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Esoterik und Demokratie | Esoterik und Demokratie – Ein Spannungsverhältnis | bpb.de

Esoterik und Demokratie – Ein Spannungsverhältnis Programm

Esoterik und Demokratie Einige Klarstellungen

Wouter J. Hanegraaff

/ 46 Minuten zu lesen

Was ist eigentlich Esoterik und in welchem Verhältnis steht sie zur Demokratie? Der Amsterdamer Religionswissenschaftler Wouter Hanegraaff wirft gängige Vorstellungen über den Haufen, wendet sich gegen eine pauschale Verteufelung esoterischer Ideen und fordert eine ebenso kritische wie vorurteilslose Befassung mit esoterischen Phänomenen – ohne dabei problematische Ausformungen zu verharmlosen.

(© picture-alliance, picture alliance / CHROMORANGE | Claudia Nass)

Was ist Esoterik? Meine Antwort mag zuerst etwas enttäuschend wirken, und möglicherweise kommt sie Ihnen nicht ganz ernst gemeint vor. Tatsächlich jedoch meine ich sie sehr ernst und werde versuchen, Ihnen die Gründe dafür darzulegen. Was ist „Esoterik“? Nun, im Grunde genommen gibt es sie gar nicht! Damit meine ich, dass „die Esoterik“ Ihnen niemals im Alltag begegnen wird. Sie werden sie nur als Begriff in unseren Gesprächen zu Alltagsgeschehnissen finden, also in unseren Diskursen und in unserer kollektiven Vorstellungswelt. Der erste wichtige Punkt ist folgender: Esoterik ist nur ein Wort, nicht mehr. Um noch etwas genauer zu werden, ist Esoterik ein Sammelbegriff oder ein Etikett – wie ein Aufkleber auf einer Kiste.

(© bpb)

Öffnet man die Kiste, so wird man nicht einen mysteriösen Gegenstand namens „Esoterik“ darin finden, sondern eine große Sammlung von historischen Traditionen und zeitgenössischen Praktiken, Ideen, Organisationen und sozialen Bewegungen, von denen viele eher unbekannte Namen tragen. Genauer gesagt wäre die Esoterikkiste voller kleinerer Kisten, jede mit eigenem Aufkleber. Um herauszufinden, was diese Aufkleber bedeuten, müsste man sie vorsichtig eine nach der anderen auspacken und die Inhalte sorgfältig betrachten. Manche der Kisten enthalten weitere Kistchen, wieder mit einem Aufkleber. Bezeichnenderweise wird man in Aries, der maßgeblichen wissenschaftlichen Forschungszeitschrift zum Thema Esoterik, keine Definition des Begriffs finden – nur eine Liste mit Etiketten für all die kleinen Kisten, die in der großen Kiste enthalten sind:

Esoterik wird gemeinhin als Sammelbegriff für eine Reihe von historischen Strömungen verstanden. Dazu gehören unter anderem der Gnostizismus, der Hermetismus, die Theurgie, die islamische Lehre einer mystischen Buchstabenauslegung [„lettrism“], die „okkulten Wissenschaften“ (Magie, Alchemie, Astrologie), die Kabbala, der Paracelsismus, das Rosenkreuzertum, die Theosophie, der Illuminismus, der Spiritualismus und Okkultismus, Tantra und Yoga, die Parapsychologie, der Traditionalismus, der Neopaganismus, alternative Spiritualität, Konspiritualität, Okkultur usw.

Wichtig sind hier das „usw.“ und „unter anderem“: die Herausgeber/-innen des Aries sind sich sehr wohl bewusst, dass ihre Liste weder vollständig ist noch es jemals sein wird. Die Grenzen des Feldes lassen sich nämlich nicht genau definieren, sondern sind unscharf und auch unter Spezialistinnen und Spezialisten umstritten. Es ist klar, dass jedes dieser Etiketten wiederum sorgfältig erklärt werden müsste. Oder, um bei meiner Metapher zu bleiben: Man müsste den Inhalt jeder der kleinen Kisten, auf denen sie kleben, auspacken und inspizieren. Macht man sich diese Mühe, dann wiederholt sich das Spiel: Man findet nichts als Worte oder Etiketten. Die Astrologiekiste enthält keine Astrologie, und in der Rosenkreuzerkiste sind keine Rosenkreuzer! Um in irgendeiner Form Klarheit und Genauigkeit (eine Form von verlässlichem Wissen) darüber zu erlangen, was diese Terminologie abdeckt, muss man sich in jedem einzelnen Fall sehr gründlich mit den einzigen Realitäten auseinandersetzen, die wirklich da sind: Nicht Worte oder irgendeine schwer greifbare Wesenheit der Esoterik, sondern konkrete Menschen (Individuen oder Gemeinschaften), die bestimme Dinge tun und sagen. Und warum tun sie was sie tun, und sagen sie was sie sagen? Ganz einfach (wie das für uns alle gilt) weil ihre persönlichen Erfahrungen im Laufe ihres Lebens sie dazu geführt haben, gewisse Dinge als wahr und wichtig anzusehen, andere hingegen nicht.

Mein erster Punkt ist ganz einfach: Das Thema soll aus der Sphäre des Abstrakten auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Wer sich mit Esoterik beschäftigt, kommt leicht dazu anzunehmen, dass „sie“ etwas sei, das „dort draußen“ in der weiten Welt wirklich existiere. Tatsächlich aber ist Esoterik nur ein Etikett in unseren Köpfen. Das heißt jedoch nicht, dass der Begriff unbedeutend ist. Unsere kollektiven Gedankengebilde haben sehr wohl einen Einfluss auf die reale Welt: Glauben wir fest genug, dass etwas existiert, so wird „es“ real für uns. Das gilt nicht nur für die Ansichten jener, die einem esoterischen Weltbild anhängen, sondern auch für die Meinungen von Außenstehenden über Esoterik.

Erst zuhören, dann urteilen

Versucht man also herauszufinden, was es mit der sogenannten Esoterik eigentlich auf sich hat (indem man all die Kisten mit Bedacht und Geduld auspackt), so wird man stets auf ganz gewöhnliche Menschen und ihre Taten und Aussagen treffen. Wollen wir also Esoterik verstehen, müssen wir sie verstehen – was treibt sie an, was geht in ihnen vor? Wir müssen zuerst zuhören. Die größte Versuchung in der Esoterikforschung besteht darin, dass man ihre Vertreter/-innen oft gleich am Anfang schon kategorisiert und beurteilt (von verurteilen ganz zu schweigen), bevor man sich die Mühe gemacht hat, sie überhaupt zu verstehen.

Erlauben Sie mir, meine eigene Forschungsarbeit als Beispiel anzuführen: 1995 verteidigte ich meine Dissertation New Age Religion and Western Culture: Esotericism in the Mirror of Secular Thought [New Age Religion und Abendländische Kultur: Esoterik im Spiegel des säkularen Denkens] die ein Jahr darauf veröffentlicht wurde. Der Titel lässt erkennen, dass diese Arbeit einen Versuch darstellte, die populäre Esoterikform des New Age zu verstehen, indem sie deren Grundideen und ihre Herkunft analysierte. Die New-Age-Bewegung hatte seit den 1960ern und 70ern viel Beachtung gefunden und wurde dann vor allem in den 1980ern sehr beliebt und kommerziell attraktiv. Es gab nicht wenig wissenschaftliche Literatur zu New Age als sozialer Bewegung und einige Forschende äußerten Bedenken oder Sorgen mit Blick auf deren Konsequenzen auf sozialer und politischer Ebene. Aber peinlicherweise hatte absolut niemand es für nötig gehalten, herauszufinden, was die Anhängerschaft des New Age eigentlich dachte, welche Ideen sie hatte oder wie sie die Welt sah – was beispielsweise durch Lesen der zahllosen Bücher in den New-Age-Buchgeschäften klarer geworden wäre. Die Wissenschaft war ausgesprochen gut darin, ihren Leserinnen und Lesern darzulegen, was sie von New Age hielt, aber den Menschen in der Bewegung hatte sie kaum Beachtung geschenkt. Dass mein Buch der erste Versuch war, das zu tun, ist keine besondere Errungenschaft meinerseits; es zeigt aber deutlich, dass weder Forschende noch die breitere Öffentlichkeit großes Interesse daran hatten, Esoteriker/-innen und ihre Ideen überhaupt ernst zu nehmen.

Die moderne Forschung zur westlichen Esoterik als akademische Disziplin entwickelte sich ungefähr zur selben Zeit, Mitte der 1990er, und hatte das Ziel, etwas daran zu ändern. Das war durchaus von Erfolg gekrönt. Heute gibt es seriöse wissenschaftliche Zeitschriften wie Aries oder das online frei zugängliche Journal Correspondences. Es gibt akademische Buchreihen, die von renommierten Häusern wie Brill oder Oxford University Press verlegt werden. Es gibt eine aktive wissenschaftliche Gemeinschaft, die sich in der European Society for the Study of Western Esotericism (ESSWE, gegründet 2005) organisiert hat, alle zwei Jahre große Konferenzen ausrichtet und bemerkenswert viele kleinere Forschungsnetzwerke aufweist, die sich mit spezifischen Zeitabschnitten, kulturellen oder sprachlichen Regionen oder Themen beschäftigen. Konferenzen und Tagungen zu Esoterikthemen sind auf dem Feld der Religions- und Geisteswissenschaften völlig normal geworden; und an verschiedenen Universitäten, zuerst an der Universität Amsterdam im Jahr 1999, haben sich speziell auf Esoterik ausgelegte Studiengänge und -kurse entwickelt, die eine auf Esoterik spezialisierte Generation junger Forschender hervorgebracht haben.

Dieser Professionalisierungsprozess hat zur Folge, dass jene, die in anderen Kontexten als der Wissenschaft arbeiten, nun viel einfacher an zuverlässige und sachgerechte Informationen zu Esoterik gelangen als noch vor dreißig Jahren. Sieht man sich die Bücher und Veröffentlichungen auf dem allgemeinen Buchmarkt an, besteht kein Zweifel, dass sowohl Qualität als auch Quantität enorm zugenommen haben. Bis in die späten 1990er Jahre bestand der Buchmarkt zu Esoterik hauptsächlich aus meist unzuverlässigen Veröffentlichungen von nicht-akademischen, esoterischen Insidern oder Gegnern. Heute ist es leicht, an seriöse, gut recherchierte und durchdachte Informationen zu gelangen. Es gibt jedoch zugegebenermaßen immer noch eine stattliche Lücke zwischen den fundierten, wissenschaftlichen Werken aus der Spezialistenfeder und dem allgemeinen Lesepublikum, das für gewöhnlich den bequemen Weg wählt und zu Populärliteratur für den Massenmarkt greift.

