnt. Andere, ähnliche Narrative sind allerdings in Reinform implizit oder explizit antisemitisch, denn sie folgen dem Beispiel der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion und deuten an, dass die neoliberalen „Eliten“, die nach der Weltherrschaft trachten, von einer finsteren Verschwörung wohlhabender Juden (die Rothschilds, George Soros und dergleichen) dominiert werden. Es ist absolut beunruhigend zu beobachten, wie diese lang widerlegten Geschichten immer wieder zurückkommen, sich online verbreiten und in einem größeren Kontext einer „post-Wahrheit“-Kultur ohne Grenzen zwischen Fakt und Fiktion neue Erscheinungsformen annehmen.
Traditionalismus, rechtes Heidentum und Konspiritualität sind sicherlich bedeutende Phänomene, denen verständlicherweise viel Aufmerksamkeit in populären Medien gewidmet wird. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass sie letztendlich nur drei spezifische Dimensionen eines viel weiteren und immens komplexen Feldes sind – der zeitgenössischen Esoterik.
Abschließende Bemerkungen
Infolge von Phänomenen wie der Covid-Krise, der weit verbreiteten Impfgegnerbewegung, dem Sturm auf das Kapitol und nun dem Krieg in der Ukraine haben sich viele Berichterstatterinnen und Beobachter überrascht und schockiert darüber zeigt, wie ungemein beliebt Verschwörungserzählungen im Internet, in sozialen Medien und bei Demonstrierenden geworden sind. Wie geht man damit um, dass hippieartige spirituelle Bewegungen, die angeblich „Frieden und Liebe“ propagieren, nun ohne mit der Wimper zu zucken neben Neofaschistinnen, Traditionalisten, Neuheidinnen und anderen radikalen Aktivisten der rechtsextremen Szene stehen?
Ich habe dargelegt, dass diese Phänomene nicht von etwas „intrinsisch Esoterischem“ verursacht wurden. Anders gesagt sind es nicht „die esoterischen Ideen”, die die Leute nach rechts wandern und anti-„elitär“ denken lassen. Diese Phänomene sollten stattdessen als Symptome einer tiefen Krise der liberalen Demokratie interpretiert werden. Ich lege nahe, dass diese Krise ihren Ursprung im historischen Prozess der Neoliberalisierung (und der neoliberalen Globalisierung) hat, die in den 1980ern begann und seit der Finanzkrise 2009 völlig außer Kontrolle geraten ist. Springen wir noch einmal an den Anfang dieses Artikels: Man darf niemals vergessen, dass Esoterikforschung immer bedeutet, Menschen zu betrachten. Es ist völlig normal, dass der Durchschnittsbürger oder die Durchschnittsbürgerin sich heute mit Gefühlen wie tiefer Traurigkeit oder sogar Depressionen, Angst, Unsicherheit, Besorgnis oder moralischer Empörung über den aktuellen Zustand unserer Welt konfrontiert sieht.
Viele von uns fühlen sich hilflos, fürchten sich oder sind wütend darüber, wie machtlos wir im Angesicht der kontinuierlich zunehmenden Zahl an Krisen (ökologisch, politisch, sozial, wirtschaftlich, demokratisch, militärisch, medizinisch, mental-psychologisch etc.) sind, die unsere Gesellschaft zu zerreißen scheinen. In dieser Situation ist es nicht nur einfach, sondern auch völlig natürlich, wenn Menschen in den reichen historischen Vorräten esoterischer Überzeugungen, Konzepte, Symbole, Sprachen, Mythen oder Erzählungen auf die Suche nach Quellen der Hoffnung und Inspiration gehen. All dieses Material hat ja zumindest eines gemeinsam: die Tatsache, dass die westliche Mehrheitsmeinung und die intellektuelle Elite es ausgemustert und marginalisiert haben, woraufhin es in der Kiste des „verschmähten Wissens“ landete – und dadurch offensichtlich neue Anziehungskraft erhielt.
Mit anderen Worten: Wer sich so bitterlich enttäuscht, frustriert oder betrogen fühlt vom „System“, „den Massenmedien“ oder „den Eliten“, die offenbar schuld am heillosen Chaos in der Welt sind und daher durch und durch korrupt erscheinen, wird selbstverständlich aufhören, die „offiziellen Versionen“, die „diese Eliten“ einem verkaufen wollen, oder ihre Auffassung von „wahr“ und „falsch“ zu glauben! Man vertraut auf nichts mehr, was sie sagen. Die Suche nach Antworten, nach irgendeiner Art von Wissen, irgendeinem größeren Zusammenhang, irgendeiner Erklärung, was gerade passiert und warum, geht jedoch weiter. Damit gibt es noch mehr Gründe, sich einmal ganz genau anzusehen, was „die“ verschmäht und stets so tüchtig versucht haben, als lächerlich oder gefährlich oder falsch zu diskreditieren. Kurzum wird man dazu geneigt sein, abzulehnen, was sie akzeptieren (möglicherweise sogar, weil sie es akzeptieren), und anzunehmen, was sie ablehnen (möglicherweise sogar, weil sie es ablehnen).
Diese Logik ist sehr einfach zu verstehen. Sie erklärt die besondere Anziehung von Esoterik als „verschmähtem Wissen“ für eine Gesellschaft in der Krise. Ich glaube, wir haben gute Gründe, uns große Sorgen über die Zukunft der liberalen Demokratie, ihrer grundlegenden Werte und ihrer institutionellen Eckpfeiler zu machen. Sie sind bereits geschwächt und stehen weiter unter Beschuss – leider scheint mir ihr Überleben in den nächsten Jahrzehnten alles andere als gesichert. Um dieser enormen Herausforderung wirksam entgegenzutreten, sollten wir uns nicht blindlings von den Symptomen ablenken lassen, sondern müssen feststellen, wo die Ursachen der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen liegen. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, woran unsere Patientin wirklich krankt und sie zu heilen. Denn die Symptome werden auf anderem Wege nicht verschwinden.
Aus dem Englischen übersetzt von Julia Dolderer.