Es ist vollkommen klar, dass Expertinnen und Experten in der politischen Bildung, in Schulen, der Sozialarbeit, dem Gesetzesvollzug oder anderen Bereichen ihren Arbeitstag nicht damit verbringen können, einen Kanon der wissenschaftlichen Esoterikliteratur zu erstellen; aber mir ist wichtig, dass Sie zumindest wissen, dass alles, was Sie brauchen, um sich mit Esoterik genauer zu beschäftigen, heute einfach zugänglich ist. Alles ist verfügbar und bereit zum Gebrauch, aber man muss kritisch und wählerisch sein. Das ist mein zweiter Punkt. Der Buchmarkt zu Esoterik ist leider immer noch überschwemmt mit wenig sachkundigen und unzuverlässigen Desinformationen; also machen Sie sich die Mühe und suchen Sie nach belastbaren und zuverlässigen Werken aus qualifizierter Hand. Es bleibt nur hinzuzufügen, dass die alle zwei Jahre stattfindenden ESSWE-Konferenzen nicht nur wissenschaftlichen Teilnehmenden offenstehen, sondern auch Menschen, die sich in anderen Kontexten mit Esoterik beschäftigen. Einige von Ihnen arbeiten vielleicht in Berufen (zum Beispiel im Gesetzesvollzug), in denen Ihre Annahmen und Ihr Wissen zu Bereichen wie Esoterik teils sehr ernste Folgen für das Leben echter Menschen haben kann. Deshalb bitte ich Sie, Ihre Annahmen auf der Basis von zuverlässigen Informationen zu treffen und nicht aufgrund der zahlreichen fragwürdigen Stereotypen und Fehlwahrnehmungen, die noch immer unsere Gesellschaft und die populären Medien beherrschen.

Verschmähtes Wissen

Das bringt mich zu einem dritten, in meinen Augen essenziellen Punkt. Die Erklärung wird etwas umfangreicher ausfallen, uns gleichzeitig aber zu einem besseren Verständnis von Esoterik führen. Zu Beginn habe ich erklärt, das Wort sei nur ein Etikett und nichts, was es „da draußen wirklich gibt“. Ich fand es ungemein wichtig, Ihnen klar zu machen, dass es keine versteckte Essenz der Esoterik gibt oder eine Checkliste mit klaren Kriterien dafür, was esoterisch ist. Wenn Sie aber meine Ausführungen dazu gelesen haben, hat sich Ihnen eine Frage sicher geradezu aufgedrängt: „Wenn das stimmt, was rechtfertigt dann überhaupt die Verwendung des Etiketts ‚Esoterik‘? Wir packen alle diese heterogenen Bewegungen, Ideen, Persönlichkeiten, Praktiken oder Überzeugungen in eine begriffliche Kiste und kleben das Etikett ‚Esoterik‘ darauf, da müssen sie ja wohl irgendetwas gemeinsam haben?“ Und das haben sie auch!

Aber wie ist das möglich? Habe ich Ihnen nicht gerade das Gegenteil erklärt? Nun ist folgender Punkt für das Verständnis wesentlich: Die Gemeinsamkeiten von „allem Esoterischen“ ergeben sich nur in geringem Maße aus den eigentlichen Charakteristika dessen, was sich in der Kiste befindet. Sie ergeben sich jedoch in großem Maße aus den Gründen, aus denen wir sie überhaupt in eine besondere Kiste packen. Mit anderen Worten: Diese Gemeinsamkeiten existieren vor allem in unseren Köpfen. Wir haben das Gefühl, dass „dieser ganze Kram“ irgendwie zusammenhängt, obwohl es uns schwerfällt, uns selbst oder anderen zu erklären weshalb. Das also ist mein dritter Punkt: Dieses Etikett gibt Auskunft über uns.

Mit diesem „uns“ meine ich nun nicht Sie und mich im Besonderen. Ich meine damit einen breiten Konsens, der ganz typisch ist für unsere moderne westliche kulturelle, gesellschaftliche und intellektuelle Mehrheitsmeinung. Dieser Konsens hat tiefe geschichtliche Wurzeln, denn er hat sich seit Beginn unserer Zeitrechnung über etliche Jahrhunderte hinweg entwickelt. Es mag uns gefallen oder nicht, es mag uns bewusst sein oder auch nicht, aber wer in der westeuropäischen oder nordamerikanischen Kultur geboren, aufgezogen und ausgebildet wurde, wird unweigerlich von fast allen der grundlegenden Ideen, Muster und Annahmen – inklusive deren Schattenseiten und tiefsitzenden Vorurteilen – beeinflusst, die typisch sind für die lange und komplexe kulturelle und intellektuelle Geschichte „des Westens“. Das bringt mich zum folgenden Punkt, auf den ich gesondert aufmerksam machen möchte:

Unsere ganze Vorstellung einer kulturellen Identität des Westens wurde über Jahrhunderte auf Mustern der Kritik und polemischen Ablehnung einer Reihe von Weltanschauungen, intellektuellen Traditionen oder spirituellen Praktiken errichtet, die als inkompatibel mit den Grundwerten und -annahmen der westlichen Zivilisation wahrgenommen und so weitergetragen wurden.

Das ist der Grund, warum „wir“ alles in eine Kiste stecken. Diese Kiste ist gefüllt mit einer Vielfalt an Dingen, bei denen „wir“ über lange Zeiträume hinweg stets beschlossen haben, dass wir sie nicht akzeptieren oder ernst nehmen wollen – mit anderen Worten, es ist eine Kiste voll mit verschmähtem Wissen. Das ist die eigentliche Bedeutung des Etiketts Esoterik.

Ihre erste Reaktion könnte nun sein: „Na gut, dann sagen Sie uns doch bitte nun genau, welche Art Wissen das ist, damit wir endlich verstehen, worum es in der ‚Esoterik‘ geht!“ So einfach ist das aber nicht, um es vorsichtig auszudrücken. Warum? Um wirklich zu verstehen, worum sich die Forschung der Esoterik dreht, müssen Sie hinterfragen, auf welchem Boden Sie stehen oder welche Luft Sie atmen! Soll heißen: Die Grundfesten unserer Überzeugungen und Weltanschauungen, die wir alle als Teil unserer Bildung und unserer Sozialisierung in der westlichen Gesellschaft erlernt haben. Statt die grundlegendsten Annahmen (so funktioniert die Welt, das ist wahr und das ist falsch, das ist gut und das ist schlecht, das ist „seriös“ und das nicht) als selbstverständlich anzusehen, müssen Sie bereit sein, ein paar Schritte Abstand zu schaffen und Ihre Kernüberzeugungen und Weltansicht mit größerem kritischen Abstand als gewöhnlich zu betrachten.

Ich kann diesen Punkt gar nicht genug unterstreichen, so radikal er auch sein mag: Wenn Sie auch nur in Grundzügen verstehen wollen, worum es bei Esoterik geht, müssen Sie zumindest die Möglichkeit miteinbeziehen, dass einige Ihrer sich selbsterklärenden Ansichten vielleicht gar nicht so offenkundig wahr sind. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Alle menschlichen Ideen entspringen der Geschichte und alles in der Geschichte hätte genauso gut ganz anders passieren können als es sich zugetragen hat. Wir alle halten tagtäglich viele Dinge für selbstverständlich, schlicht weil wir aus einer gewissen Kultur und intellektuellen Tradition kommen, die uns sagt, dass manches natürlich richtig ist und gleichzeitig alles, was mit diesen Überzeugungen in Konflikt steht, als natürlich falsch festlegt – und das dementsprechend in die Kiste mit „verschmähtem Wissen“ gehört.

Um diesen Punkt zu untermauern, möchte ich Ihnen zwei Beispiele aus der Geschichte aufzeigen. Sie fragen sich womöglich gleich, was das mit Esoterik zu tun hat, aber haben Sie etwas Geduld. Sie werden sehen, die Verbindung ist da.

  • Erstes Beispiel. An einem Tag ungefähr 450 Jahre vor der Geburt Christi heirateten in Athen zwei junge Menschen aus vornehmen Familien. Die Braut hieß Periktione und ihr Bräutigam war Ariston. Diese Namen sind Ihnen wahrscheinlich unbekannt. Der Name ihres Sprösslings jedoch dürfte bekannt sein: Platon! Nun stellen Sie sich einmal kurz vor, was passiert wäre, hätten sich Periktione und Ariston niemals kennengelernt – aus irgendeinem Grund heirateten sie jemand anderen, eine/-r der beiden wird krank und stirbt vor der Hochzeit oder ein anderer Zufall ereignet sich. Zahllose kleine Umstände in ihren Leben hätten dazu führen können, dass Platon niemals geboren worden wäre. Ich kann Ihnen aber versichern, wenn dieser Mann nicht vor zweieinhalbtausend Jahren geboren worden wäre, so säßen wir sicherlich nicht hier und diskutierten über Esoterik. Warum? Weil es unmöglich ist, sich auch nur vorzustellen, welche Richtung die Entwicklung der Welt ohne Platons Schriften eingeschlagen hätte. Denken Sie darüber nach. Es gäbe die griechische Philosophie, das Fundament der sogenannten westlichen Geistesgeschichte, nicht. Es wäre den Jüngern Jesu unmöglich gewesen, das zu entwickeln, was wir heute als christliche Theologie kennen, denn so viele der grundlegenden Annahmen, die das europäische Geistesleben bestimmt haben, finden ihre Grundlage nicht etwa in der Bibel, sondern in der Philosophie des Platonismus und seiner Nachfolger. Auch die arabische Philosophie aus der islamischen Welt gäbe es nicht, was im Gegenzug hieße, dass auch die Wissenskultur des christlichen Spätmittelalters nicht vorhanden wäre, die den arabischen Gelehrten vieles verdankt. Es hätte niemals eine Renaissance gegeben, denn sie hing ganz entscheidend von der Wiedergeburt des Platonismus im fünfzehnten Jahrhundert ab. So könnte ich noch endlos weitermachen. Zusammenfassend: Hätten Periktione und Ariston nicht geheiratet, und wäre so Platon nicht geboren worden, wäre beinahe nichts so geschehen, wie es geschehen ist. Wir könnten uns die heutige Welt kaum vorstellen. Und zu guter Letzt: Viele der Gedanken, die wir als esoterisch ansehen, haben ihre Wurzeln tatsächlich im Platonismus. Kein Platon, keine Esoterik.

  • Zweites Beispiel. Wären Sie im vierten Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung geboren, so hätten Sie vielleicht im Jahr 363 n. u. Z. die Schlacht von Maranga im heutigen Irak miterlebt. Am frühen Morgen des 26. Juni 363 griff überraschend der Feind an, und der römische Kaiser Julian (331–363 n. u. Z.), hastete aus seinem Zelt. Nun war zu diesem Zeitpunkt ein kleines Lederband an seinem Brustpanzer abgerissen und es fehlte die Zeit, es zu reparieren. Wahrscheinlich aufgrund der schlechtsitzenden Rüstung starb Julian – und zwar durch einen Speer, der eigentlich an seinem Brustpanzer abgeprallt wäre. Sein Tod bereitete den drei Jahren ein jähes Ende (361–363 n. u. Z.), in denen er versucht hatte, die Christianisierung des Römischen Reiches zu unterbinden und die Menschen zurück zum Heidentum zu führen. Wir werden nie erfahren, was passiert wäre, wenn dieses kleine Lederband nicht gerissen oder rechtzeitig genäht worden wäre. Tatsache ist, dass Julian, im Herzen zwar Philosoph, ein bemerkenswert tatkräftiger Kaiser war. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass ihm die Repaganisierung gelungen und so die Verbreitung des Christentums aufgehalten worden wäre. Wäre das geschehen, dann säßen wir ebenfalls nicht hier und würden über Esoterik diskutieren! Statt Konstantin „den Großen“ in den Geschichtsbüchern zu finden, würden wir uns vielleicht an Julian „den Großen“ erinnern – der weltbekannte Kaiser, der diese seltsame, nun in Vergessenheit geratene Religionsströmung des „Christentums“ aufgehalten hatte und unsere Kultur auf den rechten Weg zurückführte

Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichten? Wozu dient das? Erstens möchte ich Sie überzeugen, dass viele unserer fundamentalen Ansichten, Überzeugungen und Werte, die sie wahrscheinlich tagtäglich für selbstverständlich halten, es ganz und gar nicht sind. Sie sind letztlich nichts anderes als zufällige Produkte spezifischer historischer Entwicklungen, die zwar auf eine gewisse Weise passiert sind, aber genauso gut auch eine völlig andere Richtung hätten nehmen können. Zweitens können wir das, was wir heute Esoterik nennen, nur von diesem Standpunkt aus verstehen.

Mit anderen Worten: Man kann Esoterik nicht greifen, ohne den weiteren Kontext zu betrachten – die Geschichte der westlichen Kultur selbst. Auf simpelster Ebene enthält die Kiste mit diesem Aufkleber mehr oder minder alles, was Sie (und wir alle) gelernt haben, als „anders“, „komisch“, „problematisch“, „fragwürdig“ und sogar „gefährlich“ wahrzunehmen, und zwar weil es nicht in die vorherrschenden, mehrheitlich akzeptierten intellektuellen Muster passt, auf denen unsere gesamte Gesellschaft beruht. Man kann auch sagen: Unsere Wahrnehmung von Esoterik ist das Ergebnis eines langen Prozesses polemischer Ablehnung, in dem „wir“ „unsere“ „westliche“ Identität gegen alles abgegrenzt und verteidigt haben, was „wir“ als inkompatibel mit unseren Vorstellungen davon, wer wir sind oder wer wir sein wollen, zurückgewiesen haben. Es ist unmöglich, diese geschichtlichen Entwicklungen in einem einzigen Aufsatz auch nur grob zu umreißen; wenn Sie also mehr wissen wollen, muss ich auf eine monographische Darstellung verweisen. Ich kann allein in Anfängen skizzieren, warum unsere Vorstellungen von Esoterik nur klarer werden, wenn wir sie als Teil eines andauernden Konflikts sehen, der sich über Jahrtausende hinweg zwischen den grundlegendsten Bestandteilen der westlichen Kultur abspielt.

Interner Eurozentrismus

Der erste dieser Bestandteile kann als heidnisch-hellenistisch bezeichnet werden. Es entwickelte sich seit dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als Ergebnis der spektakulären Eroberungen Alexanders des Großen. Dabei kamen zahlreiche der großen Zivilisationen der Antike und ihre immens vielfältigen religiösen und intellektuellen Kulturen in Berührung mit griechischer oder „hellenischer“ Kultur – ein Prozess, der noch zur Zeit des Römischen Reichs andauerte. Der zweite Bestandteil besteht aus den großen abrahamischen Religionen, die auf einer radikalen oder exklusiven Form des Monotheismus gründen: das Judentum, das Christentum und (sehr wohl!) der Islam. Das Judentum verbreitete sich vor und nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 im gesamten Römischen Reich – dieser Prozess wird bekanntlich als jüdische Diaspora bezeichnet. Das Christentum wurde zur vorherrschenden Religion im Römischen Reich und seinen Nachfolgern, dem Byzantinischen Reich im Osten und der römisch-katholischen Kirche im Westen. Der Islam schließlich bot dazu einen Gegenentwurf und wurde zur Hauptglaubensrichtung eines immensen Gebiets, das wir letztlich als Osmanisches Reich kennen. Zu beachten ist, dass die populäre Vorstellung des Islams als „Feind des Westens“ (selbstredend häufig in konservativen und rechten Kreisen propagiert) eigentlich schlicht auf traditionellen, christlichen Vorurteilen fußt. Aus kultur- und ideengeschichtlicher Perspektive darf der Islam nicht als eine Art „Außenseiter“, sondern muss als integraler und essenzieller Bestandteil der „westlichen Kultur“ wahrgenommen werden.

Mir ist natürlich klar, dass diese Denkweise viele gängige Haltungen zum Islam, dem Orient und so weiter konterkariert, doch genau darum geht es mir: Ich möchte, dass Sie diese Annahmen hinterfragen. Die abrahamischen oder radikal-monotheistischen Religionen definierten ihren Wesenskern stets gegen die „heidnischen“ Bräuche der sie umgebenden Kulturen. Judentum, Christentum und Islam waren sich in einer Sache sehr einig – und zwar in ihrer radikalen Ablehnung der für sie inakzeptablen „heidnischen Götzenverehrung“. Das Problem war jedoch, dass eine durchgängige Ablehnung der hellenischen „Heidenkultur“ für die monotheistischen Religionen in der Praxis schlicht nicht möglich war. Der große Einfluss und die intellektuelle Überlegenheit des Platonismus, Neo-Platonismus, Aristotelismus und weiterer „heidnischer“ Philosophiesysteme bedeutete, dass sie für die christliche Theologie ebenso wie für die religiöse, philosophische und wissenschaftliche Entwicklung der islamischen Welt unentbehrlich waren. Heute nehmen wir oft an, dass alle Werke der griechisch-hellenischen Philosophieliteratur, angefangen bei Platon höchstselbst, nur streng „rationale“ oder „wissenschaftliche“ Spekulationen enthalten. Entgegen dieser Annahme entdeckt man bei genauer Betrachtung aber auch eine Fülle von religiösen und spirituellen Überlegungen darin. Es war nicht möglich, nur die „rationalen“ oder „wissenschaftlichen“ Teile der griechischen Wissenskultur zu behalten und den Rest zu entsorgen, denn alles war eng miteinander verknüpft.

Das ist es nun aber genau, was die christlichen Intellektuellen versuchten. Man könnte sagen, dass sie im Grunde die „heidnisch-hellenistische“ Tradition in zwei Lager teilten. Die komplexe Entwicklung der „westlichen Kultur“ von der Antike bis in die Gegenwart basiert so auf der sehr unbequemen, aber unvermeidlichen Koexistenz von nicht zwei, sondern drei Kulturkomponenten, jede mit ihrer eigenen inhärenten Logik und Dynamik. Den ersten Teil bildet der exklusive Monotheismus der abrahamischen Religionen, der sich aus den Büchern Mose, dem Alten und Neuen Testament sowie dem Koran speist. An zweiter Stelle stehen die als seriös wahrgenommenen „heidnischen“ Traditionen des griechischen Rationalismus und der Wissenschaft. An dritter Stelle folgt dann „der ganze Rest“ oder „das Übriggebliebene“ – sprich alles, was nicht einfach in die sorgsam gepackten Kisten „Monotheismus gemäß den Schriften“ oder „Wissenschaft und Rationalismus“ passte. Sie haben es erraten: Wir sind nun am Entstehungspunkt unserer Reliktkiste: das „verschmähte Wissen“, das wir heute meist als Esoterik bezeichnen.

(© Wouter J. Hanegraaff)

Ich möchte darauf hinaus, dass das Standard-Schulbuch, das der Großteil von uns in der Hand hatte, uns glauben machen will, dass die westliche Kultur im Kern auf die ersten beiden Elemente reduziert werden kann: Religion (sprich: Monotheismus) und Wissenschaft und Vernunft (sprich: die Griechen). Der „Rest“ ist nicht ernst zu nehmen. Hinzu kommt, dass uns seit der Reformation und der Aufklärung häufig ein noch reduzierteres Bild präsentiert wird, aus dem der Islam entfernt wurde. Damit entsteht die populäre, aber hochproblematische Auffassung, dass eine „jüdisch-christliche Tradition“ (Monotheismus minus Islam) der Wissenschaft und Vernunft gegenübersteht.

(© Wouter J. Hanegraaff)

Was sich hier abzeichnet, ist nichts weniger als die tiefgehend eurozentrische oder (um einen hässlichen Neologismus zu bemühen) westzentrische Ideologie der Überlegenheit des Christentums und des Rational-Wissenschaftlichen – im obigen Bild ist alles oberhalb der Trennlinie „gut“, während alles unterhalb „schlecht“ ist. Seit Beginn der Neuzeit hat diese normative Ideologie unser Bildungssystem und unsere sozialen Institutionen durchdrungen und folglich wurden wir alle von ihr beeinflusst.

Ich hoffe, Ihnen wird klar worauf ich hinaus will. Seit der frühen Neuzeit ist die eurozentrische Version der westlichen Überlegenheit ein wichtiges Werkzeug der imperialistisch-kolonialistischen Anstrengungen, christliches und rational-wissenschaftliches Gedankengut in den Rest der Welt hinauszutragen und es nicht-westlichen Menschen und Kulturen aufzuzwingen. Die normativen Ideologien, die die Eroberung und Herrschaft im Kolonialismus zu legitimieren versuchten, wurden in den letzten Jahrzehnten überaus scharf kritisiert – und das völlig zu Recht. Doch trotz der offensichtlichen Bedeutung dieser politischen Debatten übersehen sogar die lautesten Stimmen der postkolonialen Kritik am „Westen“ etwas Entscheidendes, und zwar, dass die Wurzeln der eurozentrischen Ideologie westlicher Überlegenheit viel älter sind. Sie beruhen auf einer stetigen und systematischen Anstrengung, viel mehr als nur externe Andersartigkeit wie den Islam, Indien und andere nicht-europäische oder nicht-nordamerikanische Kulturen zu marginalisieren, auszuschließen und zu diskreditieren.

Entstanden in und weiterentwickelt seit der Spätantike, zielt diese Anstrengung auch auf jedwede interne Andersartigkeit, die mit dem „Heidentum“ und der „Götzenverehrung“ verknüpft und häufig hochdramatisiert als existenzielle, „dämonische“ Bedrohung dargestellt wurde. Letztlich wurden all diese Formen des „verschmähten Wissens“ in eine Art Konzeptpapierkorb oder eine Reliktkiste verschoben, die heute von weiten Teilen der Öffentlichkeit mit größtenteils abschätzigen Bezeichnungen wie Esoterik, „Magie“, „Aberglaube“, „Irrationalität“ oder „Okkultismus“ versehen wird. Kurzum: Das „komische Zeug“, das wir nur schwer kategorisieren können. „Wir“ haben diese Kiste angelegt, weil es diese Bräuche und Vorstellungen nun einmal gibt und schon immer in unseren Teilen der Welt und unserer Geschichte gab, wir uns von ihrer Gegenwart aber immer noch beunruhigt sehen und nicht wissen, was genau sie bedeuten oder wie wir mit ihnen umgehen sollen. Unsere große Verwirrung angesichts dieses gesamten Gebiets hat dazu geführt, dass wir überhaupt Diskussionen über Esoterik führen. Daraus ergibt sich, dass all diese Ausformungen des Eurozentrismus, die sich gegen nicht-westliche Kulturen richten (dazu gehört natürlich auch der komplette Diskurs über den „Orientalismus“), einem viel breiteren, älteren und tiefgreifenderen „großen polemischen Narrativ“ entspringen. Dieses basiert auf der diskursiven Dynamik zwischen einem internen Eurozentrismus und einer abgelehnten Andersartigkeit innerhalb der westlichen Kultur selbst.

Das ist meine Antwort auf die anfangs gestellte Frage: „Was ist Esoterik?“ Es mag nicht die Antwort sein, die Sie erwartet hatten, ich finde jedoch, dass Sie eine ernsthafte Antwort und keine einfache, aber oberflächliche Lösung verdienen. Es ergeben sich einige weitreichende Folgen:

  • Zuerst und nach den eben erfolgten Ausführungen vielleicht recht offensichtlich: Man kann Esoterik nicht umfänglich verstehen, ohne die versteckten oder expliziten Ideologien westlicher Überlegenheit zu hinterfragen, die das gesamte Projekt Neuzeit definieren, zu dem auch die imperialistische Expansion und die Kolonialisierungsbemühungen der restlichen Welt gehören. Wenn Sie daran Zweifel hegen, denken Sie nur einmal an die beliebte Annahme, dass „wir bei uns hier“ die Wissenschaft haben, während „die da drüben“ nichts als primitive Magie vorweisen können.

  • Eine zweite Folge: All das „komische Zeug“, das wir bisher in die Esoterikkiste gestopft haben, damit es schön getrennt bleibt von allem, was wir als reine „westliche Kultur“ wahrnehmen, muss nun wieder aus dieser Kiste herausgeholt werden. Alles muss ernsthaft und vorurteilslos studiert werden, wie jede andere Facette der westlichen Kultur. Dann muss es zurücksortiert werden an seinen rechtmäßigen Platz in unserem Narrativ der komplexen Geschichte, die sich seit zweieinhalbtausend Jahren in unseren Teilen der Welt abspielt. Das ist der Kern dessen, worum es in der wissenschaftlichen Esoterikforschung geht.

  • Nehmen wir dieses Vorhaben ernst, ist eine dritte Folge, dass wir nicht länger so über „westliche Kultur“ denken können, wie wir es bisher getan haben. Unsere traditionellen Erzählungen oder Metanarrative über „den Westen“ müssen entlarvt werden als das was sie sind und schon immer waren: ideologische Fiktionen. Die altbekannten triumphalistischen Geschichten über die westliche Überlegenheit müssen von völlig anderen, aber – hoffentlich – genaueren und gerechteren historischen Narrativen der „westlichen Kultur“ ersetzt werden.

Kritische Theorie und unkritische Fantasien

Sie sehen also, dass ich die eurozentrischen Ideologien scharf kritisiere. Sie zeichnen ein beschränktes Bild von der angeblichen Überlegenheit der westlichen Kultur, indem sie die „griechische“ Rationalität und die „monotheistische“ (oder vielmehr „jüdisch-christliche“) Moral allem angeblich „Irrationalen“ und „Unmoralischen“ gegenüberstellt, das mit „Heidentum“, „Götzenverehrung“, „Magie“, „Aberglaube“, „dem Okkulten“ oder der „Unvernunft“ verbunden ist – kurzum, allem, was zuvor in die „Esoterikkiste“ gesteckt wurde. Die moderne Esoterikforschung hat immer wieder gezeigt, dass solch krude Polemik schlicht falsch ist. Sobald man die Stereotypen hinter sich lässt und genauer hinschaut, entdeckt man, dass eine saubere Trennlinie zwischen Esoterik und der akzeptierten Mainstream-Kultur unmöglich gezogen werden kann – vor allem nicht anhand so simpler Maßstäbe wie „Wissenschaft“, „Vernunft“, „Religion“ oder „Moral“. Unvernunft, Unmoral und schlichte Dummheit gibt es auf beiden Seiten dieser Linie (also über und unter dem Trennstrich der vorigen Abbildung) zuhauf. Umgekehrt findet sich natürlich auch viel Vernünftiges, Moralisches und Intelligentes auf beiden Seiten.

Trotzdem bleiben etliche Ausformungen und Variationen von Theodor W. Adornos berüchtigter These, Okkultismus [sei] die Metaphysik der dummen Kerle in der allgemeinen Gesellschaft und den Medien sehr beliebt, vor allem in Deutschland. Hier muss ich überdeutlich werden: Dieses Zitat ist eine ganz typische Version des Standardmusters des internen eurozentrischen Vorurteils, das ich oben beschrieben habe. Der Einfluss der sogenannten Kritischen Theorie, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit der Frankfurter Schule verbunden wurde, hat besonders im deutschsprachigen Raum eine mächtige, in meinen Augen aber auch sehr fragwürdige und größtenteils negative Rolle darin gespielt, bereits den Versuch, Esoterik als seriösen Gegenstand kritischer historischer Forschung zu etablieren, zu delegitimieren, zu diskreditieren und schon als Vorhaben verdächtig erscheinen zu lassen. Meine eigene Erfahrung als Wissenschaftler zeugt davon, dass die Esoterikforschung in ihren Anfängen in den 1990ern größtenteils entgegen der gängigen Vorurteile der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule aufgebaut, etabliert und professionalisiert werden musste. Ich muss also ein paar Worte darüber verlieren.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihr berühmtes Werk Dialektik der Aufklärung (1944). Das erste Kapitel zum „Begriff der Aufklärung“ ist geprägt von Max Webers Konzept der Entzauberung der Welt und basiert auf einer absolut extremen Form der bekannten Stereotypen „Vernunft gegen Magie“, die ich hier diskutiere und kritisiere: „Magie gegen Vernunft“, „Mythos gegen Logos“, „Heidentum gegen Monotheismus“ und dergleichen. Die Dialektik der Aufklärung gilt als Klassiker, deshalb bleibt es ein vielgelesenes Werk und findet sich regelmäßig im Literaturkanon für junge Generationen von Studierenden.

Liest man das Werk allerdings aus der Perspektive der modernen kritischen Forschung in den Bereichen Magie, Entzauberung oder westliche Esoterik, erscheinen sogar seine grundlegenden Annahmen und Argumente so dermaßen veraltet, dass man sie schlicht nicht mehr ernst nehmen kann. Jason Ā. Josephson Storms Aussage ist so milde wie nur möglich formuliert: Der Inhalt ist kaum mehr als „eine späte Ausformulierung alter Mythen“.

Ein anderer marxistischer Philosoph, Georg Lukács, veröffentlichte zehn Jahre später sein Buch Die Zerstörung der Vernunft (1955), das auf einer ganz ähnlichen Hintergrundlogik mit weitreichenden politischen Folgen basiert. Das Werk nimmt eine einfache Gegenüberstellung zur Grundlage: Auf der einen Seite skizziert Lukács eine positive, gesunde und fortschrittliche Wissenstradition mit Wurzeln in der Vernunft. Diese beginnt bei Hegel und führt über Marx zum zukünftigen Ideal der klassenlosen Gesellschaft. Den krassen Gegensatz bildet dazu die ausschließlich negative, ungesunde und reaktionäre Tradition der Unvernunft, die von Schelling über Nietzsche direkt zu Hitler führt.

Lukács’ Gedanke besagt nicht nur, dass der Marxismus rational und der Faschismus irrational seien. Seine Absichten waren weitaus radikaler: Er nahm an, dass der Fortschritt der „Vernunft“ nur zum Marxismus führen konnte, während „Unvernunft“ in all ihren Formen (philosophischer oder esoterischer Natur) unweigerlich zum Faschismus und Antisemitismus führen würde. Wieder ist das fundamentale Argument – trotz Lukács’ unbestreitbarer Belesenheit – kaum mehr als politische Propaganda, deren Kern die eurozentrische Ideologie der westlichen Überlegenheit bildet. Es begegnet uns wieder dasselbe Narrativ: Die wahre Moral kommt aus dem Judentum und Christentum und die wahre Vernunft und Wissenschaft von den Griechen. Diese beiden Kerntraditionen der westlichen Kultur stehen dann ihrer ewigen (und mutmaßlich nicht wirklich westlichen, daher „orientalischen“) Widersacherin gegenüber, dem Ursprung aller Irrationalität und Unmoral: dem Heidentum, der Magie, dem Okkultismus, der Unvernunft – kurz gesagt: der Esoterik. Sollten immer noch Zweifel daran bestehen, wie furchtbar all diese Dinge sind, erklärt Lukács, dass diese „Genealogie der Dunkelheit“ letztlich zum absoluten Schrecken des Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus führt.

Klare, rationale Argumente für diese Pauschaldämonisierung der „Irrationalität“ (also Mythos, Magie, Heidentum, das Okkulte und Esoterik) sucht man vergebens. Das Fundament der politischen Ideologie Lukács‘ wird schlicht als unbestreitbar behauptet. Nach den Schrecken der Shoah war es leicht verständlich, dass solch dramatische Folgerungen im Sinne einer reductio a hitlerum („es führt alles zu Hitler“) das damalige Bewusstsein stark beeinflussten. Die feine Ironie daran: Für viele waren diese Argumente genau deshalb so überzeugend, weil sie die tiefsitzenden, eurozentrischen Vorstellungen der westlichen Überlegenheit noch einmal bestätigten. Dadurch wurde diese Argumentation leicht verdaulich und sie hat bis heute die populäre und mediale Wahrnehmung der Esoterik maßgeblich geprägt. Es gab noch keine ernstzunehmende Forschungstradition, die sich historisch-kritisch mit dem tatsächlichen Studium der Esoterik und des Okkultismus beschäftigte, und so gab es auch keine Forschungsgemeinde mit genug faktenbasiertem Wissen und intellektueller Autorität – oder genug Mut –, um diese Positionen anzufechten. Denn wer es wagte, das vorherrschende Narrativ zu hinterfragen, riskierte es, als „Apologet“ von fragwürdigen, düsteren und sogar gefährlichen „irrationalen“ Traditionen wahrgenommen und verurteilt zu werden.

Noch beklagenswerter (und wirkmächtiger als die Kritische Theorie) ist die Tatsache, dass diese einfache Verknüpfung von Faschismus, Nazismus und Antisemitismus mit Esoterik, Magie und Okkultismus sich seit den 1960ern zu einem überaus erfolgreichen Genre für populäre Verschwörungserzählungen entwickelt hat. Man findet hier die effekthascherische Fantasie, dass Hitler und die Nazis eigentlich Okkultisten waren Mitglieder eines unheilvollen Geheimbunds, der sich mit schwarzer Magie beschäftigte und von dämonischen Kräften getrieben wurde. Nichts davon ist historisch belegt, wurde jedoch durch den französischen Mega-Bestseller Le Matin des Magiciens (Der Morgen der Magier), 1960 herausgegeben von Louis Pauwels und Jacques Bergier, einem breiten internationalen Publikum verkauft. Daraus entwickelte sich eine unendliche Flut weiterer Verschwörungserzählungen, die sich bis in die Popkultur der Gegenwart halten – in Form von Romanen, Comics, Filmen, Videospielen und Internetinhalten. Im allgemeinen Bewusstsein entsteht als Konsequenz ein schwer fassbarer, aber hartnäckiger Nebel aus Sensationsgier. Dieser umschließt unbekannte, aber zweifelsfrei düstere esoterische (geheime!) oder okkulte (versteckte!) Organisationen, die angeblich im Hintergrund wirken und ihre Finger bei solch schrecklichen Übeln wie Satanismus und Nazismus im Spiel haben. In diesem Falle geht es zwar „nur um Fiktion“, aber genau daraus erwächst die Anziehungskraft – die spannende, unterschwellige Vermutung „Irgendetwas muss ja dran sein …“.

Leider erhält dieser Argwohn ein gewisses Maß an Plausibilität und Legitimität von genau den vorherrschenden intellektuellen Traditionen, die ich hier kritisiere. Das zeigt sich auch in der Tatsache, dass ähnliche ideologisch befeuerte Muster der Desinformation zu Esoterik sich nicht nur in den Massenmedien finden, sondern auch in den Werken einflussreicher Universitätsprofessorinnen und -professoren, die sich als Expertinnen und Experten gerieren, aber selten die Forschung kennen oder sich die Mühe machen, sich einzulesen. Das einzig wirksame Gegenmittel gegen all diese Verwirrung um Esoterik ist wie so oft genaue, sachliche Information, die auf seriöser, unparteiischer, kritischer und historisch genauer Forschung beruht. So möchte ich Sie noch einmal dazu einladen, sich mit der Fülle heute verfügbarer kritischer Literatur zu beschäftigen.

Rechte Esoterik

Meine Überlegungen laufen natürlich nicht darauf hinaus, dass der Zusammenhang zwischen Esoterik und Demokratie völlig problemfrei ist. Damit komme ich zu meinem fünften Punkt: Es ist wichtig, genau zu sein – nicht alles über einen Kamm scheren, sondern präzise und sorgfältig unterscheiden. In einer liberalen Demokratie und einer offenen Gesellschaft mit dem Grundwert der Religionsfreiheit gibt es keinen Grund, warum die Gegenwart von esoterischen Bewegungen oder Vorstellungen als Problem wahrgenommen werden sollte. Das eigentliche Problem ist das weit verbreitete Unwissen über Esoterik und die dazugehörige Geschichte. Das Gegenmittel hierfür sind zuverlässige Informationen aus legitimer Forschung. Die erste Lehre aus der Esoterikforschung ist also, keinen Generalisierungen anheimzufallen und jede Forschungsfrage stets auf spezifische esoterische Trends, Bewegungen oder Organisationen zuzuschneiden.

Geschichte und Soziologie zeigen, dass viele der Phänomene unter dem Dachbegriff Esoterik kaum mit politischen Fragen zu tun haben. Andere wurden seit dem 18. Jahrhundert mit linkem, sozialistischem und progressivem Gedankengut in Verbindung gebracht. Es gibt beispielsweise einen geschichtlich erwiesenen Zusammenhang zwischen Esoterik und Sozialismus im 19. Jahrhundert und viele Formen der derzeitigen Esoterik hatten Anteil an fortschrittlichen Entwicklungen wie der Emanzipation der Frau, dem Frauenwahlrecht, Tierversuchsverboten, Genderreformen, sexueller Befreiung und Anti-Kolonialismus. Es ist bedeutend, dass die einflussreichste neuzeitliche Esoterikbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Theosophie, ein weltweites Sozialreformprogramm forderte, das den Grundstein für die „universelle Bruderschaft der Menschheit, ohne Unterscheidung nach Rasse, Glauben, Geschlecht, Kaste oder Hautfarbe“ legen sollte. Dass das nicht nur schnöde Theorie war, belegten die vielen Frauen und südasiatischen Theosophie-Anhängerinnen und -Anhängern in den Veröffentlichungen und auf oberster Ebene der Organisation. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich der Großteil der esoterischen Phänomene, die in der seit den 60ern beginnenden Gegenkultur aufblühten, entschieden nach links und unterstützte progressive Ideen. Davon zeugten die Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung, der sexuellen Befreiung oder die Opposition gegen den Vietnamkrieg und andere Ausformungen des westlichen Imperialismus.

Im zeitgenössischen Kontext gibt es selbstverständlich eine ganze Reihe esoterischer Trends, die zweifellos problematisch sind, weil sie die grundlegenden Werte einer liberalen Demokratie ablehnen. Die Esoterik hat ihre Grundüberlegungen aus dem „verschmähten Wissen“ des Westens und hat so schon immer ein großes Potenzial für gegenkulturelle Kritik am Status Quo. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert schlugen sich viele esoterische Strömungen auf die Seite der Aufklärung und anderer progressiver sozialer Gegenvorschläge zum noch mächtigen Einfluss der Kirche und des christlichen Dogmatismus. Als sich jedoch abzeichnete, dass dieses Duell zugunsten der Moderne und der Säkularisierung (oder „Vernunft und Wissenschaft“) ausgehen würde, war es einfach für das Lager, das durch die „Entzauberung“ die Welt ihrer spirituellen Bedeutung geraubt sah, in der Esoterik ein attraktives Angebot für nicht- oder anti-moderne Ideen und Traditionen zu finden. So entstand ein Nährboden, der dann auch tatsächlich diverse Formen mehr oder weniger konservativer oder reaktionärer „rechter“ Esoterikformen hervorbrachte. Einige davon lehnen die Fundamente des Liberalismus und der Demokratie schlichtweg ab. Auf die wichtigsten davon werde ich kurz eingehen, zuerst jedoch möchte ich meinen sechsten und letzten Punkt vorbringen. Auch dieser wird aufgrund seiner Bedeutung eingerückt:

Diese immer besser sichtbaren und populären Trends rechter Esoterik dürfen nicht als Kausalfaktoren herangezogen werden, die den Aufstieg des rechtsextremen Populismus in den letzten zwei Jahrzehnten erklären sollen. Sie sind vielmehr Symptome der allgemeinen Krise der liberalen Demokratie, in der wir uns gerade befinden.

Hier bedarf es einer kurzen Exkursion, um das meiner Analyse zugrunde liegende Argument zu erklären. Der Neoliberalismus, basierend auf den Theorien Friedrich Hayeks und seiner Mont Pélerin-Society, begann seinen Aufstieg in den 1980ern zur Zeit von Reagan und Thatcher und verbreitete sich als politisch-wirtschaftliche Ideologie nach dem Zerfall der Sowjetunion 1989 und der Zeit von Clinton und Blair weltweit. Damit einher ging eine grundlegende Veränderung der Bedeutung des Begriffs „Liberalismus“. Es ist mir nicht möglich, die Gründe hier ausführlich zu diskutieren, sie wurden jedoch von Spezialistinnen und Spezialisten im Detail untersucht und besagen, dass die Logik des Neoliberalismus tatsächlich inkompatibel mit Demokratie ist und Grundprinzipien wie Freiheit und Gleichheit untergräbt, um die es im Liberalismus eigentlich gehen sollte.

Gegenwärtig sehen wir eine flächendeckende populäre Revolte gegen die Tatsache, dass das globale Streben nach radikaler Neoliberalisierung ganz offensichtlich nicht zu Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und einer Blütezeit der Menschheit geführt hat, sondern zu den jeweiligen Gegenteilen Autoritarismus, unpersönlicher Technologie zur bürokratischen Überwachung und Kontrolle, ausgeprägter sozialer Ungerechtigkeit, extremer wirtschaftlicher Ungleichheit und einer immer tiefer werdenden Krise der Demokratie. Tragisch daran ist, dass sich die Anhängerschaft des Neoliberalismus stets die Verteidigung des „Liberalismus“ und der „Demokratie“ auf die Fahnen geschrieben, jedoch (wie Spezialistinnen und Spezialisten sowie Insider/-innen schon immer wussten) eigentlich das Gegenteil bewirkt hat. Da dieser feine, aber alles entscheidende Unterschied von der breiten Öffentlichkeit nicht bemerkt wurde, bekommt nun die „liberale Demokratie“ die Schuld an all jenen Gebrechen, die in Wahrheit vom Tauschkonstrukt verursacht wurden, das ihren Platz eingenommen hat: dem Neoliberalismus.

Eine gewisse Anzahl esoterischer Trends reagiert auf diese Situation oder hat von ihr profitiert, indem sie sich als Alternativen anbietet. Manche davon sind deutlich nach rechts oder extrem rechts gerückt. Ohne ins Detail zu gehen, würde ich diese als die Wichtigsten nennen:

  • Beginnen wir mit der Strömung des sogenannten Traditionalismus. Sie definiert sich durch ihre aggressive Ablehnung der „Moderne“ in all ihren Facetten, wodurch sie selbstverständlich auch der Demokratie und liberalen Werten selbst höchst kritisch gegenübersteht. Der Traditionalismus entspringt den Werken des französischen Esoterikers René Guénon (1886–1951) und hier sei angemerkt, dass viele seiner Sympathisantinnen und Sympathisanten sich deutlich mehr auf spirituelle als auf politische Fragen konzentrieren. Die zeitgenössische, anti-demokratische und rechtsextreme Ausprägung dieser Esoterikform fußt vor allem auf den Gedanken des italienischen Traditionalisten Julius Evola (1898–1974), der die Nähe zu Mussolini und Hitler suchte und seine rassistischen und antisemitischen Meinungen glasklar darstellte. Heute verbindet sich diese Art von Traditionalismus bei „spirituellen“ neurechten Verlagen wie Arktos Media oder den einflussreichen „weiß-nationalistischen“ Internetseiten und Netzwerken mit explizit rassistisch und antisemitischen Haltungen wie sie z. B. bei Greg Johnsons Counter-Currents anzutreffen sind. Wenig überraschend findet man in denselben Milieus eine Faszination für gewisse esoterische Trends wie die Ariosophie, die bekannte, rassistisch-antisemitische Mutation der Theosophie, oder mit Neonazi-Ikonen wie Savitri Devi (Maximiani Julia Portas, 1905–1982), die glaubte, Hitler sei ein göttlicher Avatar, und nicht zuletzt mit verschiedenen mehr oder weniger „heidnischen“ Formen der Esoterik, beliebt auch bei Alain de Benoists Nouvelle Droite oder dem russischen Philosophen Aleksandr Dugin, die beide eine große, internationale Anhängerschaft vorweisen können.

  • Das Neuheidentum (auch bekannt als Neopaganismus) ist der zweite Hauptbereich, in dem man – zumindest dieser Tage – auf reges Interesse an konservativ-traditionalistischen Gedanken mit rechter oder rechtsextremer Orientierung stoßen wird. Erwartungsgemäß sind hier interne Kontroversen innerhalb der heidnischen Gemeinschaft entstanden, da viele Heidinnen und Heiden liberal eingestellt sind, eher nach links neigen und sich stark für progressive Themen wie die Emanzipation der Frau und den Umweltschutz interessieren. Andere Ausformungen des gegenwärtigen Heidentums stellen aber nordische und germanische heidnische Gottheiten oder „maskuline“ Kriegerwerte in den Mittelpunkt, was leicht – wenngleich nicht zwingend – zu einer Hinwendung zu Blut-und-Boden-Ideologien führt. Darüber hinaus kann auch die Nietzscheanische Kritik der „weichen“, angeblich jüdisch-christlichen Werte der westlichen Gesellschaft, die verantwortlich gemacht werden für die Desakralisierung der Welt und ihre Verwandlung in eine geistlose neoliberale Konsumgesellschaft, weitere Blüten in Form rechter Ausprägungen des Neopaganismus treiben (obwohl dieses Argument auch aus linksheidnischer Perspektive kommen könnte, da das Heidentum dem Christentum von Natur aus kritisch gegenübersteht).

  • Die dritte und letzte Richtung ist völlig anderer Natur. Wer Umberto Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel (1988) gelesen hat, weiß, dass Verschwörungserzählungen ein wichtiger Teil der modernen und zeitgenössischen Esoterik sind; ihre umfassende Einbettung in moderne spirituelle Milieus hat einen neuen Begriff hervorgebracht: Konspiritualität. Historisch entwickelten sich konspirative Strömungen zuerst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in erzkonservativen, römisch-katholischen Kreisen, die glaubten, die Freimaurer und der deutsche Orden der Illuminaten seien Ausgeburten des Teufels und verantwortlich für die Französische Revolution. Im neunzehnten Jahrhundert entwickelten sie sich auf vielfältige Weise weiter und brachten zahlreiche, immens populäre Verschwörungsfantasien hervor, in denen Freimaurer, Okkultisten, Satanisten, Jesuiten und Juden die Hauptrollen spielten. Die beliebte Verschwörungserzählung über „Nazi-Okkultisten“ habe ich bereits erwähnt. Andere, ähnliche Narrative sind allerdings in Reinform implizit oder explizit antisemitisch, denn sie folgen dem Beispiel der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion und deuten an, dass die neoliberalen „Eliten“, die nach der Weltherrschaft trachten, von einer finsteren Verschwörung wohlhabender Juden (die Rothschilds, George Soros und dergleichen) dominiert werden. Es ist absolut beunruhigend zu beobachten, wie diese lang widerlegten Geschichten immer wieder zurückkommen, sich online verbreiten und in einem größeren Kontext einer „post-Wahrheit“-Kultur ohne Grenzen zwischen Fakt und Fiktion neue Erscheinungsformen annehmen.

Traditionalismus, rechtes Heidentum und Konspiritualität sind sicherlich bedeutende Phänomene, denen verständlicherweise viel Aufmerksamkeit in populären Medien gewidmet wird. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass sie letztendlich nur drei spezifische Dimensionen eines viel weiteren und immens komplexen Feldes sind – der zeitgenössischen Esoterik.

Abschließende Bemerkungen

Infolge von Phänomenen wie der Covid-Krise, der weit verbreiteten Impfgegnerbewegung, dem Sturm auf das Kapitol und nun dem Krieg in der Ukraine haben sich viele Berichterstatterinnen und Beobachter überrascht und schockiert darüber zeigt, wie ungemein beliebt Verschwörungserzählungen im Internet, in sozialen Medien und bei Demonstrierenden geworden sind. Wie geht man damit um, dass hippieartige spirituelle Bewegungen, die angeblich „Frieden und Liebe“ propagieren, nun ohne mit der Wimper zu zucken neben Neofaschistinnen, Traditionalisten, Neuheidinnen und anderen radikalen Aktivisten der rechtsextremen Szene stehen?

Ich habe dargelegt, dass diese Phänomene nicht von etwas „intrinsisch Esoterischem“ verursacht wurden. Anders gesagt sind es nicht „die esoterischen Ideen”, die die Leute nach rechts wandern und anti-„elitär“ denken lassen. Diese Phänomene sollten stattdessen als Symptome einer tiefen Krise der liberalen Demokratie interpretiert werden. Ich lege nahe, dass diese Krise ihren Ursprung im historischen Prozess der Neoliberalisierung (und der neoliberalen Globalisierung) hat, die in den 1980ern begann und seit der Finanzkrise 2009 völlig außer Kontrolle geraten ist. Springen wir noch einmal an den Anfang dieses Artikels: Man darf niemals vergessen, dass Esoterikforschung immer bedeutet, Menschen zu betrachten. Es ist völlig normal, dass der Durchschnittsbürger oder die Durchschnittsbürgerin sich heute mit Gefühlen wie tiefer Traurigkeit oder sogar Depressionen, Angst, Unsicherheit, Besorgnis oder moralischer Empörung über den aktuellen Zustand unserer Welt konfrontiert sieht.

Viele von uns fühlen sich hilflos, fürchten sich oder sind wütend darüber, wie machtlos wir im Angesicht der kontinuierlich zunehmenden Zahl an Krisen (ökologisch, politisch, sozial, wirtschaftlich, demokratisch, militärisch, medizinisch, mental-psychologisch etc.) sind, die unsere Gesellschaft zu zerreißen scheinen. In dieser Situation ist es nicht nur einfach, sondern auch völlig natürlich, wenn Menschen in den reichen historischen Vorräten esoterischer Überzeugungen, Konzepte, Symbole, Sprachen, Mythen oder Erzählungen auf die Suche nach Quellen der Hoffnung und Inspiration gehen. All dieses Material hat ja zumindest eines gemeinsam: die Tatsache, dass die westliche Mehrheitsmeinung und die intellektuelle Elite es ausgemustert und marginalisiert haben, woraufhin es in der Kiste des „verschmähten Wissens“ landete – und dadurch offensichtlich neue Anziehungskraft erhielt.

Mit anderen Worten: Wer sich so bitterlich enttäuscht, frustriert oder betrogen fühlt vom „System“, „den Massenmedien“ oder „den Eliten“, die offenbar schuld am heillosen Chaos in der Welt sind und daher durch und durch korrupt erscheinen, wird selbstverständlich aufhören, die „offiziellen Versionen“, die „diese Eliten“ einem verkaufen wollen, oder ihre Auffassung von „wahr“ und „falsch“ zu glauben! Man vertraut auf nichts mehr, was sie sagen. Die Suche nach Antworten, nach irgendeiner Art von Wissen, irgendeinem größeren Zusammenhang, irgendeiner Erklärung, was gerade passiert und warum, geht jedoch weiter. Damit gibt es noch mehr Gründe, sich einmal ganz genau anzusehen, was „die“ verschmäht und stets so tüchtig versucht haben, als lächerlich oder gefährlich oder falsch zu diskreditieren. Kurzum wird man dazu geneigt sein, abzulehnen, was sie akzeptieren (möglicherweise sogar, weil sie es akzeptieren), und anzunehmen, was sie ablehnen (möglicherweise sogar, weil sie es ablehnen).

Diese Logik ist sehr einfach zu verstehen. Sie erklärt die besondere Anziehung von Esoterik als „verschmähtem Wissen“ für eine Gesellschaft in der Krise. Ich glaube, wir haben gute Gründe, uns große Sorgen über die Zukunft der liberalen Demokratie, ihrer grundlegenden Werte und ihrer institutionellen Eckpfeiler zu machen. Sie sind bereits geschwächt und stehen weiter unter Beschuss – leider scheint mir ihr Überleben in den nächsten Jahrzehnten alles andere als gesichert. Um dieser enormen Herausforderung wirksam entgegenzutreten, sollten wir uns nicht blindlings von den Symptomen ablenken lassen, sondern müssen feststellen, wo die Ursachen der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen liegen. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, woran unsere Patientin wirklich krankt und sie zu heilen. Denn die Symptome werden auf anderem Wege nicht verschwinden.

Aus dem Englischen übersetzt von Julia Dolderer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Geschichte des Wortes „Esoterik“ vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Historische Esoterikforschung, oder: Der lange Weg der Esoterik zur Moderne, in: Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth und Markus Meumann (Hrsg.), Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, De Gruyter: Berlin/Boston 2013, S. 37–72.

  2. Zur Beschreibung dieser Traditionen, Praktiken, Ideen, Bewegungen und Organisationen vgl. Wouter J. Hanegraaff (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Antoine Faivre, Roelof van den Broek und Jean-Pierre Brach: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, Brill: Leiden/Boston 2005. Für einen kurzen Überblick vgl. Wouter J. Hanegraaff: Western Esotericism: A Guide for the Perplexed, Bloomsbury: London/New York 2013, S. 18–44.

  3. Verlagsbeschreibung der Zeitschrift Aries: Journal for the Study of Western Esotericism (Brill: Leiden/Boston 2001 ff.), URL: https://brill.com/view/journals/arie/arie-overview.xml, aufgerufen am 20.01.2023. Für den technischen Terminus occulture (hier übersetzet als Okkultur) siehe z. B. Christopher Partridge, „Occulture is Ordinary,“ in: Egil Asprem & Kennet Granholm (Hrsg.), Contemporary Esotericism, Equinox: Sheffield / Bristol 2013, 113-133.

  4. Imaginäre Ausgestaltungen [imaginal formations] wie Esoterik (oder andere wie „Religion“, „die Wirtschaft“, und so weiter) können eine ungemein wichtige Rolle spielen, denn sie werden in unserer kollektiven Vorstellung vergegenständlicht. Eine Diskussion dessen findet sich in Hanegraaff: Reconstructing ‚Religion‘ from the Bottom Up, in: Numen 63:5/6 (2016), S. 578–581. https://www.academia.edu/28891053/Reconstructing_Religion_from_the_Bottom_Up_2016_

  5. Wouter J. Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture: Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Brill: Leiden/Boston 1996, und State University of New York Press: Albany 1998.

  6. Correspondences (offen zugänglich: https://correspondencesjournal.com, 2013 ff.).

  7. Aries Book Series: Texts and Studies in Western Esotericism, hrsg. von Marco Pasi (https://brill.com/view/serial/ARBS); Oxford Studies in Western Esotericism, hrsg. von Henrik Bogdan (https://global.oup.com/academic/content/series/o/oxford-studies-in-western-esotericism-oswe/?cc=nl&lang=en&).

  8. Siehe https://www.esswe.org. ESSWE richtet seit 2007 alle zwei Jahre Konferenzen in ganz Europa aus: Tübingen 2007, Straßburg 2009, Szeged 2011, Gothenburg 2013, Riga 2015, Erfurt 2017, Amsterdam 2019, Cork 2022 (regulär 2021 und verschoben aufgrund der Corona-Pandemie). Die nächste Konferenz findet 2023 in Malmö statt. Die vielen Netzwerke des ESSWE finden sich unter https://www.esswe.org/Networks.

  9. Vgl. www.amsterdamhermetica.nl. Zu Ursprüngen und Geschichte dieses einzigartigen Studiengangs vgl. die Jubiläumsausgabe Wouter J. Hanegraaff & Joyce Pijnenburg (Hrsg.), Hermes in the Academy: Ten Years’ Study of Western Esotericism at the University of Amsterdam, Amsterdam University Press 2009 (kostenloser Download https://www.amsterdamhermetica.nl/wp-content/uploads/2013/05/Hermes-in-the-Academy.pdf). Eine zweite Jubiläumsausgabe wurde 10 Jahre später veröffentlicht: Wouter J. Hanegraaff, Peter J. Forshaw & Marco Pasi (Hrsg.), Hermes Explains: Thirty Questions about Western Esotericism, Amsterdam University Press 2019.

  10. Auf Englisch: Rejected Knowledge

  11. Tatsache ist, dass die arabische Philosophie des sogenannten „Goldenen Zeitalters“ des Islams den philosophischen Traditionen, die einst auf Griechisch geschrieben wurden, eine Menge schuldet. Vgl. etwa Peter Adamson und Richard C. Taylor (Hrsg.): The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge University Press 2005.

  12. Eine Schlüsselrolle hatte hier der Florentiner Humanist und Philosoph Marsilio Ficino (1433–1499) inne, der für die Geschichte der Esoterik und der allgemeinen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit von besonderer Bedeutung war. Ficino übersetzte die kompletten Werke Platons (und anderer Platonisten) ins Lateinische, sodass sie nun auch durch den vor Kurzem erfundenen Buchdruck einer großen Zahl von Intellektuellen zugänglich wurde.

  13. Jonathan Kirschs God against the Gods: The History of the War between Monotheism and Polytheism, Viking Compass: New York 2004, S. 213–267, ist eine sehr lesenswerter Darstellung.

  14. Wouter J. Hanegraaff: Esotericism and the Academy: Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge University Press 2012. Einen kürzeren Überblick über die Geschichte der polemischen Ablehnung bietet Hanegraaff: Western Esotericism (wie Anm. 2), S. 45–68.

  15. Der zeitgenössische wissenschaftliche Diskurs streitet über fast alle generischen Termini und erkennt in ihnen häufig eine Form ethnozentrischer Voreingenommenheit oder ideologischen Vorurteils – „heidnisch-hellenistisch“ nicht ausgenommen. Mit meiner Verwendung des Terminus Heidentum als vollkommen neutral und nicht abwertend schließe ich mich Alan Camerons Argumentation in The Last Pagans of Rome, Oxford University Press 2011, S. 14–32, an. Hellenismus verwende ich ebenfalls als rein deskriptive Kategorie und lehne die „philhellenische“ Voreingenommenheit (vgl. Hanegraaff: Hermetic Spirituality and the Historical Imagination: Altered States of Knowledge in Late Antiquity, Cambridge University Press 2022, S. 16–19 u. 360–362) explizit ab.

  16. Auch die Terminologie rund um die „abrahamischen Religionen“ ist Streitgegenstand, vgl. zum Beispiel Adam J. Silverstein & Guy G. Stroumsa (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Abrahamic Religions, Oxford University Press 2015.

  17. Vgl. etwa Richard W. Bulliet: The Case of Islamo-Christian Civilization, Columbia University Press: New York 2004; Hanegraaff: Hermetic Spirituality (wie Anm. 15), S. 360–363.

  18. Vgl. Jan Assmann: Moses the Egyptian: The Memory of Egypt in Western Monotheism, Harvard University Press: Cambridge Mass./London 1997; ders.: Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, Carl Hanser Verlag: München/Wien 2003; Moshe Halbertal und Avishai Margolit: Idolatry, Harvard University Press: Cambridge Mass./London 1992.

  19. Das Konzept der „jüdisch-christlichen“ Tradition soll den Islam sowohl aus dem Monotheismus als auch aus der europäischen Kultur ausschließen. Es steht außerdem in Einklang mit dem christlich-hegemonialen Motiv, das dem Judentum eine untergeordnete Rolle zuweist, in der es dem Aufstieg des Christentums bloß „vorangeht“ und diesen „vorbereitet“.

  20. Für eine detaillierte Analyse empfiehlt sich Hanegraaff: Reconstructing ‚Religion‘ from the Bottom Up“ (wie Anm. 4).

  21. Eine klassische Studie zum Thema ist Norman Cohns Europe’s Inner Demons, Sussex University Press 1975, deren Titel genau mein Argument hier widerspiegelt. Die „Dämonisierung“ dieser Traditionen ist in Hanegraaff: Esotericism and the Academy (wie Anm. 14), S. 77–152, nachzulesen.

  22. Vgl. Hanegraaff: Esotericism and the Academy (wie Anm. 14), S. 1–4.

  23. Diese Grundidee hat ihre Wurzeln in der Annahme der kulturellen Evolution. Diese wurde im neunzehnten Jahrhundert extrem populär und suggerierte, dass Zivilisationen sich von primitiver „Magie“ über das etwas anspruchsvollere Phänomen der „Religion“ (mit dem liberalen Protestantismus als ranghöchster Ausdrucksform) hin zur noch überlegeneren Ebene der „Wissenschaft und Vernunft“ entwickeln. Klassische Formulierungen finden sich zum Beispiel in einem Werk des Begründers der kulturellen Anthropologie, Edward Burnett Tylor, und seinem berühmten Nachfolger James Frazer. Die Folgerungen aus der evolutionistischen Theorie waren durch und durch rassistisch (die Geschichte der Menschen wurde als eine Fortschrittsbewegung von unterlegener „primitiver Magie“ Schwarzer Völker in Afrika hin zur überlegenen Religion und Wissenschaft der Weißen Europas und Amerikas dargestellt) und explizit genozidal. Das wird beispielsweise in den Werken sehr einflussreicher „Sozialdarwinisten“ wie Herbert Spencer deutlich, der Sätze wie diesen zustande brachte: „Der Imperialismus diente der Zivilisation, indem er unterlegene Rassen von der Erde tilgte. … Die Kräfte, die nach dem Plan des perfekten Glücks arbeiten und daraus entstehendes Leid außer Acht lassen, beseitigen jene Teile der Menschheit, die ihnen im Weg stehen … Egal ob Mensch oder Wilder – das Hindernis ist beiseite zu schaffen“ (Spencer: Social Statistics: or, The Conditions Essential to Human Happiness specified, and the First of Them Developed, John Chapman: London 1850, S. 416; vgl. Wouter J. Hanegraaff: “Exterminate all the Idols” http://wouterjhanegraaff.blogspot.com/2014/03/exterminate-all-idols.html).

  24. Dies ist ein Kernargument meiner Erörterung in Wouter J. Hanegraaff: The Globalization of Esotericism, in: Correspondences 3 (2015), S. 55–91 (https://correspondencesjournal.com/14303-2/); eine noch kritischere Auseinandersetzung mit dem „spirituellen Imperialismus“ veröffentlichte ich bereits zu einer Zeit, in der die „Globalisierung“ noch weitgehend als positiv oder nutzbringend angesehen wurde: Wouter J. Hanegraaff: Prospects for the Globalization of New Age: Spiritual Imperialism versus Cultural Diversity, in: Mikael Rothstein (Hrsg.), New Age Religion and Globalization, Aarhus University Press 2001, S. 15–30 (https://www.academia.edu/3461630/Prospects_for_the_Globalization_of_New_Age_Spiritual_Imperialism_versus_Cultural_Diversity_2001_). Der 2015 erschienene Artikel löste eine abstruse Fehlinterpretation meiner Werke und der darin enthaltenen Gedanken aus, die dazu führte, dass einige Autorinnen und Autoren dachten, ich würde ebenjene imperialistischen und kolonialistischen Ideologien der westlichen Überlegenheit unterstützen und legitimieren, wo ich sie doch eigentlich sehr explizit kritisiere und ablehne (vgl. vor allem die Einleitung und den Beitrag von Julian Stube in Egil Asprem und Julian Strube [Hrsg.]: New Approaches to the Study of Esotericism, Brill: Leiden/Boston 2021). Meine wahre Haltung findet sich im Hauptargument in Esotericism and the Academy (wie Anm. 14); und in der neueren Kurzdiskussion in Hermetic Spirituality, S. 360–363.

  25. Theodor W. Adorno, Thesen gegen den Okkultismus VI (in: Minima Moralia: Reflexionen aus den beschädigten Leben (1951), Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2003). Eine kritische Analyse bietet Andreas Kilcher: Is Occultism a Product of Capitalism?, in: Wouter J. Hanegraaff, Peter J. Forshaw und Marco Pasi (Hrsg.), Hermes Explains: Thirty Questions about Western Esotericism, Amsterdam University Press 2019, S. 168–176).

  26. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1944), Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt a. M. 1988, S. 9–49.

  27. Jason Ānanda Josephson Storm: The Myth of Disenchantment: Magic, Modernity, and the Birth of the Human Sciences, The University of Chicago Press: Chicago/London 2017, S. 10; vgl. außerdem meine kritische Diskussion in Hanegraaff: Esotericism and the Academy (wie Anm. 14), S. 312–314, 302–303 (Anm. 160).

  28. Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft: Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Aufbau-Verlag: Berlin/Weimar 1988.

  29. Eine exzellente Kritik dieser Gedankengänge findet sich bei Elaine Fisher: Fascist Scholars, Fascist Scholarship: The Quest for Ur-Fascism and the Study of Religion, in: Christian K. Wedemeyer und Wendy Doniger (Hrsg.), Hermeneutics, Politics, and the History of Religions: The Contested Legacies of Joachim Wach and Mircea Eliade, Oxford University Press 2010, S. 261–284.

  30. 2009 habe ich diese beliebte Form eines Fehlschlusses in einer nicht veröffentlichten Vorlesung diskutiert, die online abrufbar ist: Politics and the Study of Western Esotericism (https://www.academia.edu/30576084/Politics_and_the_Study_of_Western_Esotericism_2009_unpublished_). Die Vorlesung spiegelte meine große Sorge vor einem Erstarken des Rechtspopulismus nach dem 11. September 2001 wider. Diese Entwicklung hat sich ganz offensichtlich im letzten Jahrzehnt fortgesetzt und ist nun an einem Punkt, an dem rechtsextreme Lesarten zu einer echten und gegenwärtigen Gefahr für das Überleben der liberalen Demokratie geworden sind, weshalb meine Überlegungen ihre Relevanz behalten haben.

  31. Die „moderne Mythologie des Nazi-Okkultismus“ wird im Anhang zu Nicholas Goodrick-Clarkes Werk The Occult Roots of Nazism: Secret Aryan Cults and their Influence on Nazi Ideology, I.B. Tauris: London/New York 1985, S. 217–225, beschrieben. Leider beeinflusst diese Mythologie sogar das Schaffen von Akademikern, die es besser wissen sollten, deren Bücher aber hohe Absatzzahlen erzielen, weil sie die sensationsheischenden Stereotypen pflegen. Vgl. etwa Eric Kurlander: Hitler’s Monsters: A Supernatural History of the Third Reich, Yale University Press: New Haven/London 2017; eine kritische Diskussion findet sich bei Julian Strube (Correspondences 5 [2017], S. 130–139, https://correspondencesjournal.com/volume-5/) und Eva Kingsepp: Scholarship as Simulacrum: The Case of Hitler’s Monsters, in: Aries 19 (2019), S. 265–281 (https://brill.com/view/journals/arie/19/2/article-p265_5.xml).

  32. Louis Pauwels und Jacques Bergier: Le matin des magiciens, Gallimard: Paris 1960.

  33. Ein besonders deutliches Beispiel ist Hartmut Zinser: Esoterik: Eine Einführung, Wilhelm Fink: München 2009; vgl. die kritische Besprechung in Wouter J. Hanegraaff: Textbooks and Introductions to Western Esotericism, in: Religion 43:2 (2013), S. 193–195 (https://www.academia.edu/3883451/Textbooks_and_Introductions_to_Western_Esotericism_2013_).

  34. Julian Strube: Sozialismus, Katholizismus und Okkultismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts: Die Genealogie der Schriften von Eliphas Lévi, De Gruyter: Berlin/Boston 2016; ders.: Socialist Religion and the Emergence of Occultism: A Genealogical Approach to Socialism and Secularisation in 19th-century France, in: Religion 46:3 (2016), S. 359–388.

  35. Vgl. etwa Marco Pasi: The Modernity of Occultism: Reflections on Some Crucial Aspects, in: Hanegraaff und Pijnenburg, Hermes in the Academy (wie Anm. 9), S. 59–74 (kostenloser Download unter https://www.amsterdamhermetica.nl/wp-content/uploads/2013/05/Hermes-in-the-Academy.pdf); Anne Braude: Radical Spirits: Spiritualism and Women’s Rights in Nineteenth-Century America, Beacon Press: Boston 1989; Joy Dixon: Divine Feminine: Theosophy and Feminism in England, Johns Hopkins University Press: Baltimore/London 2001; Martin Green: Mountain of Truth: The Counterculture Begins. Ascona, 1900–1920, Tufts University & University Press of New England: Hanover/London 1986; Alex Owen: The Place of Enchantment: British Occultism and the Culture of the Modern, The University of Chicago Press: Chicago/London 2004; Corinna Treitel: A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern, Johns Hopkins University Press: Baltimore/London 2004; Manon Hedenborg White: The Eloquent Blood: The Goddess Babalon & the Construction of Femininities in Western Esotericism, Oxford University Press 2020.

  36. Version von 1888 (vgl. Josephine Ransom, A Short History of the Theosophical Society, 1875-1937, Theosophical Publishing House: Adyar, Madras 1938, 545-553, hier 549). Vor allem in Deutschland wird H.P. Blavatskys Theorie der „Wurzelrassen“ oft mit der rassistischen/anti-semitischen Ariosophie von Lanz von Liebenfels vermischt oder verwechselt. In der Konsequenz galt Blavatskys Theosophie häufig als konservative oder reaktionäre „rechte“ Bewegung (was völlig außer Acht ließ, dass Rassentheorien, mitnichten eine Spezialität der Esoterik, im späteren 19. Jahrhundert eigentlich allgegenwärtig waren; vgl. Fußnote 21 oben für den Fall Herbert Spencer). Jan Stottmeister schreibt eine herausragende Diskussion und korrigiert diese Fehler in seinem deutschsprachigen Werk, Der George-Kreis und die Theosophie, mit einem Exkurs zum Swastik-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George, Wallstein Verlag: Göttingen 2014 (vgl. S. 344–371 zu Blavatskys Rassentheoretischem Antirassismus).

  37. Tim Rudbøg und Erik Reenberg Sand (Hrsg.): Imagining the East: The Early Theosophical Society, Oxford University Press 2020; Hans Martin Krämer und Julian Strube (Hrsg.): Theosophy Across Boundaries: Transcultural and Interdisciplinary Perspectives on a Modern Esoteric Movement, State University of New York Press: Albany 2020.

  38. Der Klassiker in der Forschung zu diesem wichtigen Phänomen ist Joscelyn Godwin: The Theosophical Enlightenment, State University of New York Press: Albany 1992.

  39. Egil Asprem: The Problem of Disenchantment: Scientific Naturalism and Esoteric Discourse, 1900–1939, Brill: Leiden/Boston 2014 und State University of New York Press: Albany 2018.

  40. Der Literaturbestand zum Neoliberalismus als historisches Phänomen wächst rasant. Mein Verständnis seines Wesens und seiner Entwicklung beruhen vor allem auf David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford University Press 2005; Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe: Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton University Press: Princeton/Oxford 2012; Quinn Slobodian: Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Harvard University Press: Cambridge Mass./London 2018; Noreena Hertz: The Silent Takeover: Global Capitalism and the Death of Democracy, Arrow: London 2001; Wendy Brown: Undoing the Demos: Neoliberalism’s Stealth Revolution, Zone Books: New York 2015; Manfred B. Steger und Ravi K. Roy: Neoliberalism: A Very Short Introduction, Oxford University Press 2010; Shoshana Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, Faber & Faber: London 2019; Bram Mellink und Merijn Oudenampsen: Neoliberalisme: Een Nederlandse geschiedenis, Boom: Amsterdam 2022.

  41. Die eigentliche Tradition des Liberalismus im Kontrast zum Neoliberalismus wird in Larry Siedentop: Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism, Penguin 2014, großartig beschrieben. Die Unverträglichkeit von „wahrem“ Liberalismus und Neoliberalismus benötigte selbstredend eine längere Diskussion. Das Argument, das neoliberale Projekt habe die Absicht, „den Kapitalismus gegen die demokratische Bedrohung zu impfen“, findet sich in Slobodian: Globalists, S. 2 und passim; oder bei Brown: Undoing (wie Anm. 40), S. 17–45. Harvey diskutiert, was mit dem Konzept „Freiheit“ passiert ist (Brief History (wie Anm. 40), S. 5–38), und zeigt, dass der Neoliberalismus immer das Ziel hatte, „die Macht wirtschaftlicher Eliten wiederherzustellen“ (ebd., S. 19), Freiheit nicht für Individuen, sondern für „Privateigentümer, multinationale Konzerne und das Finanzkapital“ (ebd. S. 7 u. 21) zu sichern und dass er aktiv wirtschaftliche Ungleichheit begünstigt (ebd., S. 16–17 u. 26).

  42. George Monbiot schreibt in einem exzellenten Kurzüberblick: „Welch größere Macht gibt es als namenlos zu agieren? Der Neoliberalismus ist so allgegenwärtig, dass wir ihn nur selten als Ideologie identifizieren“ (vgl. Monbiot: Neoliberalism – The Ideology at the Root of All Our Problems, https://www.theguardian.com/books/2016/apr/15/neoliberalism-ideology-problem-george-monbiot).

  43. Eine fundierte und verlässliche allgemeine Einführung findet sich bei Mark Sedgwick: Against the Modern World: Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century, Oxford University Press 2004. Einen weiter gefassten historischen Überblick bietet Wouter J. Hanegraaff: Tradition, in: Hanegraaff, Dictionary, (Anm. 2), S. 1125–1135.

  44. Den besten historischen Überblick über Evolas Mitwirkung im Faschismus und Nationalsozialismus bietet T. H. Hansen (Hans Thomas Hakl): Julius Evolas politisches Wirken, in: Julius Evola, Menschen inmitten von Ruinen, Hohenrain-Verlag: Tübingen/Zürich/Paris 1991 (die genauen Gründe für das Erscheinen der deutschen Übersetzung bei einem rechten Verlag beschreibt Francesco Baroni: The Philosophical Gold of Perennialism: Hans Thomas Hakl, Julius Evola and the Italian Esoteric Milieus, in: Religiographies 1:2, im Erscheinen 2022 https://www.cini.it/pubblicazioni/religiographies). Evolas aggressiver Antisemitismus ist am detailreichsten auf Italienisch dokumentiert: Dana Lloyd Thomas: Julius Evola e la tentazione razzista: L’inganno del pangermanesimo in Italia, Giordano: Mesagne (Brindisi) 2006. Eine weitere wichtige Figur aus demselben Milieu beschreibt Christian Giudice: Occult Imperium: Arturo Reghini, Roman Traditionalism, and the Anti-Modern Reaction in Fascist Italy, Oxford University Press 2022.

  45. Vgl. Graham Macklin: Greg Johnson and Counter-Currents, in: Mark Sedgwick (Hrsg.), Key Thinkers of the Radical Right: Behind the New Threat to Liberal Democracy, Oxford University Press 2019, S. 204–223; Benjamin Teitelbaum: Daniel Friberg and Metapolitics in Action, in: ebd., S. 259–275 (enthält auch eine Diskussion zu Arktos).

  46. Nicholas Goodrick-Clarkes Studie zu Ariosophie (Occult Roots of National Socialism; s. Anm. 31) ist zwar verdientermaßen ein Klassiker, sein Werk zu Savitri Devi (Hitler’s Priestess: Savitri Devi, the Hindu-Aryan Myth, and Neo Nazism, New York University Press: New York/London 1998) sollte jedoch leider mit großer Vorsicht gelesen werden. Es reproduziert Savitri Devis eigene Autobiografie unkritisch und lässt generell kritische Distanz und historisch-politische Kontextualisierung vermissen, die es für ein solches Thema so offensichtlich braucht.

  47. Vgl. Jean-Yves Camus: Alain de Benoist and the New Right, in: Sedgwick, Key Thinkers (wie Anm. 45), S. 73–90; Stéphane François: Guillaume Faye and Archeofuturism, in: ebd., S. 91–101; Marlène Laruelle: Alexander Dugin and Eurasianism, in: ebd., S. 155–169.

  48. Vgl. etwa Christopher McIntosh: Beyond the North Wind: The Fall and Rise of the Mystic North, Weiser Books: Newburyport 2019.

  49. Vgl. etwa Mattias Gardell: Gods of the Blood: The Pagan Revival and White Separatism, Duke University Press: Durham/London 2003.

  50. Charlotte Ward und David Voas: The Emergence of Conspirituality, in: Journal of Contemporary Religion 26:1 (2011), S. 103–121.

  51. Vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein: Der Mythos von der Verschwörung: Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Marix Verlag: Wiesbaden 2008.

  52. Für alle, die gern französisch lesen und die ein dickes Buch nicht schreckt, empfehle ich die beeindruckende Analyse zu Frankreich von Emmanuel Kreis: Quis ut Deus? Antijudéo-maçonnisme et occultisme en France sous la IIIe République, Les Belles Lettres: Paris 2017.

  53. Vgl. Norman Cohns mustergültige Studie: Warrant for Genocide: The Myth of the Jewish World Conspiracy and the Protocols of the Elders of Zion, Serif: London 2005.

  54. Lee McIntyre: Post-Truth, The MIT Press: Cambridge Mass./London 2018.

  55. Pionierarbeit in diesem Bereich leisteten Egil Asprem und Kennet Granholm (Hrsg.): Contemporary Esotericism, Equinox: Sheffield/Bristol 2013. Asprem überarbeitet derzeit sein Dictionary of Contemporary Esotericism, Brill: Leiden, im Erscheinen (Informationen zu Vordrucken unter https://contern.org/cresarch/cresarch-repository/dictionary-of-contemporary-esotericism-cresarch/).

  56. Einen guten Einstieg für den deutschen Kontext bietet Matthias Pöhlmann: Rechte Esoterik: Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen, Herder: Freiburg/Basel/Wien 2021. Dieses Buch empfiehlt sich aufgrund seiner reichhaltigen, sachlichen Informationen zu den unterschiedlichen Dimensionen der populären Esoterikszene. Es muss jedoch leider angemerkt werden, dass der Autor wenig bis gar nicht mit moderner oder englischsprachiger Forschung zum Thema vertraut ist und so in seinen Interpretationen den gängigen Mustern der Frankfurter Schule folgt. In der Konsequenz (und konträr zu meiner Folgerung in diesem Artikel) wird rechte Esoterik als (ein) potenziell gefährlicher Treiber für anti-demokratische Haltungen anstatt als Symptom einer gesellschaftlichen Krise dargestellt.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Wouter J. Hanegraaff lehrt Geschichte hermetischer Philosophie an der Universität Amsterdam. Er studierte in Utrecht Kulturgeschichte und verteidigte 1995 seine Dissertation über die New-Age-Bewegung. Das Verhältnis zwischen esoterischen Traditionen sowie Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen wie z. B. der Herausbildung freiheitlicher Demokratien in westlichen Gesellschaften bildet den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit seit den 1990er Jahren.